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Drei Thesen zu Israel und dem Westen

Die Beiträge dieser Unterrubrik haben teils rein dokumentarischen Charakter.

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These: Israel verkörpert den Westen stärker als die meisten Länder der westlichen Welt

Israel, seit 2010 Mitglied der OECD, ist ein moderner demokratischer Staat, ein Land voll jugendlicher Energie. Als Fluchtziel für viele Opfer schwerster Menschenrechtsverletzungen in Afrika besteht es den Statue of Liberty-Test besser als manches westliche Land, das auf Asylsuchende keine Anziehungskraft ausübt.

Der Westen wurde zu dem, was er heute ist, durch den Geist kritischer Rationalität, durch eine Kultur der Selbstkritik und der Selbstkorrektur. Diese Kultur ist in Israel lebendiger als anderswo. Kontroversen werden nicht als Störung gesellschaftlicher Harmonie, sondern als Lebenselixier einer offenen Gesellschaft empfunden – eine Grundhaltung, die besonders tiefe Wurzeln in der rabbinischen Debattentradition hat.

Hinzu kommt die für das Judentum charakteristische Überzeugung, dass der Mensch nicht willenloses Objekt des Schicksals oder finsterer Verschwörungen ist, sondern persönliche Verantwortung trägt für die Welt, in der er lebt. Die Intensität individueller und kollektiver Gewissenserforschung zwischen dem jüdischen Neujahrsfest (Rosch HaSchanah) und dem Versöhnungstag (Jom Kippur) ist einzigartig. Kurzum, Israel hat mehr Potenzial als die meisten anderen Länder, sich in vergleichsweise kurzer Zeit neu zu erfinden.

Israel ist ein Einwanderungsland – polyglott, multikulturell und integrativ. Intensive Vernetzung mit der jüdischen Diaspora weltweit ermöglicht es den Israelis, Patriotismus und Weltbürgertum problemlos miteinander zu verbinden. So bietet Israel dem Universalismus westlichen Denkens einen fruchtbaren Boden.

Der innerisraelische Pluralismus beweist, dass „Einheit in Vielfalt“ keine hohle Phrase ist. Dagegen wird in der Europäischen Union (EU) das ursprüngliche Liberalisierung- vom paternalistischen Homogenisierungsparadigma abgelöst. Natürlich erzeugt die ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt in Israel enorme gesellschaftliche Spannungen – aber sie verhindert nicht, dass Israel vom World Happiness Report 2013 des UN Sustainable Development Solutions Network sehr hoch eingestuft wird: auf Platz 11 von 156; Deutschland schafft es dagegen nur auf Platz 26.

Aus israelischer Sicht sind europäische Debatten über die Zulässigkeit des Schächtens von Tieren oder der Beschneidung Neugeborener ein Symptom dafür, dass das (elementar zum Westen gehörende) Recht auf Gruppendifferenz in einer zunehmend homogenisierten EU als Störfaktor gilt. So kehre, glauben viele Israelis, durch die Hintertür eine der zentralen Thesen des Antisemitismus in die europäischen Diskurse zurück – dass nämlich „die Juden“ einen „Staat im Staate“ bildeten, in dem andere Regeln gälten als für die Mehrheitsgesellschaft.

In der Vergangenheit war der Umgang mit der jüdischen Minderheit der Lackmustest für die Liberalität und Humanität einer Gesellschaft. Aus israelischer Sicht fällt Europa immer häufiger durch diese Prüfung. Jede Polizeistreife vor einem streng gesicherten jüdischen Gemeindezentrum zeigt, weshalb es Israel als jüdischen Staat, als Nationalstaat des jüdischen Volkes geben muss.

Der Westen ist nicht bloß eine platonische Gemeinschaft im Luftreich abstrakter Werte und Ideen. Er materialisiert sich durch gemeinsames Handeln, nicht zuletzt durch Wachsamkeit und Wehrhaftigkeit gegenüber Feinden. Insofern können Neutralismus und „Ohne mich“-Pazifismus deutliche Symptome der Distanz zum Westen sein. Israel sind solche Haltungen fremd. Es macht die Welt – nicht allein den Westen – immer wieder auf die hegemonialen Bestrebungen des Iran aufmerksam und hat auf diese Weise bewirkt, dass der Bau einer iranischen Nuklearwaffe bislang verhindert werden konnte. Übrigens teilen alle sunnitischen Staaten der Region Israels Position zum Iran; sie haben jedoch nichts dagegen, dass der ungeliebte zionistische Nachbar auch für sie die Kastanien aus dem Feuer holt.

 

Antithese: Israel entfernt sich immer weiter vom Westen

Viele meinen, Israel werde „immer orientalischer“ – und, seit der Zuwanderung von rund einer Million Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion, „immer russischer“. Richtig daran ist, dass die ursprünglich von Aschkenasim (vor allem Mittel- und Osteuropäern) geprägte säkular-sozialdemokratische Leitkultur des Landes sich seit dem Wahlsieg von Menachem Begin 1977 auf dem Rückzug – und mittlerweile in einer wohl dauerhaften Minderheitenposition – befindet.

Ein Indikator dafür ist das Zahlenverhältnis zwischen Aschkenasim und Mizrachim (aus Nordafrika und dem Nahen Osten stammenden Juden). Laut dem Demokratie-Index 2013 des Israel Democracy Institute definieren sich heute rund 22 Prozent der israelischen Juden als Aschkenasim und rund 49 Prozent als Mizrachim. Während in den meisten Ländern des Westens die Säkularisierung voranschreitet, gewinnt Religion in Israel immer weiter an Bedeutung. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Israel kaum von seinen arabischen Nachbarn. Das hat Konsequenzen für grundlegende Fragen des politischen Selbstverständnisses.

