Kapital ist scheu wie ein Reh, sagen die Börsianer. Es flüchtet, wenn es verängstigt wird. Besonders fürchtet das Kapital den Staat, Steuererhöhungen mag es gar nicht. Wenn heute die Finanzmärkte mit Kapitalflucht drohen, dann bekommen Regierungen schnell weiche Knie. Auf dem Höhepunkt der Eurokrise 2012 zog sich das Kapital massiv aus Italien und Spanien zurück. Der Euro wankte und konnte nur gerettet werden, weil der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, ankündigte, er werde notfalls unbegrenzt Staatsanleihen kaufen („Whatever it takes“). Der Machtkampf mit dem Finanzkapital war gewonnen, zumindest diese Runde.
Hatten die Investoren nicht lange sehr gut an diesen Eurokrisenländern verdient? Kennen sie keine Loyalität, keine Dankbarkeit, keine Gnade? Sie scheinen nur an kurzfristigem Profit interessiert, den sie über alles stellen und für den sie sogar die Europäische Währungsunion über die Wupper gehen ließen, weil Verluste drohten.
Aber verhalten sich die Bürger heute anders? „Der Kunde kennt kein Vaterland, warum soll dann ein Unternehmen patriotisch sein?“, konterte einmal ein deutscher Konzernchef. Die Kunden kaufen lieber den billigeren Kia aus Südkorea, auch wenn das Opel Werk in Bochum in der Folge schließen muss.
Im Zeitalter der Globalisierung sieht es so aus, als ob wir alle die Mentalität von Shareholder-Value-Kapitalisten angenommen hätten. Wir kennen keine Grenzen und Loyalitäten mehr, nur der unmittelbare Vorteil zählt. Allerdings haben die Banker, Großkonzerne und Milliardäre in diesem Spiel am Ende eben doch die besseren Karten als die einfachen Kunden. Stimmen die Renditebedingungen an einem Ort nicht mehr, dann ziehen die Investoren weiter, dorthin, wo die Arbeitnehmer brav und fleißig und die Produktionsbedingungen günstig sind.
Nationaler Geist gegen multikulturellen Städtebund
Doch der Eindruck täuscht. Das Kapital kennt kein Vaterland? Zumindest am Beginn des Kapitalismus war das Gegenteil der Fall. Von Anfang an waren Nation und Kapitalismus aufs Engste miteinander verbunden. Es gibt sogar ein Geburtsdatum, das Jahr 1564, in dem sich die Kaufmannsvereinigung der Merchants Adventurers of England in London gründete. Ihr Gegner war die Hanse, der damals führende Verbund nordeuropäischer Städte, die sich untereinander Handelsprivilegien einräumten. Nationale Herkunft spielte in diesem multikulturellen Städtebund keine Rolle, wie es bis dahin auch jedem Bankier offenstand, sein Geld in ganz Europa zu verleihen. Die Merchants Adventurers dagegen akzeptierten nur native-born Englishmen als ihre Mitglieder und insistierten darauf, dass sie englische Frauen ehelichten.
Edward VI. entzog der Hanse die Privilegien und bevorzugte die Merchants Adventurers. Elisabeth I. warf die Hanse endgültig hinaus und verpflichtete die Kaufleute zur Treue gegenüber England. Erstmals wurden Wirtschaft und Vaterland zu einem politischen Programm verbunden. Der Stratege dahinter war Thomas Gresham, er rief auch die Londoner Börse ins Leben. Nach ihm ist das Gresham’sche Gesetz benannt, wonach das gute Geld stets durch das schlechte verdrängt wird. Und: Er begründete die nationale Währungspolitik.
Für diesen Sieg nationaler Prinzipien über die Wirtschaft akzeptierte die englische Krone sogar erhebliche Verluste, denn der Abbruch der Handelsbeziehungen mit der Hanse tat weh. John Wheeler, der erste moderne Nationalökonom, verteidigte in seinem Treatise of Commerce (1601) die hohen Preise: Die britischen Kaufleute repräsentieren England in der Welt, argumentierte er, und wenn auch einzelne Gruppen unter einer nationalen Handelspolitik litten, so profitieren doch alle davon, wenn diese Politik insgesamt England stärke. Wheeler war der Vordenker einer engen Verschränkung von staatlichen und kommerziellen Interessen. Exemplarisch dafür wurde die English East India Company. Sie zog den Überseehandel hoch und agierte als Aktiengesellschaft reicher Kaufleute praktisch wie ein Staat mit eigener Gerichtsbarkeit und dem Recht, Krieg zu führen. Kapital und Staat arbeiteten Hand in Hand. Das englische Kapital kannte sein Vaterland, und das Vaterland setzte die Interessen des Kapitals mit Militärgewalt durch.
