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Konfliktmanagement statt Konfliktlösung

Russland, Deutschland und die Europäische Union

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Das deutsch-russische Verhältnis befindet sich in einer Sackgasse, ein Ausweg ist derzeit nicht in Sicht, auch vom „gemeinsamen Haus Europa“ hat man schon länger nichts mehr gehört. Zu unterschiedlich sind die aktuellen Interessen. Narrative und Problemanalysen widersprechen sich zum Teil diametral. Gesprächsformate wie der Petersburger Dialog gleichen oft Monologen, in denen aneinander vorbeikommuniziert wird. Der Honeymoon der 1980erund frühen 1990er-Jahre ist vorbei, als man Russland auf dem Weg nach Westen sah und eine Modernisierungspartnerschaft für ein attraktives Angebot hielt.

Verschiedene Meilensteine markieren die gegenseitige Entfremdung, ein weiter Weg war es von der Putin-Rede 2001 vor dem Deutschen Bundestag bis zu seinen Einlassungen 2007 bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Es folgten der Krieg in Georgien, die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die Aggression in der Ostukraine sowie das russische Engagement in Syrien an der Seite des Assad-Regimes. Schwer wiegen auch die Einschränkungen für die russische Zivilgesellschaft, die Charakterisierung von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) als „ausländische Agenten“, eine limitierte Meinungs- und Pressefreiheit bis hin zu unaufgeklärten Morden an Journalisten und Oppositionellen.

Russland dokumentiert: Man will Großmacht sein, über eine eigene exklusive Einflusssphäre verfügen, höchstens mit den USA und vielleicht mit China auf Augenhöhe verhandeln, nicht aber mit der Europäischen Union (EU), deren schiere Existenz als Bedrohung für das eigene Gesellschaftsmodell erachtet wird. Ein neues Jalta wäre sicher etwas, mit dem sich die russische Führung anfreunden könnte. Mit westlichen Vorstellungen staatlicher Souveränität und Selbstbestimmung inklusive der freien Entscheidung, zu welchem Bündnissystem man gehören möchte, ist das nicht vereinbar. Wäre, so fragt man sich, unter heutigen Bedingungen eine deutsche Wiedervereinigung und die Entlassung der Staaten Mittel- und Osteuropas aus dem russischen Imperium denkbar?

Folgen des Hitler-Stalin-Pakts

Heute unternimmt die russische Führung alles, um die EU zu unterminieren. Die Art, wie staatliche russische Medien zu massiver Desinformation im Westen beitragen, ist umfangreich dokumentiert: Scheitert man schon darin, selbst Vertrauen zu gewinnen, mag es immerhin gelingen, auch das Vertrauen in alle und alles andere zu zerstören. Dass inzwischen ganze Troll-Armeen unterwegs sind, um in sozialen Medien das Meinungsklima zu vergiften, gehört dabei zum Arsenal, nicht nur in Europa, wie man inzwischen weiß.

„Russland verfolgt eine einfache und klare Strategie“, so der Think Tank CSIS: „Es nutzt die inhärenten Schwächen im System der westlichen kapitalistischen Demokratien aus. Indem es das System von innen heraus durchdringt und instrumentalisiert – beispielsweise, indem es sich die lockeren Offenlegungsvorschriften für Eigentum zunutze macht, Korruptionsvorwürfen nicht nachgeht, die Arbeit einer unabhängigen Presse und Justiz unterbindet, keine Transparenz bei der Parteienfinanzierung und Zulassung von NGOs schafft sowie Medienkanälen erlaubt, fehlerhafte Informationen zu verbreiten, und so die Verwirrung und Desillusionierung der Öffentlichkeit fördert – gelingt es Russland, die demokratischen Institutionen in Europa durch seine Einflussnahme zu schwächen.“ In einigen EU-Ländern scheint diese Strategie bereits erfolgreich gewesen zu sein.

