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Die innenpolitische Lage in Russland aus der Sicht eines Oppositionellen

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Der nahe den Kremlmauern ermordete Boris Nemzow bemerkte in einem seiner letzten Interviews bitter, in Russland gebe es keine Opposition mehr, geblieben seien nur Dissidenten. Was hatte er damit gemeint?

Seit 2003/04 etwa – nach der Verhaftung Michail Chodorkowskis und der Abschaffung der inzwischen (nun mit „Präsidentenfilter“) wieder eingesetzten Gouverneurswahlen – wurde Russland zu einem autoritären Staat, in dem politische Konkurrenz ausgeschlossen ist, und zwar sowohl gesetzlich als auch in der politischen Praxis. Die Opposition hat in Russland weder einen offenen Zugang zu Wahlen noch gleiche Möglichkeiten der Wahlbeteiligung; zudem sind die Wahlergebnisse gegen Massenfälschungen nicht geschützt. Seit Ende 1999 ist Putin auf der politischen Bühne aktiv und hat seit über fünfzehn Jahren Erfahrung darin, uneingeschränkte Macht in seinen Händen zu halten. Bereits in drei Jahren wird er die Regierungsphase Leonid Breschnews überboten haben, der in der UdSSR volle achtzehn Jahre lang herrschte.

 

Strategien des Machterhaltes

Um uneingeschränkt an der Macht bleiben zu können, bedient sich die herrschende Elite Russlands heute einer Strategie, mit der sich Wladimir Putin während seiner Dienstzeit beim sowjetischen Geheimdienst KGB zu DDR-Zeiten in Dresden vertraut gemacht hatte. In erster Linie bedient sich der Kreml zu diesem Zweck der Massenpropaganda im Fernsehen und der Repressalien gegen die Opposition und deren Diffamierung durch Polizei und Geheimdienste. Darüber hinaus kommt es bei Wahlen regelmäßig zu staatlich angeordneter Bevormundung von Rentnern, Beamten, Mitarbeitern der Polizei und des Militärs, Beschäftigten des staatlichen Wirtschaftssektors sowie anderen vom Staat abhängigen Bevölkerungsgruppen. Sie werden gedrängt, für Kandidaten der Staatsmacht zu stimmen.

Darüber hinaus hat die regierende Partei „Einiges Russland“ ein für sich selbst komfortables „Mehrparteiensystem“ geschaffen mit einer unechten „Opposition“, für die privilegierte Konditionen der Teilnahme an Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gelten.

Hauptforderung an eine solche „Opposition“, die in Russland üblicherweise „System-Opposition“ genannt wird, ist Loyalität gegenüber dem Präsidenten und Verzicht auf Versuche der Ablösung der Macht vom Staatsruder. Die „System-Opposition“ ist verpflichtet, alle grundsätzlichen Entscheidungen des Kremls (so etwa die Eroberung der Krim, das Embargo für westliche Nahrungsmittel, Finanzierung des Wettrüstens zum Nachteil ziviler Sektoren) zu unterstützen. Ebenso ist sie aufgefordert, über weithin bekannte Fakten von Korruption in Putins Freundeskreis Stillschweigen zu wahren. Kritik ihrerseits soll nur zweit- und drittrangige Fragen berühren, die keine Grundfesten des Systems antasten, wie den fehlenden Wechsel an der Spitze des Staates und die Bereicherung derjenigen, die sich auf dem Gipfel der Machtpyramide befinden.

Diese Loyalität, das Schweigen und die indirekte Unterstützung bringen der „System-Opposition“ durchaus greifbare Vorteile. Für das alles werden die Parlamentsparteien (Gennadij Sjuganows KPRF, Wladimir Schirinowskis LDPR und das „Gerechte Russland“ von Sergej Mironow) in jeder Weise durch den Kreml gefördert – dieser ist bestrebt, ihnen den Anschein echter, „ernsthafter“ Opposition zu verleihen. Sie werden, bis auf wenige Ausnahmen, fast zu allen Wahlen zugelassen. Wenn sie jedoch den vom Kreml geförderten Kandidaten reale Konkurrenz machen, werden sie gnadenlos von der Teilnahme an Wahlen ausgeschlossen. Diese Parteien beziehen beachtliche Mittel aus dem Staatshaushalt, und ihre Mitglieder sind gern gesehene Gäste in TV-Studios. Ihre politische Haltung lässt sich nur schwer von der des „Einigen Russland“ unterscheiden – sie sind alle für Putin und somit für die „Macht-Vertikale“, für den Anschluss der Krim und gegen den Westen und Amerika, für Staatskapitalismus und Monopolismus. Letzten Endes sind sie alle gegen Liberale und liberale Werte und seit Langem zu einer grauen „pro-putinschen“ Masse zusammengeschmolzen.