Für Adam Smith war schließlich die Nation bereits der wichtigste Bezugsrahmen, was schon im Titel seines berühmten Werks The Wealth of Nations deutlich wird. Darin beschäftigt ihn, wie Nationen wohlhabend werden, nicht, wie Einzelne oder nur die Kaufleute zu Wohlstand kommen. Smith traut dabei der staatlichen Lenkung weniger zu als dem Freihandel.
Friedrich List schärft deutsches Wirtschaftsprofil
Der deutsche Ökonom Friedrich List warf Smith später vor, er kenne nur Individuen, keine Nationen. Damit hatte er recht und unrecht zugleich. Unrecht, da es Smith gar nicht in den Sinn kam, dass die meisten Völker seiner Zeit nicht in Nationalstaaten lebten. Als er sein Buch 1776 veröffentlichte, ist lediglich England eine Nation, Frankreich und die USA sind erst auf dem Weg dazu. In Italien, Deutschland oder Russland hält man die Nation noch für eine „monströse politische Idee“. In Deutschland ändert sich das erst mit den Napoleonischen Kriegen. Recht hat List aber insofern, als Smith die Nation als Einheit von freien, gleichen und rational handelnden Individuen sieht, die nach Wohlstand und Glück streben. Darin unterscheidet sie sich von feudalen Gesellschaften, die hierarchisch, ständisch und segmentiert waren. Für Smith war die Nation eine offene Gesellschaft, in der jeder aufsteigen konnte, wer tüchtig war. Das machte diese Idee so attraktiv.
England galt damals als die fortschrittlichste Nation. Diesen Vorsprung wollte List für Deutschland einholen. Einerseits empfahl er geschickten Technologieimport. Andererseits sollten neue Branchen so lange durch Erziehungszölle geschützt werden, bis sie wettbewerbsfähig waren. Das war erfolgreich. Deutschland wurde ein Industriestaat, der im Maschinen- und Automobilbau bis heute führend ist und aktuell über 1.500 mittelständische Weltmarktführer verfügt. Trotz aller Diskussionen über das global vagabundierende Kapital, das angeblich anytime und anywhere produzieren kann, denken die allermeisten Unternehmen gar nicht daran, Deutschland zu verlassen. Die Standortbedingungen – von der Dualen Ausbildung über heimische Fachkräfte, Hochschulen, politische Stabilität bis zur lokalen Finanzierung – lassen sich eben nicht beliebig transformieren. Alle deutschen Regierungen haben daher die deutschen Standortvorteile zu stärken versucht, am umfassendsten im Keynesianismus der 1970er-Jahre.
Lists Entwicklungstheorie ist auch Grundlage des postkommunistischen Wachstumsmodells Chinas und anderer ostasiatischer Länder. In diesem Modell bildet eine Volkswirtschaft spezifische Stärken aus und verteidigt sie im internationalen Wettbewerb. Staat und Kapital sind also auch heute noch eng verwoben: Der Kapitalismus hat viele nationale Gesichter. Da gibt es die undurchschaubaren Chaebol in Korea oder das Keiretsu-System in Japan. In China lenken die Parteikader die Wirtschaft, in Südeuropa dominieren familiare Strukturen et cetera.
Der „deutsche Kapitalismus“ existiert international nicht mehr
Das internationale Finanzkapital sitzt seit jeher in London und New York und profitiert von der Gesetzgebung und der politischen Macht dieser beiden angelsächsischen Länder. Wenn Hedgefonds kürzlich auf volle Rückzahlung von Schrottanleihen des argentinischen Staates klagten, dann taten sie das in New York, nicht in Buenos Aires, Hongkong oder Frankfurt. Mit dem US-Justizsystem im Rücken lebt es sich als Kapitalist leichter. Von der perfekten Feinabstimmung zwischen Washington und der Wall Street können nicht nur Argentinien oder Russland ein Liedchen singen. Und sie lohnt sich auch für das Kapital: Als der Casino Kapitalismus 2008 zusammenbrach, kaufte ihn der US Präsident wieder frei.
