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Kein Land so ungleich wie Deutschland?

Marcel Fratzschers Buch bietet nur eine verkürzte Argumentation

Marcel Fratzscher: Verteilungskampf. Warum Deutschland immer ungleicher wird, Hanser Verlag, München 2016, 264 Seiten, 19,90 Euro.

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Zurzeit tobt in den Feuilletons die Debatte um die Verteilung von Einkommen und Vermögen in der deutschen Gesellschaft. Befeuert wird dies durch den Handlungsbedarf bei der Erbschaftssteuer, der Neuregelung der privaten Vorsorge oder der ins Auge gefassten Abschaffung der Abgeltungssteuer, um nur einige der politischen Baustellen zu nennen. Auch durch internationale Einflüsse wird die Diskussion angeheizt: Obwohl Thomas Pikettys Kapital im 21. Jahrhundert massiv fehlerbehaftet ist, dient die Analyse des Pariser Ökonomen vor allem der linken Seite des politischen Spektrums als wissenschaftlicher Beleg für eine angeblich gesetzmäßig zunehmende Ungleichheit. Zugrunde liegen all dem die Meldungen über exorbitante Managergehälter, absinkende Mittelschichteinkommen und demografisch verdüsterte Rentenprognosen, die in den westlichen Gesellschaften ein tiefes Unbehagen angesichts der eigenen Zukunftsaussichten hinterlassen haben.

In diesen Diskurs will Marcel Fratzscher, der gegenwärtige Präsident des Berliner Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), eingreifen. Fratzscher konstatiert einen – wenn er denn so tatsächlich zutreffen würde – bedrohlichen Dreiklang: „In kaum einem Industrieland der Welt sind vor allem Chancen, aber auch zunehmend Vermögen und Einkommen ungleicher verteilt als in Deutschland“ (S. 9). Der eigentliche Titel des Buches – „Verteilungskampf“ – wird kaum thematisiert, 239 Textseiten handeln von Ungleichheit. Das Buch ist mit vielen Vorschusslorbeeren aufgenommen worden, Sigmar Gabriel und die SPD fühlen sich bestätigt. Grund genug, zu fragen, wie wissenschaftlich solide Fratzschers Argumentation ist.

 

Renten und Pensionsleistungen zu wenig berücksichtigt

Der Versuch, die Debatten mit konkreten Daten zu unterfüttern und politische Handlungsalternativen an wirtschaftliche Prognosen zurückzukoppeln, ist durchaus zu begrüßen. Hier liegt zweifellos die Stärke des Buches: Fratzscher leistet eine umfangreiche Kompilation bisheriger Forschungsergebnisse, liefert eine Menge interessanter Grafiken und hat viele wesentliche Vermögensstudien der letzten Jahre berücksichtigt. Dass sich der Autor stark auf Studien des DIW stützt, verwundert nicht. Dagegen wäre prinzipiell nichts einzuwenden – natürlich kann man die Forschungskompetenz der eigenen Institution nutzen, und selbstverständlich ist bei einem solch komplexen Thema wie der Vermögensverteilung ein Forscher auf die Berücksichtigung fremder Forschungsergebnisse angewiesen. Dass dabei die gegenläufigen Ergebnisse anderer Forschungsinstitute weitgehend ausgespart bleiben, mindert den Wert von Fratzschers Schlussfolgerungen aber erheblich.

Anhand der Debatte um die Bewertung von Privatvermögen wird das deutlich. Dafür ein konkretes Beispiel: Ein fiktiver ehemaliger Beamter mit einer zu versteuernden Pension von 2.000 Euro im Monat verfügt über keinerlei weiteres Vermögen. Ein ehemaliger Selbstständiger, der 2.000 Euro Bruttomieteinnahmen im Monat erzielen will, müsste zurzeit fast eine Million Euro in Immobilien anlegen, um auf dieselben monatlichen Einnahmen zu kommen. Statistisch ist er dann aber Vermögensmillionär, während der fiktive Pensionär als Habenichts erscheint – obwohl beide über dasselbe Einkommen verfügen. Natürlich kann der Pensionsanspruch nicht in derselben Höhe bilanziert werden wie das Immobilienvermögen, denn Letzteres lässt sich beispielsweise vererben; deutlich wird aber, dass die Pension einen beträchtlichen Wert darstellt. Die beklagte Vermögenslosigkeit der Deutschen beruht zu einem Gutteil auf der ungenügenden statistischen Berücksichtigung des Gegenwerts der Renten- und Pensionsleistungen in Deutschland, der umso höher anzusetzen ist, je weniger eine entsprechende Rendite am Kapitalmarkt zu erzielen ist. Fratzscher versucht, die methodisch sehr komplexe Anrechnung der Renten- und Pensionsleistungen in ihrer Bedeutung herunterzuspielen (etwa S. 216 f.), da sie seine Schlussfolgerungen partiell entwertet. Die von Fratzscher konstatierte ungleiche Vermögensverteilung und (im Vergleich zu anderen europäischen Gesellschaften) geringen deutschen Durchschnittsvermögen relativieren sich eben teilweise, wenn man die Renten- und Pensionsansprüche mitbilanziert. Hier rächt sich die wissenschaftliche Einäugigkeit, mit der Fratzscher etwa die KAS-Vermögensstudie von Christian Arndt (Das Vermögen der mittleren Einkommensschicht in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts, hier S. 38–39) ignoriert, die dieses Problem diskutiert. Die These von der Ungleichheit der Vermögen stimmt deshalb nur teilweise.

