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Kinder als Minderheit in der alternden Gesellschaft

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Gegenwärtig leben etwa elf Millionen Kinder unter vierzehn Jahren in Deutschland. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung beträgt damit rund dreizehn Prozent und liegt geringfügig unter dem Durchschnitt in der Europäischen Union von vierzehn Prozent. Der Kinderanteil an der Gesamtbevölkerung hat sich seit der Wiedervereinigung U-förmig entwickelt. 1991 betrug er 15,6 Prozent und sank danach auf einen Tiefstwert von 12,2 Prozent im Jahr 2014. Seither ist ein moderater Wiederanstieg zu verzeichnen. Laut der jüngst vom Statistischen Bundesamt vorgelegten 15. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung ist zu erwarten, dass der Kinderanteil in den kommenden Jahren weitgehend stabil bleiben oder leicht ansteigen wird.

Trotz dieser zuletzt günstigen demografischen Entwicklung sind und bleiben Kinder in Deutschland eine Minderheit, und es stellt sich die Frage, was das für die Lebenssituation und die Zukunftsperspektiven der Kinder bedeutet.

 

Demografisches „Kohortenschicksal“ und individuelle Lebensumstände

 

Kleine Geburtskohorten und damit ein geringer Kinderanteil an der Gesamtbevölkerung haben zunächst einige positive Folgen für die Zukunft der Kinder. Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Richard Easterlin formulierte 1974 die These, dass Angehörige kleiner Geburtskohorten gute Zukunftsperspektiven vorfänden, da sie sich weniger stark in Konkurrenz um knappe Ressourcen wie Studien-, Ausbildungs- und Arbeitsplätze befänden als Angehörige größerer Kohorten. Auch die Weitergabe des gesellschaftlichen Gesamtvermögens von der Eltern- zur Kindergeneration wird durch die Kohortengrößen beeinflusst. Angehörige kleiner Kinderkohorten können größere Erbschaften erwarten. Allerdings wird durch Vererbung die soziale Ungleichheit in der Kindergeneration weiter zunehmen.

Die Angehörigen kleiner Geburtskohorten profitieren auch von der ökonomischen Gesetzmäßigkeit, dass knappe Güter eine Wertsteigerung erfahren. Tatsächlich ist im langfristigen Verlauf zu beobachten, dass zwar die Zahl der Kinder abgenommen hat, die finanziellen Mittel, die in die Kinder investiert werden, jedoch hoch sind. Das gilt für die Eltern, die zumeist viel Zeit, Geld und Empathie für ihre Kinder einbringen. Es gilt aber auch für die Gesellschaft, die, trotz berechtigter Kritik, viel für die Bildung und Gesundheit „ihrer“ Kinder aufwendet. Bei allen immer wieder vorgetragenen Besorgnissen, wie sie im Zusammenhang mit wachsender Kinderarmut und mit dem Motiv des bedrohten und überlasteten Kindes geäußert werden, ist festzustellen, dass Kinder insgesamt gesund und zufrieden sind. Zwar sind Gesundheit und Zufriedenheit im Zuge der COVID-19-Pandemie deutlich beeinträchtigt (UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland 2021); es bleibt aber zu hoffen, dass es sich um einen temporären Effekt handelt.

Neben dem demografischen „Kohortenschicksal“, das die Angehörigen von Geburtsjahrgängen kollektiv teilen, wird die Lage der Kinder natürlich auch durch ihre individuellen Lebensumstände im sozialstrukturellen und familialen Kontext beeinflusst. Neben ökonomischen sind hier auch familiendemografische und beziehungskulturelle Faktoren maßgeblich. Die ökonomische Gesamtsituation der Kinder ist im historischen Vergleich als sehr gut zu bewerten. Problematisch ist die enorme Spreizung der sozioökonomischen Lebensverhältnisse: Laut Bundesregierung gelten zwanzig Prozent der unter Achtzehnjährigen als „armutsgefährdet, in Bremen sogar 42 Prozent“ (aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken vom 13. März 2022). Armutsgefährdung bedeutet dabei ein Einkommen von maximal sechzig Prozent des Medians des nach Haushaltsgröße und -zusammensetzung gewichteten verfügbaren Haushaltsnettoeinkommens (Äquivalenzeinkommen) der Bevölkerung. Für ein Elternpaar mit zwei Kindern unter vierzehn Jahren betrug im Jahr 2021 dieser Wert 2.410 Euro.

