Einen Monat nach der Wahl prägen Koalitionserwägungen die Diskussion. Dabei bietet das Ergebnis auch mit Blick auf die Parteienlandschaft durchaus Neues. Das gilt nicht zuletzt für die beliebten Muster im politikwissenschaftlichen und publizistischen Diskurs: das sichere Ende der Volksparteien, den Gipfelsturm der Grünen, den Aufstieg der kleineren Parteien, ein weiteres Sinken der Wahlbeteiligung, das Nichtwählen als neue demokratische Tugend. All das wurde nicht bestätigt. Viel benutzte Power-Point-Folien müssen jetzt wohl neu geschrieben werden. Allerdings bedeutet das keineswegs bereits eine Trendwende oder gar die Rückkehr zur Selbstverständlichkeit von vierzig Prozent plus x. Dafür ist die Gesellschaft zu vielfältig und politisch zu mobil geworden. Es zeigt nur eines in aller Deutlichkeit: Ergebnisse von vierzig Prozent und mehr sind auch heute möglich, wenn die Haltung einer breiten Wählerschaft in der Mitte angesprochen wird.
Es wird spannend zu sehen, welchen Kurs SPD und Grüne nun einschlagen. Werden sie sich zur Mitte orientieren und das exklusive Miteinander überwinden? Oder setzen sie alles daran, die Hürden für eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei auf Bundesebene zu senken?
Nicht zuletzt geht es jetzt darum, die Prioritäten von Allgemeinwohlbelangen und Parteiinteressen verantwortlich zu setzen. Vielleicht blieb der SPD-Führung parteiintern keine andere Option, doch wirft ihr Vorhaben, die Parteimitglieder über einen Koalitionsvertrag entscheiden zu lassen, mit Sicht auf die repräsentative Demokratie Fragen auf. Schließlich wurden soeben die Abgeordneten des Bundestages vom deutschen Volk gewählt, deren vornehmliche Aufgabe darin liegt, eine stabile Mehrheit als Grundlage für eine handlungsfähige Regierung zu bilden. Eigentlich ist nicht einzusehen, wieso die frisch Gewählten eine „minderwertige“ Legitimation besitzen sollten, wenn sie ein Verhandlungsergebnis ihrer Parteirepräsentanten durch parlamentarisches Handeln bestätigen. So richtig es sein kann, dass sich Parteien nach innen für Mitgliederbeteiligung und nach außen für Bürgerbeteiligung weiter öffnen, so falsch ist es, den Gedanken der Repräsentation des Mehrheitswillens durch Gewählte zu schwächen.
Die CDU kann sich in den Strukturen und Arbeitsformen der Partei darauf konzentrieren, ihr Wahlergebnis auf allen Ebenen in eine noch breitere Einbindung der Bürger umzusetzen. Die neue Qualität an Präsenz durch die Eroberung von 236 von insgesamt 299 Direktmandaten bietet dafür eine starke Basis. Das Wahlergebnis erübrigt keineswegs die Pflege ihres ideellen Kerns, dieser muss von jeder Parteigeneration für ihre Zeit neu ausgesagt werden. Aber das zumindest vorläufige Verstummen abstrakter Debatten um zu wenig oder zu viel Konservatismus, um zu viel oder zu wenig Modernisierung dürfte Energien frei machen für eine konkrete Vitalisierung der inhaltlichen Arbeit in der Partei, ein Desiderat für alle Parteien.
Die inhaltliche Seite der Nachwahldebatten war geprägt von der Steuerpolitik. Das kann nicht überraschen, ist dies doch der Nachhall eines wichtigen und streitigen Wahlkampfthemas. Auch die Europapolitik kann das für sich beanspruchen. Zwar hielten Union, FDP, SPD und Grüne am Bekenntnis zur europäischen Einigung und zur gemeinsamen Währung fest, wohl aber standen zentrale Fragen der Euro-Stabilitätspolitik zur Debatte. So viel zur angeblichen „Langeweile“ und „Inhaltslosigkeit“ des Wahlkampfes!