Deutschland wird innerhalb Europas nach wie vor als besonderer Partner gesehen, allerdings als einer, der sich gegebenenfalls für eigene Interessen instrumentalisieren lässt. Vergessen wird dabei sowohl auf russischer Seite als auch von manchen Partei- und Wirtschaftsvertretern aus der Bundesrepublik, dass sich seit den Zeiten der Entspannungspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr Fundamentales geändert hat: Mittlerweile liegen zwischen Deutschland und Russland befreundete Staaten und nicht zuletzt solche, die Mitglieder der EU und der NATO sind und die sich von Russland extrem bedroht fühlen. Gerade für sie hat der Zweite Weltkrieg eben nicht mit dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion 1941 begonnen, sondern mit den Folgen des Hitler-Stalin-Paktes 1939.

Niemand sollte erwarten, dass sich Deutschland über die Interessen dieser Staaten hinwegsetzt, um mit Russland erneut alte Sonderwege zu beschreiten. Bedrückend ist, dass dies auch in manchen deutschen Zirkeln ganz rechts und ganz links ebenso ausgeblendet wird wie die Opfer in den bloodlands zwischen heutiger EU und Russland, die viel zu wenig Bestandteil unserer Erinnerungskultur sind. Für die aufrechten Bürgerrechtler in Mittel- und Osteuropa war „Friedenssicherung durch Stabilisierung der bestehenden Herrschaftssysteme“ (Katja Gloger, Fremde Freunde, 2017) schon damals keine akzeptable Alternative. Bitter formulierte der ehemalige tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg: „Russland kann besetzen und erobern, wen oder was es will, in Deutschland wird es immer Leute finden, die dafür Verständnis haben.“ Der beste Weg zu guten Beziehungen mit Deutschland wäre für Russland heute, die Beziehungen mit seinen unmittelbaren Nachbarn in Ordnung zu bringen.

Rüstungsfabriken und Altäre, aber keine Reformen

Für Deutschland ist die Verankerung in der EU zentral für eine friedliche Entwicklung, wirtschaftliche Prosperität und die Möglichkeit, eigenen Werten auch künftig in der Welt Geltung zu verschaffen. Großmächte und solche, die sich so fühlen, verhandeln hingegen lieber mit schwachen bilateralen Partnern und spielen diese bei Bedarf gegeneinander aus. Sie verstehen oft nicht, wie die EU funktioniert und dass in ihr auch kleine Staaten oder sogar Regionen ein gleichberechtigtes Mitspracherecht haben. Das geopolitische Spiel der Großmächte ist mittlerweile auf die Weltbühne zurückgekehrt, auch wenn die europäischen Länder weitgehend verlernt haben, in diesen Kategorien zu denken. „Die Europäische Integration“, schreibt Timothy Snyder in seinem neuesten Buch Der Weg in die Unfreiheit, „hatte lange genug Bestand, um von Europäern für selbstverständlich gehalten zu werden und Resonanz und Macht anderer Politikmodelle vergessen zu lassen. Doch die Geschichte geht immer weiter, und es ergeben sich stets Alternativen.“

Russland seinerseits hat sich vom Weg in die liberale Weltordnung verabschiedet und geht ideologisch eigene Wege. Der russische Ökonom Wladislaw Inosemzev bilanziert: „Seit Ende der achtziger Jahre wurden in Russland weder umfassende Reformprojekte noch weitreichende Zukunftsvisionen entworfen. Das Land orientiert sich weiterhin an der Vergangenheit und nicht an der Zukunft.“

Die Staatsführung inszeniert sich in engem Schulterschluss mit der russisch-orthodoxen Kirche – der Dreiklang Orthodoxie, Autokratie, Nationalität wirkt prägend (Fiona Hill, Clifford G. Gaddy) – erneut als moralische Reserve der Welt, als Gegenpol zum „dekadenten Westen“ mit seiner Fixierung auf die Rechte sexueller und anderer Minderheiten. Der Kampfbegriff von Gayropa wird in Stellung gebracht, in nationalistischen und xenophoben Parteien des Westens sieht man natürliche Bündnispartner. „Rüstungsfabriken und Altäre, keine Reformen“ ist das, was man nicht nur im Isborsker Klub anstrebt. „Russki Mir“, die russische Welt, ist da, wo Russen und Russischstämmige leben, und überall dort fühlt man sich berechtigt, zu handeln. Denker wie Alexander Dugin hatten ihre Konjunktur, Eurasien gilt als das neue alte Imperium.

