Der Fall der Berliner Mauer und der Untergang der Sowjetunion veränderten die Sicht auf die Welt. Der Westen war Gewinner des Kalten Krieges. Seine Art, zu leben, zu wirtschaften, sich selbst zu regieren, schien von unwiderstehlicher Anziehungskraft, seine normativen Ideen schienen wahrhaft universell und auf einem globalen Siegeszug. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama sprach vor diesem Hintergrund vom Ende der Geschichte, weil der große, der systematische Herausforderer des Westens fehlte.
Im Sommer 1993 setzte Samuel Huntington dazu einen Kontrapunkt. Seine zuerst in der Zeitschrift Foreign Affairs gestellte Frage, ob der „Clash of Civilizations“, der Zusammenprall, ein Kampf der Kulturen drohe, passte scheinbar gar nicht in die neue, in die „Eine Welt“ („The Clash of Civilizations?“, in: Foreign Affairs, Sommer 1993, www.foreignaffairs.com/articles/united-states/1993-06-01/clash-civilizations 23.10.2017). Im Blick auf den wieder stärker politisierten Islam, wie er seit der Iranischen Revolution und der salafistischen Wende auftrat, schienen schon Fragestellung und Wortwahl als unnötige, beinah gefährliche Provokation. Wollte sich hier, in den USA, ein Sieger, dem es ohne echten Gegner unwohl wurde, einen Feind konstruieren, damit die eigene Identität gewahrt bliebe? Solche Unterstellungen haben vermutlich die größere Ausarbeitung Huntingtons aus dem Jahr 1996 gar nicht recht zur Kenntnis genommen (Samuel Huntington: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996). Denn dort wird in kritischer Weise hinterfragt, was alle für offenbar hielten, nämlich der unausweichliche Erfolg einer auf universellen Werten gegründeten globalen westlichen Zivilisation.
Huntingtons Kulturkreistheorie arbeitet – wenngleich nicht konsistent – mit der alten Unterscheidung von universeller Zivilisation und partikularer Kultur. Das Zivilisationspathos wurde wirkmächtig unter dem Einfluss französischer und englischer Ideengeber seit dem 18. Jahrhundert. Die europäische Zivilisation mit ihrem nordamerikanischen Ableger sah sich damals – im Zeitalter des Kolonialismus – durch den Auftrag der Aufklärung ermächtigt, die gesamte Menschheit vom Dunkel der Vorurteile und von unhinterfragten Traditionen in das Licht eines mündigen, selbstverantworteten und selbstgestalteten Lebens zu führen – mit Vernunft, Markt, Technik, Wissenschaft und Demokratie. Wer dagegen gerade in Deutschland von Kultur sprach, wie noch Thomas Mann in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen, wollte offenbar etwas Partikulares, womöglich anthropologisch Vorgegebenes, religiös oder alltagsweltlich Geprägtes entgegensetzen.
Coca-Cola trinkende Bombenbastler
Fünf Jahre vor den Terroranschlägen vom 11. September 2001 zeigte Huntington ein subtiles, seltenes Verständnis für die Dialektik der Globalisierung. Irgendwo im Nahen Osten – so Huntington – könne es sehr wohl ein paar junge Männer in Jeans geben, die Coca-Cola trinken und Rap hören, aber zwischen Verbeugungen in Richtung Mekka eine Bombe basteln, um ein amerikanisches Flugzeug in die Luft zu jagen. Damit wollte Huntington vor der naiven Annahme warnen, der westliche Konsum- und Lebensstil würde unwiderstehlich alles imprägnieren, alles nivellieren. Der „American Way of Life“ könne letztlich jeden religiösen Fanatismus, jeden Nationalismus, jede irrationale Gemeinschaftsidee einfach vom Lebensalltag wegspülen. Eine der damit zusammenhängenden, optimistischen Erwartungen nach 1990 war die Demokratisierung der Welt. Sie hatte zwar im Frühjahr 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens im bevölkerungsreichsten Land der Welt einen Dämpfer erhalten, aber niemand glaubte, dass dies auf Dauer in Asien und anderswo die Sehnsucht nach Demokratie und ihre Durchsetzung verhindern werde.