Zur familiendemografischen Lage der Kinder können Daten des Statistischen Bundesamtes für 2021 herangezogen werden. Danach wachsen 72 Prozent aller Kinder bei ihren verheirateten Eltern (inklusive Stiefelternfamilien) auf, neun Prozent leben bei nicht miteinander verheirateten Eltern (inklusive Stiefeltern) und neunzehn Prozent bei einem alleinerziehenden Elternteil. Oftmals problematisiert wird in diesem Zusammenhang der relativ hohe Anteil an Kindern, die bei Alleinerziehenden aufwachsen, wobei unterstellt wird, dass diese Kinder ungünstigere Entwicklungschancen vorfinden. Tatsächlich stellen Alleinerziehende nicht per se die schlechtere Familienform dar; sie befinden sich allerdings häufiger in benachteiligten ökonomischen Verhältnissen als Paarfamilien.

 

Mehr Zuwendung und weniger Selbstwirksamkeit

 

Zur Beziehungskultur ist festzuhalten, dass Kinder heute eine hohe Zufriedenheit mit ihren Eltern bekunden. Eltern verstehen sich vielfach als Partner ihrer Kinder. Die autoritären, gewalttätigen und strafenden Eltern sind heute bei Weitem in der Minderheit. Das familiale Erziehungsgeschehen und das Erleben der Kinder hat sich im Verlauf der letzten Jahrzehnte deutlich zum Positiven verändert: Die meisten erfahren eine höhere Wertschätzung und mehr Zuwendung als in der Vergangenheit. Jedoch bestehen die Gefahren, dass den Kindern zu viel Aufmerksamkeit geschenkt und zu viel Unterstützung gewährt wird, dass die Erziehung zur Selbstständigkeit und Selbstwirksamkeit vernachlässigt wird und sie in dieser Erziehungskultur zu wenig Resilienz entwickeln.

Ein anderes, die Eltern-Kind-Beziehung kennzeichnendes Merkmal ist die steigende Erwerbsbeteiligung von Müttern in Westdeutschland, auch von Müttern junger Kinder. Immer wieder wird argumentiert, dass diese Tendenz die gedeihliche Entwicklung der Kinder gefährde. Befunde einschlägiger empirischer Studien zeigen jedoch mehr positive Folgen familienexterner Betreuung für die kindliche Entwicklung als negative. Es existieren ebenfalls keine belastbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse, die eine rein familiengestützte Erziehung als beste Alternative ausweisen.

Die Alterung der Gesellschaft birgt jedoch auch besondere Risiken und Bedrohungslagen für die junge Generation. Die Befürchtung, die alte Generation beeinflusse allein wegen ihrer Größe die Entwicklung der Gesellschaft zulasten der nachwachsenden und gefährde womöglich sogar die Lebensgrundlagen künftiger Generationen durch ihr Verhalten, ist virulent, auch wenn keine Hinweise darauf existieren, dass das Motiv „Nach mir die Sintflut“ das Denken und Handeln der Großelterngeneration als Kollektiv kennzeichnet. Aber die in der Gesellschaft verfolgten Profitinteressen konterkarieren vielfach nachhaltiges Handeln. Die Übernutzung der irdischen Ressourcen und die rücksichtslose Durchsetzung nationaler und rein wirtschaftlicher Interessen wird von der Eltern- und Großelterngeneration verantwortet. Die ökologische Bedrohung ist real und gefährdet die Lebensgrundlagen der nachwachsenden Generationen.

 

Folgen der demografischen Alterung

 

Offenkundig sind auch die Folgekosten der demografischen Alterung, wenn die sozialen Sicherungssysteme betrachtet werden. Immer drängender stellt sich die Frage „Wer pflegt morgen?“. Die sich rasch verschlechternde Relation der zu Pflegenden und der zur Verfügung stehenden Pflegekräfte bedarf Antworten jenseits von Markt und traditioneller Familie. Die gezielte Stärkung von „Caring Communities“ könnte ein wichtiger Baustein künftiger Gesellschaftspolitik werden.