Vom Westen fühlt man sich betrogen, sieht die NATO-Osterweiterung als Vertrauensbruch, verweist bei Kritik an eigenen Brüchen des Völkerrechts auf die Interventionen westlicher Staaten in Serbien und im Irak, kritisiert eine Überdehnung des UN-Mandats im Fall Libyen. In der eigenen Bevölkerung kommt die neue Stärke gut an, noch immer profitiert Wladimir Putin vom Stabilisierer-Image nach den chaotischen Jelzin-Jahren. Ebenso ist die Suche nach äußeren Feinden immer noch ein beliebtes Mittel, um nach innen den Schulterschluss hinter den Regierenden zu organisieren.

Furcht vor „regime change“

Die Ukraine ist dabei für Russland in vieler Hinsicht ein Showcase, mit dem man Nachahmer, etwa in Belarus oder im Kaukasus, von zu großer EU-Nähe abschrecken möchte. Das Schlimmste für das eigene autoritäre Gesellschaftsmodell wäre eine prosperierende, freie und demokratische Ukraine, attraktiv und ein Bezugspunkt auch für die russische Bevölkerung. Die Furcht vor „Farbenrevolutionen“ und regime change ist in Moskau sowohl Obsession als auch politischer Kampfbegriff. Da geht man bis zur Christianisierung der Kiewer Rus zurück, um eine mehr als tausendjährige Bindung zu beschreiben und eigene Interventionen zu legitimieren. Auch deshalb birgt die aktuelle Anerkennung einer eigenen autokephalen orthodoxen Kirche der Ukraine durch den Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel erheblichen zusätzlichen Sprengstoff – wenn es dessen überhaupt bedürfte.

Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Jahr 2014 und den Übergriffen in der Ostukraine unternimmt Moskau alles, um das Nachbarland zu destabilisieren: Die momentane Krise im Asowschen Meer ist dafür nur ein weiterer Beweis. Gleichzeitig testet Moskau aus, welche Reaktionen des Westens bei einem immer aggressiveren Kurs zu erwarten sind. Die momentanen Erfahrungen dürften dabei alles andere als abschreckend wirken, auch wenn die EU sich auf die Fortsetzung der bestehenden Sanktionen geeinigt hat und dies eine gewisse Überraschung für den Kreml gewesen sein dürfte.

Mit frozen conflicts lässt sich insgesamt gut Interessenpolitik machen: Da werden Abchasien und Südossetien sowie Transnistrien Faustpfänder gegen eine EU- und NATO-Integration von Georgien und der Moldau, da schürt man den Namensstreit zwischen Mazedonien und Griechenland aus den gleichen Interessen, da darf in Montenegro schon einmal die russische Hand hinter internen Destabilisierungsversuchen vermutet werden. Erklärungen, all diese Konflikte seien nur gemeinsam mit Russland zu lösen, sind natürlich nicht falsch – nur liegt genau diese Lösung offenbar nicht im Interesse Russlands.

Spielt Russland die „chinesische Karte“?

In Russland selbst bleiben Strukturen oft intransparent, die Abhängigkeit von der Rohstoffwirtschaft ist ungebrochen, Rechtssicherheit fehlt vielerorts noch immer, ein Crony-Kapitalismus befreundeter Oligarchen ist kaum ein geeigneter Nährboden für Innovationen. Entsprechend hoch sind Kapitalflucht und der Braindrain junger Talente. Vor diesem Hintergrund sind Projekte wie die Gaspipeline Nordstream II eben nicht nur wirtschaftlich zu bewerten, auch wenn man sich darüber ärgern mag, wie unverhohlen etwa Flüssiggasinteressen aus den USA geopolitisch bemäntelt und wertemäßig verbrämt werden. Natürlich gibt es gemeinsame Wirtschaftsinteressen, viele deutsche Firmen haben in Russland massiv investiert, machen gute Geschäfte, leiden unter den Sanktionen. Allerdings lohnt es, die Bedeutung des Russlandgeschäfts in den Zusammenhang zu stellen und beispielsweise mit dem zu vergleichen, was Deutschland etwa mit Polen umsetzt.