Föderalismus als Aufgabe der nächsten Legislatur
Aber auch jenseits dieser Top-Themen zeigt die Agenda der beginnenden Legislatur Konturen. So herrscht nahezu Konsens darüber, dass eine weitere Föderalismusreform ansteht. Der Anlass ist eine Finanzverfassung mit Gültigkeitsanspruch über das Auslaufen des Solidarpaktes und die volle Wirksamkeit der Schuldenbremse hinaus. Beides wäre schon komplex genug. Aber darüber hinaus geht es um den langfristigen Bestand einer zentralen Säule unserer staatlichen Ordnung. So, wie es ist, kann es offenkundig nicht bleiben: Der Bund fühlt sich übervorteilt von immer neuen Finanzansprüchen der Länder, die Länder fühlen sich bedrängt durch die aus der Erfüllung solcher Ansprüche resultierenden Gestaltungsansprüche des Bundes, die Kommunen sehen sich durch beide überfordert, die Bürger ärgern sich über Zuständigkeitsgerangel und über unselige Wortschöpfungen wie „Kooperationsverbot“. Im Ergebnis verflüchtigt sich nicht nur Verantwortung, sondern langfristig auch der Föderalismus.
Wenn dauerhaft – nur ein Beispiel – drei Viertel der Bevölkerung eine Bundeszuständigkeit für Bildung wollen, dann führt das zu einer schleichenden Delegitimierung der föderalen Ordnung, die das Verfassungsrecht allein nicht aufhalten kann. Daran sollte niemandem gelegen sein, der die Architektur des Grundgesetzes bewahren will. Eine große Föderalismusreform muss deshalb mit einer an den Erfordernissen der Zeit orientierten Aufgabenkritik beginnen: Was sind die großen Ziele, die Länder und Bund nur gemeinsam erreichen können? Was kann zu mehr gesamtstaatlicher Verantwortung der Länder beitragen und wo bedarf es einer veränderten Rollenverteilung? Wie kann der spürbar gewachsenen Bedeutung der Kommunen, etwa in der Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik, Rechnung getragen werden? Eine Neuregelung der Finanzbeziehungen wird sich aus all dem nicht rechnerisch ergeben; das zu glauben, wäre angesichts der manifesten und berechtigten Interessen sicher naiv. Aber diese Debatte über die Ziele, Aufgaben und Verantwortungen zu beginnen, wäre ein Gewinn.
Dass diese Frage kein Glasperlenspiel ist, zeigt sich etwa beim Blick auf die Herausforderungen, die Deutschland bei Wachstum und Innovation, aber auch als Wissenschafts- und Kulturnation zu gewärtigen hat. Es gehört zu den Erträgen der vergangenen Jahre, dass die Länder und der Bund in der Lage gewesen sind, in der Wissenschaftsförderung die Differenz höher zu bewerten als die Gleichheit. Nur so war es in Deutschland möglich, mit der Exzellenzinitiative und anderen Instrumenten eine neue Dynamik zu erzeugen und einen Sprung innerhalb der international sichtbaren Spitzenklasse der Forschung zu machen. Das mag politisch und publizistisch nur begrenzt Rendite versprechen. Volkswirtschaftlich, aber auch gesellschaftlich und kulturell ist die Fortsetzung und Weiterentwicklung dieses Kurses von ausschlaggebender Bedeutung. Weiterentwicklung erfordert in diesem Bereich aber, Exzellenzkriterien noch stärker zu gewichten und starre Verteilungsschlüssel für die Finanzen noch stärker hintanzustellen. Viel wäre gewonnen, wenn sich in den Ländern das Bewusstsein weiter festigte, dass Spitzenforschung nicht nur dann im eigenen Interesse liegt, wenn der Forschungsstandort im eigenen Land beheimatet ist. All das erfordert eine veränderte Rolle des Bundes; die entsprechende Verfassungsänderung liegt ja schon geraume Zeit auf dem Tisch und harrt der erforderlichen Mehrheit. Ebenso wichtig aber ist, in diesem und in anderen Zusammenhängen über eine neue Qualität an gesamtstaatlicher Verantwortung der Länder zu sprechen. Gelingt das nicht, wird über kurz oder lang der Druck für „mehr Bund“ wachsen. Das wäre ein Verlust an gewaltenteilender Demokratie. In der neuen Legislatur sollte man dem vorbeugen.
Michael Thielen, geboren 1959 in Prüm/Eifel, Generalsekretär der Konrad-Adenauer-Stiftung.