In den USA, China oder Russland ist die Verbindung von Nation und Kapital noch besonders eng. Und in Deutschland? Gibt es den deutschen Kapitalismus überhaupt noch? Auf der kleinen, mittelständischen Ebene ist er noch vital. Sein Anteil an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung liegt immerhin noch bei über fünfzig Prozent. Auf der höheren Ebene hat sich die Macht längst ins Ausland verlagert. Der Anteil deutscher Aktionäre an den DAX 30 Großunternehmen wie Daimler oder Siemens liegt heute nur noch bei 36 Prozent. In fast allen ist Englisch zur zweiten Unternehmenssprache geworden. In den Vorständen sitzen vorwiegend angelsächsische Finanzinvestoren als unsichtbare Aufpasser mit am Tisch. Die frühere „Deutschland AG“, in der Banken, Politik und Gewerkschaften die deutschen Konzerne vor ausländischem Einfluss schützten, gibt es nicht mehr. Die Regierung Schröder löste sie mit einer steuerpolitischen Entscheidung 2002 weitgehend auf.
International lassen sich gigantische Machtkonzentrationen ausmachen. Der größte Vermögensverwalter, die amerikanische BlackRock, entscheidet allein über 5.000 Milliarden US Dollar Anlagevermögen. Das übersteigt das Bruttoinlandsprodukt der meisten Länder der Welt und die Marktkapitalisierung der meisten Börsen der Welt. Das Ziel, störungsfrei zu wachsen, hat weltweit erhebliche Auswirkungen auf Mensch und Umwelt. Ähnliches gilt für milliardenschwere Hedgefonds, die erklärtermaßen gegen Länder spekulieren und keiner demokratisch legitimierten Kontrolle unterworfen sind.
Neuer Autoritarismus
Zudem gibt es Tendenzen zu einem neuen Autoritarismus, der nationales Recht durch privates ersetzt. Megakonzerne geben sich Corporate-Governance-Richtlinien, die sie auf ihre Zulieferbetriebe ausdehnen. Zusammen mit Nichtregierungsorganisationen, die ebenfalls keine demokratische Legitimation haben, bestimmen sie die Spielregeln einer globalisierten Weltwirtschaft mit. Dreist gehen Internetkonzerne wie Google vor: Sie verlagern ihre Server auf Schiffe im Weltmeer und schicken Satelliten ins Weltall, wo sie an kein Völkerrecht gebunden sind.
Besonders die europäischen Nationalstaaten sehen heute ihren Einfluss dahinschwinden. Allein haben sie gegen die globalen Finanzmärkte keine Chance. Staaten schaffen es nur noch mit größter Anstrengung, nationale Schlüsselkonzerne zu beschützen. Volkswagen muss die amerikanische Umweltbehörde US Environmental Protection Agency mehr fürchten als jede europäische Behörde. Umgekehrt haben die Europäer kein Mittel beispielsweise gegen die Politik der US-Ratingagenturen, die in der Finanzkrise eine dubiose Rolle spielten und dennoch ihre Macht an den Kapitalmärkten nicht verloren haben und sie nicht einmal mindern mussten. Die Strategie der Europäer, nationale Souveränität auf die Europäische Union zu verlagern, um dadurch global an Einfluss zu gewinnen, ist zwar klug, funktioniert aber nur beschränkt.
Krisenmodus ohne Ende
Die hohe Verschuldung der EU-Länder hat Staat und Banken zudem in eine gegenseitige Abhängigkeit gebracht. Der Versuch, die deutsche Schuldenbremse über den Fiskalpakt in ganz Europa zu implementieren und damit der Politik wieder mehr Handlungsspielraum zu verschaffen, steckt jedoch noch in den Anfängen. Die Folge ist eine Politik, die schnell auf Krisen reagieren muss und damit die Macht der Exekutive stärkt. Ministerratsbeschlüsse in Brüssel, Vorgaben des Internationalen Währungsfonds oder der EZB werden umgesetzt, die Parlamente können sie oft nur nachträglich abnicken. In der Moderne bestand zwischen Kapital und Demokratie stets ein Spannungsverhältnis. Von einem Gleichgewicht ist Europa gegenwärtig weit entfernt.
Max A. Höfer, geboren 1959 in Stuttgart, Wirtschaftswissenschaftler, Historiker und Politologe, Gründer der Agentur höfermedia in Berlin.