Die aktuellen Ratings der Parteien (Bereitschaft, für diese zu stimmen, falls die Wahlen jeweils am kommenden Sonntag stattfinden würden, Umfrage des Lewada-Zentrums, Februar 2015) veranschaulichen diese etablierte Vierparteien-Oligopolie: „Einiges Russland“ erhielt 63,7 Prozent, die KPRF 16,5 Prozent, die LDPR 7,9 Prozent und das „Gerechte Russland“ 0,9 Prozent der Stimmen. In der Summe sind es 89 Prozent. So ist der Kreml in Besitz einer festen Verfassungsmehrheit, was ihn in die Lage versetzt, die Staatsduma vollständig zu kontrollieren. Ohne Zweifel wird der Kreml bei den bevorstehenden Duma-Wahlen im kommenden Jahr 2016 bestrebt sein, diesen für ihn äußerst günstigen Status quo aufrechtzuerhalten, und seinen alten, bewährten „oppositionellen“ Partnern Beistand gewähren.

 

Nicht-System-Opposition

Der zweite Teil der russischen Opposition wird in der Regel als „Nicht-System-Opposition“ bezeichnet. Dazu gehören Alexej Nawalny und seine Fortschrittspartei, die es bislang nicht geschafft hat, eine staatliche Registrierung und das Recht auf Wahlbeteiligung zu erwirken, und die Partei RPR-Parnas, deren Co-Vorsitzender Boris Nemzow war und an deren Spitze jetzt der ehemalige Premierminister Michail Kassjanow steht. Auch Dmitrij Gudkow, Duma-Abgeordneter und ehemaliges Mitglied des „Gerechten Russlands“, und sein Vater, Gennadij Gudkow, sind Kräfte der Nicht-System-Opposition. Die „Partei des 5. Dezember“ von Sergej Davidis, der die Behörden gleichfalls die Registrierung verweigern, zählt ebenso dazu wie die Partei „Demokratische Wahl“ von Wladimir Milow. Hinzu kommen die Partei „Bürgerinitiative“ von Andrej Netschajew, wie auch eine ganze Reihe von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und oppositionellen Gruppen.

Sie alle sind aus der Sicht des Kreml systemfremde Kräfte, da sie das entstandene autoritäre System „souveräner“, das heißt vollständig durch den Kreml gesteuerter Demokratie ablehnen und bestrebt sind, diese durch ein anderes – ein demokratisches – System zu ersetzen. Sie alle fordern politische Reformen, faire Wahlen, Einschränkung der Machtbefugnisse des Präsidenten und seiner Amtszeit, regelmäßigen Machtwechsel, ein starkes Parlament und parlamentarische Kontrolle, unabhängige Gerichte, Rede- und Schaffensfreiheit. Von Wladimir Putin verlangen sie, allen politischen Kräften den Zugang zu den Parlamentswahlen 2016 und den Präsidentschaftswahlen 2018 zu gewährleisten und bei diesen Wahlen gleiche Bedingungen für alle zu schaffen. Zu den Forderungen zählt zudem, politische Repressalien gegen Systemkritiker einzustellen und alle politischen Häftlinge aus Gefängnissen und Lagern freizulassen und die Versammlungs- und Verbandsfreiheit zu garantieren. Nicht minder wichtig ist, dass die sogenannte „Nicht-System-Opposition“ mutig die maßlose Korruption in den obersten Etagen der Staatsmacht, darunter auch im Kreis der nächsten Freunde und Weggefährten Wladimir Putins selbst, entlarvt. Boris Nemzow hat durch Vorbereitung und Veröffentlichung seiner berühmten Berichte am meisten zur Bloßstellung der Korruption auf höchster Ebene beigetragen.

Gerade die „Nicht-System-Opposition“ tritt in Russland als systemrelevante und tatsächliche Opposition auf. Sie gilt als „systemrelevant“, weil nur sie für ein demokratisches politisches System kämpft, das in der russischen Verfassung festgeschrieben ist, während der Kreml tagtäglich gegen Verfassungsgrundsätze verstößt. Sie gilt als tatsächliche Opposition, weil sie Themen behandelt, die in der Tat die wesentlichen Probleme des Landes betreffen – wie Korruption, Monopolisierung der Wirtschaft, Wahlfälschungen, fehlender Schutz des Privateigentums, Behördenwillkür, willfährige Gerichte, Einschränkung der Freiheiten, Verfall der Bildung und der sozialen Leistungen. Einzig die „Nicht-System-Opposition“ wandte sich gegen Putins Entscheidung, die Krim einzuverleiben und den Separatisten im Osten der Ukraine militärischen Beistand zu gewähren.

 

Dissidenten, nicht Oppositionelle

Sollte man jedoch den Umfragen Glauben schenken, so gibt es in der Bevölkerung kaum Unterstützung für die „Nicht-System-Opposition“. Laut der bereits erwähnten Umfrage des Lewada-Zentrums ist die Partei von Alexej Nawalny unter allen „Nicht-System-Parteien“ mit 2,3 Prozent die populärste, aber sie ist nicht registriert und kann somit nicht an Wahlen teilnehmen. Die RPR-Parnas erhält keinerlei Zuspruch und steht bei null Prozent. Die individuellen Ratings der Oppositionsführer sind mit 0 bis 1,6 Prozent ebenfalls alles andere als hoch (Alexej Nawalny ist einer der populärsten Führer).

