1.700 Jahre Christentum in Nordrhein-Westfalen: So lautet der Titel eines Atlas’ zur Kirchengeschichte der Kirchenhistoriker Erwin Gatz und Marcel Albert. Wer den Band durchblättert, erhält einen Eindruck davon, wie vielfältig das Christentum das Land geprägt hat – spirituell, kulturell und auch politisch. Denn viele „alte Grenzen“ umschreiben das Bindestrichland an Rhein, Ruhr, Ems und Weser bis heute. Selbst wenn Nordrhein-Westfalen in diesem Jahr erst siebzig Jahre alt geworden ist – die Geschichte seines kirchlichen Lebens beginnt bereits im frühen 4. Jahrhundert: Als historischer Markstein gilt, dass der heilige Maternus in den Jahren 313/14 als erster Bischof von Köln belegt ist. Auf diese Anfänge in römischer Zeit folgten die Etablierung kirchlicher Strukturen in der fränkischen Zeit, die Christianisierung der Sachsen im westfälischen Landesteil und die Reformation. Unser Land war Schauplatz gewaltsamer religiöser Auseinandersetzungen und zugleich des – auch religiösen – Westfälischen Friedens.
Bis heute prägen Kirchen mit ihren Türmen die Silhouetten unserer Städte: Man denke an Köln, Aachen, Düsseldorf, Münster, Bielefeld, Detmold oder Paderborn. Selbst im Ruhrgebiet mit seinen beeindruckenden Industriebauten – in Essen, Dortmund oder Duisburg – sind die Kirchtürme nicht wegzudenken. Sie sind weit sichtbare Zeichen dafür, dass in Nordrhein-Westfalen immer noch zwei Drittel der Menschen einer Kirche angehören – gut sieben Millionen Katholiken und 4,6 Millionen Protestanten. Das ist für beide Kirchen Auftrag und Verpflichtung, sich in die Gesellschaft einzubringen und Verantwortung zu übernehmen.
Als Kirchen tun wir dies auf der Grundlage eines Verhältnisses von Kirche und Staat, das in vielen Bereichen von Kooperation geprägt ist und das in der Landesverfassung sowie im Grundgesetz seine Grundlagen hat. Neben den Bestimmungen des Grundgesetzes, die unter anderem die Religionsfreiheit und das Selbstverwaltungsrecht der Kirchen garantieren, normiert die Landesverfassung „in Verantwortung vor Gott und den Menschen“, wie es in der Präambel heißt, „Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor der Würde des Menschen und Bereitschaft zum sozialen Handeln zu wecken, als vornehmstes Ziel der Erziehung“ (Artikel 7 Landesverfassung NRW).
Dieses Erziehungsziel verdeutlicht, was den gesellschaftlichen Zusammenhalt ausmacht: Ehrfurcht vor der religiösen Überzeugung, Achtung der Würde des Einzelnen und Verantwortung für das Gemeinwohl. Als Kirchen tragen wir nicht nur dazu bei, Menschen dafür zu gewinnen und davon zu überzeugen; wir leisten auch unseren Beitrag dazu – ob ehrenamtlich oder hauptamtlich, ob in unseren Kirchengemeinden oder in unseren Sozialverbänden, ob in unseren Bildungseinrichtungen oder in unseren Sozialeinrichtungen.
Die größte gesellschaftliche Bewegung
Obwohl das kirchliche Leben mitunter durch zunehmende Säkularisierung, gesellschaftliche Veränderungen und strukturelle Umgestaltungen mit großen Herausforderungen konfrontiert wird, sind die über eine Million Menschen, die sonntags die Gottesdienste besuchen, immer noch die größte gesellschaftliche Bewegung. Hinzu kommen viele Hunderttausend Frauen und Männer, die sich in unseren Kirchengemeinden, Verbänden und Organisationen ehrenamtlich engagieren. Zugleich stellen wir fest: Wir sind nicht mehr Volkskirchen, aber immer noch Kirchen im Volk.
Unser vornehmster Auftrag ist, das Evangelium zu verkünden und Menschen an die Gegenwart Gottes zu erinnern. Diesem Auftrag kommen wir primär nach, wenn wir Gottesdienst feiern. Hinzu treten vielfältige weitere Aufgabenfelder, in denen wir ebenfalls – direkt oder indirekt – dem Auftrag nachkommen, das Evangelium zu verkünden. Beide Kirchen sind in Nordrhein-Westfalen wichtige Bildungsträger: Sie unterhalten 3.500 Kindergärten, 240 Schulen sowie Hochschulen. Das macht deutlich, dass unser christlicher Auftrag immer auch ein Bildungsauftrag ist.