Israel definiert sich als „jüdischer und demokratischer“ Staat. Seit Jahren fragt das Israel Democracy Institute, welches dieser beiden Elemente wichtiger sei. 2013 antworteten 37 Prozent der jüdischen Befragten, beides sei ihnen gleich wichtig; rund 32 Prozent gaben dem Merkmal „jüdisch“, rund 29 Prozent dem Merkmal „demokratisch“ den Vorzug. Bemerkenswert sind die vom Durchschnitt abweichenden Zahlen für das wachsende ultra- und nationalreligiöse Bevölkerungssegment: Rund 73 Prozent der Ultraorthodoxen und rund 65 Prozent der Nationalreligiösen finden das Merkmal „jüdisch“ wichtiger als das Merkmal „demokratisch“.

Sollte die Zwei-Staaten-Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt scheitern, stünde Israel schon in wenigen Jahren ganz konkret vor der Wahl, entweder als jüdischer Staat oder als demokratischer Staat seinen Weg fortzusetzen – beides gleichzeitig wäre dann nicht mehr zu haben. Grund dafür ist die demografische Entwicklung, die laut einer viel beachteten Studie des Jerusalemer Jewish People Policy Institute von 2011 dazu führt, dass in dem von Israel beherrschten Raum zwischen Jordan und Mittelmeer die Palästinenser schon bald in der Mehrheit sein werden. Auf israelischem Staatsgebiet – also diesseits der Waffenstillstandslinie von 1949 – gibt es dagegen eine deutliche und stabile jüdische Dreiviertelmehrheit.

Von den meisten westlichen Ländern unterscheidet sich Israel auch im Blick auf die recht lockeren Standards politischer Korrektheit. Das kann etwas erfrischend Unverkrampftes haben. Problematisch ist allerdings, dass Politiker, die sich radikalnationalistisch, fremdenfeindlich und diskriminierend äußern, keiner gesellschaftlichen Ächtung anheimfallen. Beunruhigend ist auch die relative Gleichgültigkeit, mit der große Teile der politischen Klasse auf Vandalismus- und Gewaltakte rechtsradikaler Siedlergruppen reagieren.

Ein israelisches Wegdriften vom Westen würde auf Dauer nicht dadurch verhindert werden, dass die ökonomischen Bindungen Israels an Europa und Nordamerika nach wie vor sehr stark sind. Israel, dessen Bevölkerungszahl gewissermaßen der statistischen Fehlermarge bei einer chinesischen Volkszählung entspricht, genießt in Asien hohes Ansehen als Großmacht in den Naturwissenschaften, der Informations- und Biotechnologie, der Entwicklung neuartiger Waffensysteme sowie High-Tech-Verfahren, etwa der landwirtschaftlichen Bewässerung oder der Meerwasserentsalzung. Obwohl es noch nicht über nennenswerte Bodenschätze verfügt (erst vor Kurzem wurden große Erdgasvorkommen vor seiner Küste entdeckt), behauptet es sich dank des Erfindungsreichtums seiner Menschen glänzend in der globalen Ökonomie.

Unter Präsident Barack Obama haben die Vereinigten Staaten viel in Israel von ihrem Ansehen als verlässlicher Verbündeter verloren, und Europa gilt sicherheits- und verteidigungspolitisch als quantité négligeable. Ist es da nicht vernünftig, ganz auf die eigenen Stärken zu setzen und Partner zu suchen, die einen nicht ständig mit westlicher Menschenrechtsrhetorik nerven?

 

Synthese: Israel ist eine Brücke zwischen West und Ost

Was stimmt nun? Beides: Israel ist ein kleiner, aber besonders wichtiger Teil des Westens – und es ist ein kleiner, aber besonders wichtiger Teil der Region Nahost-Nordafrika. Die Beilegung des israelisch-palästinensischen Konflikts durch eine Zwei-Staaten-Lösung ist auch deshalb so wünschenswert, weil sie den Weg zu einer Normalisierung der Beziehungen Israels zu seinen arabischen Nachbarn – und damit zur Integration Israels in die Region – ebnen würde.

Israels Blick geht nach Europa und Amerika – und zugleich nach Asien. Schon heute treffen sich in Israel Okzident und Orient. Das gilt nicht nur für aschkenasische und mizrachische Juden, sondern auch für die Westkirchen einerseits und die orthodoxen und altorientalischen Kirchen andererseits.

Israel ist ein gesellschaftliches und kulturelles Laboratorium, in dem neue Formen des Zusammenlebens von West und Ost erprobt werden, zum Vorteil beider Seiten. Hier wächst eine junge Generation heran, die den alten kulturellen Gegensatz zwischen westlichen und orientalischen Juden hinter sich lässt und mit großer Weltgewandtheit die künftige Rolle Israels als Global Player verbürgt. Dieses kosmopolitische Israel ist ein attraktiver Partner für viele – und der Westen hat allen Grund, auf dieses recht eigensinnige, aber überaus wertvolle Familienmitglied stolz zu sein.

 

Michael Mertes, geboren 1953 in Bonn, Leiter des Auslandsbüros Israel des Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Jerusalem.

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