Parallel versucht Russland, die „chinesische Karte“ zu spielen und in einer autoritären Internationale den Ton anzugeben. Problem dabei: Im Verhältnis zu China wird man aus demografischer und wirtschaftlicher Unterlegenheit heraus dauerhaft nur den Juniorpartner abgeben, der russische Ferne Osten bleibt zudem eine Zone, wo man sich mit Blick auf China über dessen Interessen nicht im Klaren sein kann. Im Ringen um Einfluss in Zentralasien hat man, allen Avancen einer Eurasischen Wirtschaftsunion zum Trotz, ebenfalls dauerhaft die schlechteren Karten, der russische Einfluss geht zurück. „Im Gegensatz zu China“, so Manfred Huterer in der Zeitschrift Osteuropa (9–10/2017, S. 109–115), „hat Russland die Vorteile der Globalisierung nicht genutzt.“ Eigentlich ein Grund, ein auskömmliches Miteinander mit Europa höher zu bewerten und etwas in dieses Verhältnis zu investieren.

Aus dem geschilderten Lagebild lässt sich für Deutschland und Europa sowie die gemeinsamen Interessen einiges ableiten. „Eine neue Ostpolitik des Grand Design“, so der langjährige Russland-Beauftragte der Bundesregierung und SPD-Politiker Gernot Erler im Juni 2017, „erscheint im Moment unrealistisch, gefordert ist zunächst eher eine Politik der Deeskalation und Gefahrenminderung.“ Ganz offenbar ist „Konfliktmanagement statt Konfliktlösung“ das Gebot der Stunde, wie auch Liana Fix und Jana Puglierin formulieren (Zeitschrift Internationale Politik, März/April 2017, S. 44–47). Um das aber erfolgreich angehen zu können, gibt es für Deutschland keine Alternative zur festen Verankerung in der NATO und der EU, deren Stärkung das zentrale Anliegen des deutschen Außenhandels bleiben muss. Bei allen aktuellen Zerreißproben innerhalb der Union ist es ermutigend, dass die Mitgliedstaaten bei der Sanktionspolitik weiterhin Einigkeit demonstrieren. Der europäische Pfeiler muss in Sicherheits- und Verteidigungsfragen stärker werden; nur aus einer Position der Stärke heraus lässt sich mit Ländern wie Russland befriedigend verhandeln. „Russland wird unberechenbarer“, meint Christian Neef, der Westen müsse sich darauf auch militärisch einstellen (Aus Politik und Zeitgeschichte, 47–48/2014).

Wandel nur von innen her möglich

Gleichzeitig müssen Felder der Kooperation gesucht werden, allen voran bei der Rüstungskontrolle. Einerseits wirken amerikanische Absichten mit Blick auf die INF- (Intermediate Range Nuclear Forces) und die START-Vereinbarungen (Strategic Arms Reduction Talks) irritierend, unvernünftig sind sie nicht: Es gibt Hinweise auf russische Verletzungen der bestehenden Regelungen; gleichzeitig ist China nicht Teil der Verträge, sollte es aber unbedingt sein. Dies sollte nicht nur den USA, sondern auch den Europäern zu denken geben. Deutschland und Europa sollten alles unternehmen, um die russische Zivilgesellschaft zu stärken und mit ihr im Gespräch zu bleiben. Nicht zuletzt der Jugendaustausch und die Städtepartnerschaften können eine Rolle spielen, um die gegenseitige Entfremdung zumindest nicht größer werden zu lassen – Gespräche über unterschiedliche Perzeptionen, Narrative und ihre Entwicklung sind allemal nützlich. Denn, so der ehemalige Verteidigungsminister Franz Josef Jung in der Neuen Zürcher Zeitung vom 16. September 2017: „Der Wandel wird nur von innen her möglich sein.“

Dialog also, auf allen Ebenen, mit klaren Botschaften, in den Kanälen, die derzeit offenstehen! Er sollte allerdings nicht mit Harmonie und Einverständnis verwechselt werden: Eine stabile Partnerschaft wird es nur dann geben, wenn fundamentale internationale Standards eingehalten werden und alle europäischen Länder auf sichere Grenzen vertrauen können.

Frank Priess, geboren 1957 in Wolfsburg, stellvertretender Leiter, Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusammenarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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