Hinzu kommen die vielfältigen und zahlreichen sozialen Einrichtungen. Soziales Engagement hat in den Kirchen von Anbeginn eine wichtige Rolle gespielt, weil das Wort Jesu aus dem Matthäusevangelium gilt: „Was ihr dem Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.“ Diesem Auftrag kommen insbesondere unsere karitativen und diakonischen Einrichtungen nach, die zum Teil in einer jahrhundertealten Tradition stehen, die bis ins Mittelalter zurückreicht. Der Ursprung des noch heute bestehenden Hubertusstiftes, einer Altenpflegeeinrichtung in Düsseldorf, liegt im 14. Jahrhundert. Im 19. Jahrhundert hat das soziale Engagement beider Kirchen vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen deutlich zugenommen. In unserem Land gibt es eine besonders dichte Konzentration von Krankenhäusern sowie von Alten- und Pflegeeinrichtungen in Trägerschaft der verfassten Kirchen oder unserer Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie.
Engagement bei der Flüchtlingshilfe
So wie sich die Kirchen im 19. Jahrhundert den Nöten und Herausforderungen der Zeit gestellt haben, so tun wir dies auch heute. Neben zahlreichen Einrichtungen zur Hilfe für Menschen, denen das Nötigste fehlt, und deren Integration kümmern sich kirchliche Einrichtungen und viele Männer und Frauen aus unseren Kirchengemeinden um Menschen, die gerade in letzter Zeit auf der Flucht zu uns gekommen sind. In nahezu jeder Kirchengemeinde engagieren sich Menschen bei der Hilfe für Flüchtlinge und deren Integration. Hinzu kommen unsere professionellen Angebote in der Jugendhilfe, der Beratung und der Unterbringung. Zudem werden beide Kirchen in ihrer Verkündigung nicht müde, für eine gastfreundliche, menschliche und hilfsbereite Gesellschaft zu werben.
Träger des kulturellen Erbes
Neben dem Bildungs- und dem Sozialbereich sei als dritter Schwerpunkt besonderen kirchlichen Engagements die Kultur erwähnt. Mit unseren vielen Hundert Kirchen sind wir ortsbildprägend – das gilt für den Kölner Dom genauso wie für die kleine Dorfkirche. Wir wissen uns diesem kulturellen Erbe verpflichtet und erhalten dies auch als Beitrag für die Gesellschaft insgesamt. Vor allem aber sind unsere Kirchen Orte des Gottesdienstes. Dafür sind sie vielfach unter großem Einsatz der Menschen gebaut, ausgestattet und erhalten worden. Durch alle Jahrhunderte haben sich die Kirchen als Förderer und Bewahrer der Kunst erwiesen. Jede Kirche ist auch ein kulturelles Schatzhaus. Darüber hinaus spielt die Musik für uns eine wichtige Rolle. Ohne Musik ist keine Liturgie möglich, und so haben wir als Kirchen auch zum musikalischen Spektrum unseres Landes viel beizutragen. Dieses Spektrum beinhaltet die Kirchenlieder von Philipp Nicolai, Joachim Neander oder Friedrich Spee ebenso wie die beeindruckende Orgellandschaft im Rheinland, in Westfalen und in Lippe. Hinzu kommen die zahlreichen Chöre, in denen Menschen jedes Alters singen – zum Lobe Gottes und zur Freude der Menschen.
Als Kirchen sind wir nicht nur Bewahrer, sondern auch Gestalter und Mahner der Gesellschaft. Wir wollen dazu beitragen, dass der christliche Glaube in unserer Gesellschaft auch weiterhin erfahrbar bleibt, weil – um es mit den Worten des Rheinländers Heinrich Böll zu sagen – „es in einer christlichen Welt Raum gibt für die, denen keine heidnische Welt je Raum gab: für Krüppel und Kranke, Alte und Schwache, und mehr noch als Raum gab es für sie: Liebe für die, die der heidnischen wie der gottlosen Welt nutzlos erschienen und erscheinen“.