 

Extrem ungleiche Einkommen?

Ähnlich problematisch ist Fratzschers Argumentation bezüglich der Ungleichheit der Einkommen. Hier ist unbestritten, dass die Markteinkommen in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Gesellschaften überdurchschnittlich breit gefächert sind. Sieht man sich allerdings die Einkommen nach der Umverteilung durch den Staat an, berücksichtigt man die Abzüge durch Steuern und Sozialleistungen und rechnet die Transferleistungen hinzu, dann ist die Ungleichheit in Deutschland nicht größer als in vergleichbaren Gesellschaften. Zu Recht hat das Institut für Wirtschaftsforschung (ifo) kürzlich in einer Studie für die Stiftung Familienunternehmen auf diese Diskrepanz hingewiesen (Felbermayr, Battisti, Lehwald: Entwicklung der Einkommensungleichheit), die Fratzschers Argumentation zu den Gefahren einer steigenden Einkommensungleichheit weitgehend entkräftet.

 

Fehlende Textbelege

Ohne beckmesserisch sein zu wollen, ist anzumerken, dass der Band sprachlich schludrig redigiert wurde. Der weitgehende Verzicht auf Nachweise in Anmerkungen mindert den Wert der Argumentation durchgehend. Gerade die populistischen Verkürzungen (etwa: „Nirgendwo schaffen weniger Kinder den sozialen Aufstieg“, S. 36) werden nicht belegt und sind wissenschaftlich zumindest umstritten: Die kürzlich im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung vom Institut der deutschen Wirtschaft erstellte Studie Bildungsgerechtigkeit in Deutschland kommt zu einem anderen Ergebnis; gerade in den letzten Jahren haben Kinder aus bildungsfernen Schichten deutlich aufgeholt. Der Zusammenhang zwischen Einkommens- und Vermögensungleichheit und Wirtschaftswachstum ist bisher wissenschaftlich nicht eindeutig geklärt. Linear ist er aber in keinem Falle.

Ärgerlich wird es, wenn die Wirtschaftsgeschichte fälschlich für Argumente herangezogen wird. Bei der Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion im Juli 1990 in der DDR wurde etwa mitnichten „der größte Teil des Ersparten der Ost-Bürger […] eins zu eins umgetauscht“ (S. 144), sondern der Umtauschkurs eins zu eins war je nach Altersgruppe auf 2.000 bis 6.000 DDR-Mark pro Person beschränkt. Die Währungsunion bedeutete also für DDR-Bürger mit höherem Geldvermögen einen Währungsschnitt mit deutlichen Vermögensverlusten – was eigentlich Fratzschers Argumentation stützt, dass es historisch bedingt große Vermögensunterschiede zwischen Ost und West gibt. Da wird „eine hohe Vermögenssteuer auf Immobilieneigentum“ (S. 147) in der Nachkriegszeit entdeckt, die verhindert habe, dass die deutsche Mittelschicht hätte Vermögen aufbauen können. Da Nachweise fehlen und der Steuersatz der Vermögenssteuer in den 1950er-Jahren bei 0,75 Prozent des zu versteuernden Vermögens lag und somit kaum gemeint sein kann, lässt sich nur vermuten, dass Fratzscher damit das bundesdeutsche Lastenausgleichsgesetz von 1952 angesprochen haben könnte. Allerdings wurde der Lastenausgleich nur auf zum Stichtag der Währungsreform 1948 bestehende Vermögen erhoben, die Neubildung von Vermögen verhinderte der Ausgleich also nicht. Eine Geschichte der Privatvermögen in Deutschland ist ein dringendes Forschungsdesiderat; vermutlich würde aber im Gegenteil gerade für die Adenaue-rÄra eine breitgefächerte Vermögensbildung festzustellen sein, tatsächlich „Wohlstand für alle“ (Ludwig Erhard).

