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Perspektiven eines belasteten Verhältnisses

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Es ist kein Geheimnis, es ist vielmehr eine Selbstverständlichkeit: Angesichts des nun in Deutschland bereits mehr als zehn Jahre andauernden Missbrauchsskandals im Verantwortungsbereich der Kirche ist es für nicht wenige eine maßlose Untertreibung, wenn man von einem belasteten Verhältnis zwischen Kindern und Kirche spricht. Manche gehen sogar von einem zerstörten oder zumindest teilweise zerstörten Verhältnis aus.

Die Symptome dafür sind immer wieder wahrnehmbar. Am meisten und am unmittelbarsten oftmals für diejenigen, die sich im Auftrag der Kirche in der Arbeit mit und für Kinder engagieren. Sie alle machen die Erfahrung, dass ihnen nicht selten mit gewissem Argwohn und Zurückhaltung begegnet wird. Zu viel musste man über charismatische Jugendseelsorger lesen, die sich im Nachhinein als Missbrauchstäter entpuppt haben, zu oft konnte man zuvor eigentlich weitgehend respektierten kirchlichen Hierarchen nachweisen, dass sie Missbrauchstaten vertuschten. Zu langsam, zu wenig entschieden wie eindeutig wurde und wird teilweise immer noch gegen den Missbrauchsskandal und seine Ursachen vorgegangen und erlittenes Unrecht aufgearbeitet.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, wenn das aufgrund des Missbrauchsskandals belastete Verhältnis zwischen Kindern und Kirche „nur“ einen Teilaspekt eines noch größeren Problems darstellt. Die Kirche scheint nicht bloß ihre Rolle als zuverlässiger Sozialpartner im Bereich Bildung und Erziehung zu verlieren, sondern auch als anerkannter gesellschaftlicher Player innerhalb der Rechtsordnung eines freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens. Das Problem des Verhältnisses von Kindern und Kirche ist damit so gesehen ein Initial für weitere Probleme gesellschaftspolitischer Natur.

 

Wertvolles

 

Dass sich eine derartige Problemlage am Verhältnis von Kindern und Kirche entwickeln kann, mag man zunächst nicht so recht glauben. Es scheint sogar nahezu unmöglich, geht man von der Rolle aus, die Kinder im kirchlichen Denken, Selbstverständnis und in dem daraus zu folgernden Handeln haben beziehungsweise haben sollten. Es gibt diesbezüglich vor allem zwei zentrale theologische Denkfiguren, die die Bedeutung von Kindheit und Kindsein hervorheben.

Die erste Denkfigur ist jene von der Menschwerdung Gottes. Gott wird in dem Kind Jesus Mensch, wodurch dieses Lebensalter eine besondere Würde erhält. Es ist damit eine der entscheidenden Möglichkeiten, Gott zu begegnen und ihm nahe zu sein. Nicht umsonst erinnert Jesus seine Zuhörer daran, dass sie kaum in die Gemeinschaft mit Gott eintreten können, wenn sie nicht wie die Kinder werden (Matthäus-Evangelium [Mt], Kapitel 18, Vers 3). Es versteht sich von selbst, dass Kindsein dann im Vergleich zum Erwachsensein keine defizitäre Lebensform ist, die sich durch den Mangel an Wissen, Erfahrung, Können, Einfluss und Macht auszeichnet. Es ist kein Lebensalter, das aufgrund dieser Defizite geringzuschätzen ist oder das es schnell zu überwinden gilt. Das Kindsein gilt es wertzuschätzen, zu schützen und in seiner Eigenart zu bewahren. Auch an dieser Stelle kann wieder auf ein paradigmatisches Jesuswort verwiesen werden: Falls sich jemand an den Kleinen vergreifen würde, wäre es besser für ihn, mit einem Mühlstein um den Hals im Meer versenkt zu werden (Mt 18,6).