Huntington hatte bei China in der Prognose geschwankt, aber sich bereits lange vor dem Arabischen Frühling im Hinblick auf kulturelle Bedingungen und den Erfolg islamisch-politischer Bewegungen pessimistisch gezeigt. Liberale und demokratische Regierungen brächten nicht die Kraft auf, den islamistischen Tendenzen wirksam zu begegnen. Diese Einschätzung hat sich im Großen und Ganzen leider als zutreffend erwiesen: Das Schicksal Ägyptens und auch die Entwicklung der Türkei stehen für die für Huntington scheinbar unausweichliche Tendenz, zwischen säkularer Diktatur und islamistischem Regieren wählen zu müssen. Im religiösen Horizont der ummah (der muslimischen Gemeinschaft) sei der Staat, auch der Nationalstaat, als zivilisatorische Bedingung von vornherein relativiert und als mitunter künstlich empfundenes koloniales Erbe prekär. Für das Verständnis des politischen Islam ist zudem für Huntington das Streben von bestimmten Kernstaaten charakteristisch, im Sinne der ummah politische und religiöse Führung zu bieten.
Vorhersage über die Türkei
Dies ist in der Tat ein Schlüssel, um die Rivalität nicht nur zwischen dem Iran und Saudi-Arabien zu verstehen, sondern auch den Neo-Osmanismus eines Recep Tayyip Erdoğan. Im Jahr 1996 – Jahre, bevor Erdoğan Ministerpräsident wurde – stellte Samuel Huntington die Frage: „Wie aber, wenn die Türkei sich neu definierte? An einem bestimmten Punkt könnte die Türkei es leid sein, die frustrierende und demütigende Rolle des Bittstellers zu spielen, der um Aufnahme in den Westen bettelt, und sich auf eine viel eindrucksvollere und herausragende historische Rolle als wichtigster islamischer Gesprächspartner und Antagonist des Westens zu besinnen. Der Fundamentalismus ist in der Türkei auf dem Vormarsch …“.
In Asien will das wirtschaftlich sehr erfolgreiche China heute Modell sein gegen einen „überalterten“ Westen. Unter der europäisch-institutionellen Oberfläche der indischen Demokratie wirkt ein kulturidentitärer Hinduismus. Vor über zwanzig Jahren diagnostiziert Huntington, China sei auf dem Weg, die dominierende Macht in Ostasien zu werden. Bedrohlich sei, „dass China zunehmend energisch seinen Anspruch auf das Südchinesische Meer geltend macht“. Weil er asiatischen Akteuren nicht einfach mit Universalitätsfiktionen westliche Erklärungsmuster überstülpt, erkennt er konfuzianische Grundhaltungen, vor allem aber auch die hierarchische Orientierung, die geopolitisch anders ausfalle als europäische Gleichgewichtspolitik. Huntington prophezeit für Asien den Niedergang des Einflusses der USA: „Die Ära, die mit dem Eindringen von Westlern um 1840 begann, geht zu Ende. China nimmt wieder seinen Platz als regionaler Hegemon ein, und der Osten findet zu sich selbst.“
Russland und die NATO
Man ist manchmal irritiert, wie umstandslos Huntington politische Aussagen aus religiösen oder kulturellen Strukturen ableitet, und bringt in diesem Punkt durchaus Verständnis für seine Kritiker auf. Das ändert aber nichts an der verblüffenden Treffgenauigkeit vieler Voraussagen. So schreibt er in seinem Buch Kampf der Kulturen: „Russland akzeptiert die Erweiterung der Europäischen Union und der NATO um die westlich-christlichen Staaten Mittel- und Osteuropas, und der Westen verpflichtet sich, die NATO nicht darüber hinaus zu erweitern, es sei denn, die Ukraine zerbricht in zwei Länder.“ Dieses Zerbrechen der Ukraine in zwei Länder hat Putin fast zwei Jahrzehnte später mit der Annexion der Krim und der Erzeugung des ostukrainischen Separatismus aktiv befördert und scheint sich in seiner russischen Identitätspolitik durchaus an einer solchen religiös-kulturellen Linienziehung zu orientieren. Eine westliche, eine europäische Politik, die den Huntington von 1996 gelesen und ernst genommen hätte, wäre vermutlich etwas umsichtiger zu Werke gegangen.