 

Pauschale Behauptungen zur Vermögenskonstanz

Ähnlich pauschal – und unbelegt – ist Fratzschers Behauptung: „Nirgendwo verbleibt Reichtum so oft über Generationen hinweg in denselben Familien“ wie in Deutschland (S. 36). Da Fratzschers Literaturverzeichnis leider keinen Hinweis darauf liefert, worauf diese Behauptung beruht, sei auf eine Studie der Banca d’Italia verwiesen. Anhand des Vergleichs des Florentiner Steuerkatasters von 1427 mit dem Stand 2011 kann die Studie nachweisen, dass es in Florenz erstaunlich wenig Mobilität innerhalb wirtschaftlich starker Familien gab (Temi di Discussione Nr. 1060, April 2016). Tatsächlich gibt es – freilich von Fratzscher nicht zitierte – Studien zu mehreren europäischen Staaten, die eine lange Vermögenskonstanz in reichen Familien belegen (etwa Clark und Cummins zu England im Economic Journal 2014). Gerade für Deutschland aber sind ähnliche Entwicklungen bisher wohl nur in Einzelfällen belegt und auch nicht überregional repräsentativ. Im Gegenteil, wenn der Vermögensverlust „idealtypischer“ deutscher Adelsfamilien durch die Zäsuren der Inflation 1923 beziehungsweise den Wegfall der Ostgebiete und die Bodenreform in der SBZ 1945 ein Indikator ist, so ist gerade für Deutschland eine solche Vermögenskonstanz in größerer Breite eher unwahrscheinlich. Zu erwarten ist lediglich ein über Generationen andauernder Vermögenserhalt in einer einzigen soziologisch fassbaren Gruppe, nämlich bei deutschen Familienunternehmen.

Was ist der Ertrag von Fratzschers Studie? In der Zusammenschau ist der Eindruck durchwachsen. Fratzschers Darstellung stellt viel Material bereit, ist allerdings stellenweise schlecht recherchiert und leidet unter der schlagwortartigen Verkürzung komplexer Zusammenhänge, besonders da der wissenschaftliche Apparat fehlt. Positiv anzumerken ist der Verzicht auf linkslastige Umverteilungsszenarien als Allheilmittel. Zuzustimmen ist dem Autor, wenn er eine Steigerung der Bildungsausgaben in Deutschland als nachhaltigste Maßnahme zur Förderung von Chancengleichheit und Wirtschaftswachstum fordert. Typisch für den eher „uninformierten“ Diskussionsstand in Deutschland ist freilich auch, dass eine aktive politische Förderung von Vermögensbildung, so wie sie zum ursprünglichen Programm der Sozialen Marktwirtschaft gehörte, bei ihm keine Rolle spielt.

Die von Fratzscher diagnostizierte Ungleichheit bei Vermögen, Einkommen und Chancen in Deutschland ist durchaus vorhanden, aber bei genauerem Hinsehen wird diese Ungleichheit beim Einkommen durch Steuern und Transferleistungen deutlich korrigiert, bei der Größe der Privatvermögen ist sie aufgrund der unberücksichtigten Pensions- und Renteneinkünfte und bei den Bildungschancen – das zeigt die erwähnte Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung – stark im Schwinden begriffen.

Das soll nicht heißen, dass in Deutschland zurzeit eine societas perfecta existieren würde, bei der es nicht durchaus noch breiten Raum zur Verbesserung gäbe. Sicherlich ist eine genaue Beobachtung der Indikatoren für eine weitere Aufspreizung von Lohn und Gehalt ebenso notwendig wie die verstärkte Förderung von Kindern aus bildungsfernen Schichten beziehungsweise aus Migrantenfamilien. Mit guten Gründen ließe sich auch eine steuerliche Korrektur bei nicht mehr gerechtfertigten Spitzengehältern im Management fordern. Gerade weil die Problemlagen aber äußerst komplex sind, hat Fratzscher mit seiner verkürzenden Argumentation seiner Sache nicht gedient.


Wolfgang Tischner, geboren 1967 in Berlin, Abteilungsleiter Publikationen/Bibliothek, Wissenschaftliche Dienste /Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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