Die zweite Denkfigur ist die der Kinder Gottes. Nach ihr sind alle Menschen Kinder des einen Vaters im Himmel, Kinder des einen Gottes. Aus dieser Denkfigur ergeben sich – zurückhaltend formuliert – An- und Herausforderungen für das konkrete Leben. Wenn alle Menschen Kinder Gottes sind, so sind wir zueinander alle Geschwister. Jeder und jede hat die gleiche Würde, ist gleichwertig. Niemand darf sich als etwas Besseres fühlen. Wir sind Gleiche unter Gleichen, was ein Band der Gemeinschaft unter den Menschen knüpft. Wir müssen daher wechselseitig auf uns achten. Eine solche Gemeinschaft ist kein exklusiver Club besonderer Menschen, sondern umfasst Kleine und Große, Alte und Junge.

Blickt man auf das Leben der Kirche im Laufe der Geschichte, lassen sich Hinweise darauf ausmachen, dass beide Denkfiguren nicht ohne Einfluss auf das Handeln der Kirche blieben. Bis in unsere Tage ist die Kirche nahezu von Anfang an Trägerin vielfältiger Bildungsaktivitäten und Bildungseinrichtungen gewesen. Von Kindergärten über Schulen bis hin zu Universitäten zeigt sich eine kirchliche Handlungslinie, die Kinder und Jugendliche beim Aufwachsen begleitet und unterstützt. Sie sollen gleichsam fit für das Leben werden, indem sie auf Basis des christlichen Glaubens Verantwortung in der Welt übernehmen und, mit entsprechendem Wissen ausgestattet, diese ihre Welt gestalten können. Sie sollen in der Lage sein und in die Lage versetzt werden, aktiv am gesellschaftlichen und kirchlichen Leben teilzuhaben. Neben den erwähnten Bildungsinstitutionen spielt aber auch die Fürsorge zum Beispiel für Waisen eine nicht unbedeutende Rolle. Es entspricht kirchlichen Grundüberzeugungen, Kinder und Heranwachsende nicht einfach ihrem Schicksal zu überlassen, sondern Hilfe und Unterstützung bereitzustellen.

Im Grunde müsste also alles klar sein, was Kinder und Kirche angeht. Es erscheint alles so einfach, so überzeugend. Es gibt ein grundlegendes Gedankengebäude, das in entsprechende Handlungsoptionen übersetzt wird.

 

Widerwärtiges

 

Aber was einfach erscheint, ist es tatsächlich nicht immer. Mit dem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ist die Kirche massiv an ihren eigenen Idealen gescheitert. Dies ist für die Institution Kirche deshalb besonders entlarvend, weil sie sich sonst gern selbst als moralische Autorität gegenüber sowohl anderen Institutionen als auch Einzelpersonen aufschwingt, auf ihre Unterschiedlichkeit als Überzeugungsgemeinschaft gegenüber „bloßen“ Vereinen abzuheben versucht und ohne eigene Fehlerkultur mit dezidierten Mahnungen gegenüber Politik und Gesellschaft nicht hinter dem Berg hält.

Das kirchliche Scheitern hat sich auf unterschiedlichen Ebenen zugleich manifestiert: auf Ebene der Missbrauchstäter, die ihren seelsorgerischen Auftrag verraten haben; auf Ebene der Pfarrgemeinden, in denen man Verdächtiges nicht wahrhaben wollte und verdrängt hat; auf Ebene der Bischöfe sowie anderen kirchlichen Führungspersonals, das aktiv an der Vertuschung von Missbrauchsverbrechen beteiligt war; auf Ebene der Weltkirche, wo lange Zeit entsprechende kirchenrechtliche Regelungen weder eingeführt noch umgesetzt wurden. Und auf allen diesen Ebenen wurde in den letzten Jahren der große Graben zwischen Reden und Tun immer größer, die Glaubwürdigkeit immer geringer.