Genau darauf bezog sich Boris Nemzow, als er von Dissidenten und nicht von Opposition sprach. Ebenso wie einst in der Sowjetunion sind im heutigen Russland viele Menschen dem autoritären System gegenüber negativ eingestellt, doch sie haben, ebenso wie damals, zumindest vorerst noch keine Möglichkeit, politische Massenorganisationen zu schaffen und die politische Unterstützung der Massen zu erhalten. Der Staat hat ein mehrstufiges System von Blockaden aufgebaut, um dies zu verhindern. Die Opposition kann kein Geld für Wahlen einsammeln, denn die Sponsoren werden durch die Behörden bestraft. Ebenso wenig kann sie sich öffentlich vor Verleumdungen schützen, weil ihr Sendezeiten in Rundfunk und Fernsehen verwehrt werden. Zudem ist der Opposition die Teilnahme an Wahlen verwehrt, da weder ihre Parteien noch ihre Kandidaten für Wahlen registriert werden. Falls es dennoch einmal gelingen sollte, sich als Kandidat registrieren zu lassen und viele Wählerstimmen zu erhalten, wird das Wahlergebnis gefälscht. Die Menschen trauen sich nicht, in oppositionelle Organisationen einzutreten, denn es kann die Karriere oder den Arbeitsplatz kosten.

Die Agenda des Landes wird vorerst noch ausschließlich vom Staat definiert – betragen doch die Ressourcen der Behörden in Sachen Finanzen, Medien, Administration und Recht ein Vielfaches der Ressourcen der Opposition. Die Bevölkerung folgt im Wesentlichen jenem Weltbild und jener Interpretation der Ereignisse, die durch den Staat vorgegeben werden – und bekommt keine Chance, andere Sichtweisen wahrzunehmen. Die kolossale ungleiche Verteilung der zur Verfügung stehenden Ressourcen gilt als wesentliche Voraussetzung und Instrument für die Aufrechterhaltung des politischen Monopols in allen autoritären Regimen, und Russland bildet da keine Ausnahme.

Doch wie die russische Geschichte belegt, bricht ein solches System dann zusammen, wenn es alle seine Ressourcen erschöpft hat und nicht mehr in der Lage ist, wenigstens ein niedriges Niveau der Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung zu gewährleisten und die Infrastruktur der Städte aufrechtzuerhalten, wenn die Wirtschaft Bankrott geht. Diesen Weg hat Russland nun mit Putin bereits zum dritten Mal in den vergangenen hundert Jahren eingeschlagen.

 

Chancen für demokratische Neuerungen?

Die Aufgabe der „Nicht-System-Opposition“, also der wirklichen Opposition, ist es heute, ihre Aktivitäten enger zu koordinieren und dabei ein politisches Ergebnis anzustreben. Dazu ist es erforderlich, friedliche Massenprotestaktionen gemeinsam zu planen und vorzubereiten sowie landesweite Aufklärungskampagnen durchzuführen, die die tief greifende Korruption und Ineffizienz des herrschenden Regimes offenlegt. Dazu gehört es auch, eigene Kandidaten für Wahlen aller Ebenen zu nominieren und deren Registrierung zu erwirken sowie Konkurrenz untereinander zu vermeiden. Weitere Maßnahmen könnten sein, ein System der Wahlkontrolle zu schaffen, das Fälschungen ermitteln und unterbinden soll, sowie ein gemeinsames und für Millionen russische Staatsbürger attraktives Umwandlungsprogramm für Staat und Wirtschaft publik zu machen.

Klar ist, dass es unter den aktuellen Bedingungen in Russland, die von Kritikerverfolgungen bis hin zu eingeschränkter Pressefreiheit und beschränktem Zugang zu Ressourcen reichen, nicht viel leichter sein wird, dies zu erwirken, als zu Sowjetzeiten. Damals verfassten sowjetische Dissidenten ihre Schriften illegal auf Schreibmaschinen und landeten dafür in Lagern und Psychiatrien – wie etwa die Oppositionspolitikerin Valeria Nowodworskaja. Einen anderen Weg aber gibt es nicht.

Nach der Ermordung von Boris Nemzow organisierte die Opposition am 1. März einen Trauermarsch im Zentrum von Moskau und wandte sich mit einer gemeinsamen Proklamation an Präsident Putin, in der die öffentliche Kontrolle des Verlaufs der polizeilichen Untersuchungen gefordert wird. Unter den Beteiligten einigte man sich bei einem informellen Treffen auf eine engere Koordinierung aller Vorhaben, darunter auch die Organisation von Protestaktionen und die Kontrolle von Wahlen. Es kommt darauf an, diesen Impuls zum Zusammenschluss zu bewahren, denn das erhöht Russlands Chancen für friedliche, demokratische, verfassungskonforme Veränderungen.


Wladimir Ryschkow, geboren 1966 in Rubzowsk, Region Altai (Russland), Vorsitzender der politisch-gesellschaftlichen Bewegung „Wahl Russlands“, Politiker und ehemaliger Duma-Abgeordneter (1993–2007).

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