Wenn man Huntington gelesen hätte
Der 2008 verstorbene Huntington wäre mit einiger Sicherheit kein Anhänger Donald Trumps geworden. Aber die bei der Präsidentschaftswahl unterlegenen amerikanischen Liberalen und die Demokratische Partei hätten vermutlich die gefährliche politische Spaltung des Landes mindern können, wenn sie Huntingtons, noch 2006 in der deutschen Zeitschrift Cicero formulierte Warnung vor den Risiken unkontrollierter Einwanderung beherzigt hätten (Samuel Huntington: „Mein Land ist gespalten“, in: Cicero, 30. August 2006, www.cicero.de/weltb%C3%BChne/%3Fmein-land-ist-gespalten-%3F/22405 23.10.2017). Nach seiner Beobachtung verstärkten sich Wanderungsbewegungen weniger durch zunehmende Armut, sondern gerade durch wirtschaftliches Wachstum und die dadurch bewirkte soziale Mobilisierung, etwa in Herkunftsländern wie Mexiko mit den USA als Ziel oder in einigen afrikanischen Staaten mit Konsequenzen für Europa – ein Befund, der ein weiteres Mal sperrig wirkt im Vergleich zu den üblichen Annahmen zur Fluchtursachenbekämpfung. Sperrig ist auch seine geopolitische Gewaltanalyse. Aber wird Huntingtons Beobachtung des Übergangs zu „Fault Line Wars“ (Bruchlinienkriegen) durch den Zerfall Syriens und des Iraks nicht doch auch bestätigt? Und kann man die dortige Einflussnahme rivalisierender Regionalmächte nicht besser verstehen, wenn man sie nicht nur ökonomisch, sondern auch in ihrer kulturellen Signatur betrachtet?
Nein. Samuel Huntington ist kein kulturpessimistisch wabernder englischsprachiger Oswald Spengler, kein vorurteilsbehafteter schlimmer Konservativer mit eingeschränktem Blickfeld. Mit solch kruden Befunden will man sich die Tatsache vom Leib halten, dass unsere vorherrschende westliche Weltwahrnehmung vielleicht doch unterkomplex ist, ihrerseits nur eine stark eingeschränkte, sozialtechnisch verengte Konstruktion. Rechtssystem, Marktwirtschaft, Bildung oder demokratischer und sozialer Rechtsstaat: All das sind entscheidende Bedingungen für das Gelingen einer offenen Gesellschaft, ganz ohne Frage. Aber es gibt eben noch mehr, und dieses „Mehr“ kann alle Institutionen der aufgeklärten Vernunft zerstören, wenn es nicht ernster genommen wird als bisher. Zur Wirklichkeit gehören auch jene subkutan höchst wirksamen anthropologischen, sprachlichen, religiösen und kulturellen Prägekräfte, die Huntington in seiner geopolitischen Perspektive manchmal allzu holzschnittartig markiert. Huntington hat nicht überall mit seinen Prognosen voll getroffen, das wäre auch sonderbar, und auch er pflegt wie jeder Mensch seine kleinen Vorurteile. Aber er ist unter den geopolitischen Analysten der letzten Jahrzehnte einer der Großen. Huntington verdient es, auch nach zwei Jahrzehnten wieder neu gelesen zu werden.
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Udo Di Fabio, geboren 1954 in Walsum, Professor für Öffentliches Recht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn, von 1999 bis 2011 Richter am Bundesverfassungsgericht.