Damit ist einerseits die Axt an die Zukunft der Kirche gelegt, denn wer Glauben verkünden will, muss „glaub-würdig“ sein. Geht Glaubwürdigkeit verloren, dann verliert man am Ende die vielen aufrecht im Dienst der Kirche Tätigen. Man verliert einerseits ebenso die nachwachsende Generation, die eigentliche Zukunft der Kirche, weil sie ihr nicht mehr anvertraut wird. Andererseits, was noch weit schwerwiegender als die Zukunft der Kirche zählt, hat der Graben zwischen Reden und Tun oftmals die Zukunft von Kindern und Jugendlichen zerstört. Missbrauch ist ein Verbrechen. Es ist eine grobe Verletzung der Menschenwürde, ein schwerer Verstoß gegen die von den Vereinten Nationen festgeschriebenen Kinderrechte und vor allem eine Verleugnung all dessen, was Kinder brauchen, um leben, wachsen und sich entwickeln zu können. Kinder brauchen Sicherheit vor Bedrohung, Angst, Schmerz und Instrumentalisierung. Sie brauchen Geborgenheit statt Übergriffigkeit und Versuche von Inbesitznahme. Sie haben Wertschätzung nötig, nicht rücksichtslose Abhängigkeiten. Sie sind auf Orientierung angewiesen, nicht auf Manipulation. Sie brauchen die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung im Kontext von Zuverlässigkeit und Stabilität. Es liegt in der Verantwortung der Erwachsenen und der Institutionen, denen Kinder anvertraut werden, den Kindern das zu geben, was sie brauchen.

 

Wandelbares

 

Die Frage, warum die Kirche ihrer grundlegenden Bringschuld nicht gerecht geworden ist, lässt sich grob gesprochen auf zweierlei Weise beantworten: Es gibt Gründe, die an einzelnen Personen festgemacht werden können, wie persönliche Unreife, Unfähigkeit, moralische Defizite et cetera.

Und dann gibt es auch die systemischen Ursachen, bei denen unterschiedliche Faktoren, die innerhalb einer Institution wirksam sind, voneinander abhängen und sich wechselseitig beeinflussen.

Im Blick auf die Institution Kirche wird zum Beispiel verwiesen auf eine ausgeprägte hierarchische Struktur, ein damit zusammenhängendes übertriebenes Autoritätsverständnis, mangelnde Kontrollmechanismen und eine defizitäre Sexualmoral, die eine realistische Selbsteinschätzung kaum zulasse. Obwohl zunehmend die Einsicht Oberhand gewinnt, dass systemische Ursachen wesentlich zur Missbrauchskrise beigetragen haben (siehe dazu die Diskussionen im Kontext des sogenannten „Synodalen Weges“ in Deutschland), hält der Streit um die eigentlichen Missbrauchsursachen an. Im Grunde geht es dabei auch darum, an welcher Stelle mit tiefgreifenden Veränderungen angesetzt werden muss. Ist es das Individuum oder ist es die Institution als Ganzes, die sich verändern muss, will sie als Kirche weiterleben, um die frohe Botschaft des Evangeliums auch in Zukunft verkünden zu können?

Ganz gleich, wie diese Auseinandersetzung ausgeht – Wandlungsprozesse gilt es sicher sowohl auf persönlicher als auch auf institutioneller Ebene anzustoßen. Diese Prozesse kommen jedoch nur dann in Gang und zum Ziel, wenn die Bereitschaft zu drei grundlegenden Schritten besteht: vorbehaltlos Aufklärung dessen zu betreiben, was geschehen ist und wer wofür als Täter oder Vertuscher Verantwortung trägt; Aufarbeitung des Geschehenen, indem alle Täter und Vertuscher zur Verantwortung gezogen werden, in der Öffentlichkeit Transparenz hinsichtlich des Geschehenen hergestellt wird und von Missbrauch Betroffene Wiedergutmachung erfahren; Prävention von Missbrauch durch Schulung und Sensibilisierung von Verantwortlichen sowie strukturelle Veränderungen einschließlich der Einführung von Kontroll- und Berichtsmechanismen.

 

Perspektivisches

 

Nur wenn die Kirche diese drei Schritte konsequent geht, wird es ihr gelingen, zu dem beizutragen, was Kinder brauchen. Nur so kann Kirche ihrer grundlegenden Bringschuld nachkommen und zugleich einen spezifischen Beitrag als Glaubensgemeinschaft für Kinder leisten. Worin dieser spezifische Beitrag besteht, darüber gibt es seit einiger Zeit eine intensive Diskussion (vgl. dazu etwa Friedrich Schweizer: Das Recht des Kindes auf Religion, Gütersloh 2013 [zweite Auflage]; Georg Langenhorst: Kinder brauchen Religion, Freiburg im Breisgau 2014), die immer wieder Impulse durch die Frage danach erhält, wozu Religion generell gut sei (vgl. als jüngeres Beispiel Hartmut Rosa: Demokratie braucht Religion, München 2022 [fünfte Auflage]).