Das gesamte beitragsgestützte Sozialversicherungssystem wird angesichts der demografischen Trends erhebliche Finanzierungsprobleme erfahren. Allerdings sind hier auch günstige Entwicklungen zu erwarten, die sich positiv auf die Finanzierung der Alterssicherung auswirken können. Wenn der Abschied vom bisherigen Drei-Phasen-Modell des Lebenslaufs gelingt (Lernen–Arbeiten–Ruhestand) und sich die Idee durchsetzt, dass Lernen, Produktivität und Ruhebedürfnisse nicht seriell, sondern parallel über die gesamte Lebensspanne existieren und entsprechend berücksichtigt werden müssen, könnte sich das Thema des längeren Arbeitens neu stellen. Eine leichtere Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Privatleben wirkt sich günstig auf die Gesundheit und auf die Motivation zur Erwerbsarbeit über das heutige Rentenalter hinaus aus. Schon heute arbeiten die Babyboomer länger als die Vorgängergeneration. Was bedeutet das Gesagte für die Zukunft? Die Kindergeneration wird,

sofern keine externen Schocks eintreten, den von den Elterngenerationen erwirtschafteten Wohlstand erben. Für wachsende Anteile der Kindergeneration wird Erwerbsarbeit zum Broterwerb an Relevanz einbüßen. Arbeiten als Lebenssinn wird dagegen an Bedeutung zunehmen. Voraussichtlich werden die Angehörigen der nachwachsenden Generation mehr disponible Zeit zur Verfügung haben als die Generationen vor ihnen. Die junge Generation profitiert vom Wohlstand der Gesellschaft auch dadurch, dass sie so spät wie keine vor ihr in den Arbeitsmarkt eintritt. Die Erwerbsquoten der unter Zwanzigjährigen bewegen sich auf einem Tiefstand. Diese Art von „Freistellung“ ist ein beträchtlicher Hinzugewinn an Lebensqualität für die junge Generation. Die Forderung an die Älteren, länger zu arbeiten, wäre zu flankieren durch die Forderung an die Jungen, früher damit anzufangen.

Zudem bedarf es der gezielten Förderung von Kindern aus ungünstigen Familienverhältnissen – eine Aufgabe, der sich die Gesellschaft sehr viel entschlossener widmen muss als bisher. Sieben Prozent pro Jahrgang verlassen das Schulsystem ohne Abschluss, weitere acht Prozent erwerben keinen für den Arbeitsmarkt qualifizierenden beruflichen Abschluss. Diese Größenordnung ist alarmierend und erfordert gezielte Maßnahmen.

 

Zypresse statt Pyramide

 

Werden Kinder knapper und damit wertvoller? Die Antwort lautet „Ja“. Gerade auch deswegen ist noch mehr in Bildung und Erziehung zu investieren. Dies gilt heute umso drängender, als die COVID-19-Maßnahmen teils erhebliche Bildungsdefizite generiert haben, die durch intensivierte Anstrengungen so weit wie möglich verringert werden müssen. Und es gilt umso mehr, als immer mehr Kinder aus Migrantenfamilien stammen und daher die beste Sprachförderung erhalten müssen. Kinder sind die Zukunft einer Gesellschaft. Die Aufgabe der Älteren ist es, sie frühzeitig zu befähigen und zu motivieren, dass sie diese, ihre, Zukunft bestmöglich gestalten können. Dazu gehört auch, den jungen Menschen mehr Gehör zu verschaffen und sie stärker an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen zu beteiligen.

Stellt die demografische Alterung der Gesellschaft eine Bedrohung der Zukunft der Kinder dar? Die Antwort lautet „Nein“ – wenn auf die Folgen angemessen reagiert wird. Die allfälligen Thesen, dass einer alternden Gesellschaft die Innovationskraft ausgehe, dass sich ein Generationenkonflikt anbahne, dass sich die Alten nur für sich selbst und nicht für die Zukunft der Kinder interessieren und dass durch die Alterung massive Wohlstandsverluste entstünden, sind sämtlich unbestätigt. Wenn es gelingt, die gesellschaftliche Teilhabe „der Älteren“ und der jungen Generation zu stärken, dann lassen sich die Folgen der Alterung leichter bewältigen.

Es ist richtig, dass sich die Bevölkerungspyramiden in vielen Industrieländern zu einer Zypresse entwickelt haben. Aber die Probleme, die sich mit dieser „Verschlankung“ ergeben, erscheinen angesichts der äußerst dynamischen demografischen Verjüngung, wie sie etwa in vielen Ländern in Subsahara-Afrika erfolgt, lösbar zu sein. In Niger beispielsweise ist fast die Hälfte der Bevölkerung unter vierzehn Jahre alt. Wer soll diese Kinder befähigen, der drohenden Armutsfalle zu entkommen?

 

Norbert F. Schneider, geboren 1955 in Rehau, Soziologe, seit 2012 Honorarprofessor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, seit 2016 Mitglied des Vorstands, jetzt Präsident der Deutschen Gesellschaft für Demographie, 2009 bis 2021 Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BIB) in Wiesbaden, seither dort Senior Researcher.

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