Diesem Auftrag kommen auch die beiden kirchlichen Büros in Düsseldorf nach – das Evangelische Büro als Vertretung der drei evangelischen Landeskirchen im Rheinland, in Westfalen und in Lippe sowie das Katholische Büro als Vertretung der fünf (Erz-)Bistümer Köln, Paderborn, Münster, Aachen und Essen. Sie arbeiten an der Schnittstelle von Staat und Kirche. Denn Kirche und Staat haben viele Berührungspunkte: die Unterhaltung kirchlicher Erziehungs-, Betreuungs- und Bildungseinrichtungen, von Krankenhäusern, von Alten- und Pflegeheimen. Zu nennen sind außerdem die Durchführung des Religionsunterrichts an den staatlichen Schulen und die Kulturpflege, für jeden greifbar besonders als Denkmalpflege. All das sind Aufgaben, an deren bewährt effektiver Wahrnehmung durch die Kirchen der Staat ein lebhaftes Interesse hat. Hier ist die schon erwähnte Kooperation staatlicher und kirchlicher Stellen erforderlich.
Klare Absprachen zwischen Staat und Kirche
Im Staatskirchenrecht spricht man angesichts dieser Zusammenarbeit von einer modifizierten Trennung von Staat und Kirche. Ein solches Verhältnis funktioniert nicht von selbst; es bedarf klarer Regeln und Absprachen. Diese wollen sorgsam vorbereitet und zwischen Staat und Kirche sachkundig besprochen sowie fair ausgehandelt sein. Das setzt bei beiden Verhandlungspartnern vielschichtige Kenntnisse und wechselseitiges Vertrauen voraus. Solches Vertrauen will wachsen; dazu ist die fachliche und persönliche Wertschätzung und – damit verbunden – die Kontinuität der Gesprächspartner notwendig. Das verbürgen die beiden Büros – gegebenenfalls durch Rückkoppelung an die hinter ihnen stehende Organisation der Gesamtkirche. Zugleich verdeutlichen sie durch ihre Arbeit, dass das Verhältnis von Staat und Kirche, wie es im Grundgesetz und in der Landesverfassung grundgelegt ist, auch in einer zunehmend säkularen Gesellschaft eine gute Grundlage für religiöses Leben in Nordrhein-Westfalen ist. Es geht nicht um Privilegierung der einen und Diskriminierung der anderen, sondern darum, religiöses Leben in unserer Gesellschaft zu ermöglichen und rechtlich abzusichern.
Dabei vertreten wir als Kirchen gegenüber der Exekutive und der Legislative auf Landesebene nicht nur kirchliche Interessen. Wir nehmen immer auch das Gemeinwohl in den Blick – gerade in einer zunehmend säkularen und pluralen Gesellschaft. Das unterscheidet uns von bloßen Interessenvertretern oder „Lobbyisten“. Wir sind kein Verein – gegründet und tätig zum Nutzen und Frommen seiner Mitglieder. Als Kirchen leiten wir unsere Aufgabe aus dem Auftrag Jesu Christi ab, sein Wort zu verkündigen. Damit ist im Grunde schon alles gesagt: das Eintreten für die Schwachen, die ihre Interessen nicht selbst wahrnehmen können; das Engagement für den Frieden, das Einstehen für die Bewahrung der Schöpfung und der Einsatz für soziale Gerechtigkeit. Wer dieses „Programm“ mit den Zielsetzungen anderer Interessenvertretungen vergleicht, braucht sich des, wenn man so will, „Lobbyismus“ der Kirche – denn das heißt so verstanden doch nichts anderes als: des Evangeliums (Röm 1,16) – nicht zu schämen.
So bemühen wir uns, mit allen im Gespräch zu sein. Neben den Kontakten zu Menschen anderer Religionen oder auch areligiösen Menschen ist uns eine gute ökumenische Zusammenarbeit auch im Interesse der Menschen in Politik und Verwaltung wichtig, für die wir auch unseren Dienst tun. Denn neben der Politikberatung gehört die Seelsorge zu unseren Aufgaben. Besonderer Ausdruck dessen sind unsere monatlichen Landtagsandachten in der jeweiligen Plenarwoche. Dort feiern wir in ökumenischer Verbundenheit im Raum der Stille des Landtages mit Landtagsabgeordneten Gottesdienst. So machen wir gemeinsam deutlich, dass gute politische Verantwortung um die Existenz einer Dimension weiß, die die innerweltliche Dimension übersteigt.
Antonius Hamers, geboren 1969 in Lennestadt, Priester des Bistums Münster, Direktor des Katholischen Büros Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf, der Vertretung der fünf (Erz-)Bistümer Köln, Paderborn, Münster, Aachen und Essen.
Thomas Weckelmann, geboren 1973 in Wuppertal, Kirchenrat, Beauftragter der Evangelischen Kirchen bei Landtag und Landesregierung von Nordrhein-Westfalen – Leiter des Evangelischen Büros NRW, Düsseldorf.