In diesem Zusammenhang wird oftmals darauf hingewiesen, dass Religion beziehungsweise religiöse Erziehung für Kinder insofern von Bedeutung sei, als zum Beispiel erstens religiöse Symbole, Riten und Brauchtum nicht nur wichtige Lebensabschnitte markieren und strukturieren, sondern auch ein Verständnis für die sie umgebende Kultur vermitteln, zweitens anhand von Heiligen als Vorbildern und Handlungsmustern Wertorientierungen erschlossen werden, drittens über biblische Geschichten als Geschichten der Menschen mit Gott die ganze Wirklichkeit in ein Sinnganzes eingeordnet wird und viertens durch die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen religiösen Überzeugungen das Verständnis für glaubende Menschen wächst und damit zugleich die Fähigkeit, sensibel und integrativ mit der Diversität von Weltsichten umzugehen.

Die Fragen, ob es der Kirche gelingt, diesen spezifischen Beitrag für Kinder zu leisten, ob sie ihrer basalen Bringschuld gerecht wird und konsequent Aufklärung, Aufarbeitung und Prävention betreibt, sind nach wie vor offen. Nicht umsonst ist immer wieder der Ruf nach staatlicher Intervention zu hören, die wohl dann am effektivsten ist, wenn staatlicherseits allgemein verbindliche sowie überprüfbare Kriterien für Aufklärung, Aufarbeitung und Prävention vorgelegt werden und ihre Erfüllung sanktionsbewährt ebenso staatlicherseits eingefordert wird. Auf diese Weise bleibt die Kirche in der Verantwortung, können interne Reformkräfte gestärkt und deren Insider-Kompetenzen einbezogen werden, ohne dass auf externe Kontrolle verzichtet werden muss, staatliche Ressourcen überstrapaziert und staatliche Handlungsmöglichkeiten überdehnt werden. Es wäre ein fatales Signal, wenn die Problemverursacherin (in diesem Fall die Kirche) ihre Verantwortung einfach an den Staat delegieren und die Problemlösung sowie die damit verbundenen Aufwendungen und Anstrengungen ihm mehr oder weniger überlassen könnte.

Dies alles erscheint umso fataler, als das Problem Missbrauch ja nicht nur die Institution Kirche betrifft, sondern auch andere gesellschaftliche Akteure wie zum Beispiel andere Religionsgemeinschaften und Bildungsträger, Sportvereine, die Kunst- und Modebranche et cetera. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei betont, dass die Strafverfolgung und Rechtsanwendung selbstverständlich in staatlicher Hand liegen. Es sei aber auch daran erinnert, dass Aufklärung, Aufarbeitung und Prävention im Rahmen der staatlichen Gesetzgebung über die reine staatliche Strafverfolgung hinausgehen. Die Kirche kommt nicht umhin, sich auch die Frage nach der moralischen Verantwortung angesichts der eigenen Handlungsansprüche zu stellen und dementsprechende Konsequenzen zu ziehen.

Für die Kirche bleibt im Kontext des belasteten Verhältnisses zwischen ihr und Kindern noch einiges zu tun. Den Kirchenverantwortlichen sollte dabei eines klar sein: Kinder mögen Religion(en) brauchen – die Kirche als konkrete, gemeinschaftliche Lebensform von Religion jedoch nicht unbedingt, und eine, die ihre Probleme nicht in den Griff bekommt, keinesfalls.

 

Peter Beer, geboren 1966 in Kelheim an der Donau, katholischer Priester, promovierter Theologe und Pädagoge, 2010 bis 2019 Generalvikar der Erzdiözese München und Freising, seit 2020 Professor am Safeguarding Institut der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom.

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