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Wie eine islamistische Jugendbewegung Staat, Gesellschaft und Medien herausfordert

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Gruppen wie „Muslim Interaktiv“ und „Generation Islam“ drängen seit einigen Monaten mit islamistisch-identitärer Pose in den öffentlichen Raum, nutzen die Eskalation im Nahen Osten zur Stimmungsmache und preisen das Kalifat als Lösung aller Probleme. Mit provokanten Plakaten, markigen Sprüchen und martialischem Auftreten sorgen Aufmärsche wie in Essen und Hamburg für ein immenses Medienecho. Gleichzeitig haben sie den Blick auf eine transnationale islamistische Bewegung gelenkt, die bisher allenfalls Fachleuten ein Begriff war: auf die sogenannte Hizb ut-Tahrir (HuT). Seit Mitte der 1950er-Jahre kämpft sie weltweit für das Kalifat und handelte sich damit in vielen islamischen Ländern ein Verbot ein. Auch in Deutschland ist die Gruppe seit 2003 mit einem Betätigungsverbot belegt. Was steckt hinter dem Kult ums Kalifat?

Die Hizb ut-Tahrir (arabisch für „Partei der Befreiung“) entstand in den frühen 1950er-Jahren – zu einer Zeit, als die Staatsgründung Israels und der Rückzug der Kolonialmächte den Nahen Osten prägten. Der aus der Gegend von Haifa stammende Rechtsgelehrte und Lehrer Taqī ad-Dīn an-Nabhānī (1909–1977) legte 1953 die Schrift Das System des Islam vor, in der er seine Vision einer umfassenden islamischen Ordnung skizzierte. In ihr finden sich viele islamistische Standardpositionen, etwa die Ablehnung von Demokratie, von individuellen Freiheiten und Grundrechten sowie ein grundlegender Hass auf den Westen und auf die Juden. In einem wichtigen Punkt unterscheidet sich Nabhānī von der Muslimbruderschaft, die die damals junge islamistische Szene dominierte. Anders als deren Vordenker wollte Nabhānī den islamischen Staat nicht durch eine sozialreformerische Umgestaltung der Gesellschaft von unten verwirklichen. Eine umfassende Islamisierung sollte vielmehr von oben durch den Staat vorangetrieben werden. Und dieser Staat müsse in Anlehnung an frühislamische Vorstellungen ein Kalifat sein, an dessen Spitze als legitimer Nachfolger des Propheten – ein Kalif – stehe.

Die auf Nabhānī zurückgehende „Partei der Befreiung“ zielte auf weit mehr als allein die „Befreiung Palästinas von Israel“, es ging ihr um die Befreiung aller Muslime von „westlicher und kolonialer Unterdrückung“ weltweit. Ähnlich wie die Ideologie der Muslimbruderschaft breiteten sich Nabhānīs Ideen in kurzer Zeit global aus. Überall im islamischen Raum, aber auch in der westlichen Welt entstanden ab den 1960er-Jahren Gruppen und Akteure, die sich – zum Teil in Anknüpfung, zum Teil in Konkurrenz zu anderen Kalifats-Bewegungen und Sondergruppen – für die politische Einheit aller islamischen Länder unter der Herrschaft eines Prophetennachfolgers starkmachten. Anhänger fanden sie vor allem in Südost- und Zentralasien. Aufgrund ihres klar auf einen politischen Umsturz zielenden Herrschaftsanspruches wurde die „Partei der Befreiung“ in den meisten muslimischen Ländern verboten.


Kalifat auch für Deutschland?

Auch in Deutschland finden sich frühzeitig erste Spuren der HuT. Öffentlich sichtbar wurde sie jedoch erst ab den 1990er-Jahren. Vor allem an Universitäten begannen damals einzelne HuT-Akteure, muslimische Gruppierungen zu unterwandern und Kampagnen für vermeintlich islamische Anliegen zu organisieren. Nach dem 11. September 2001 radikalisierten sich diese Gruppierungen und traten aggressiver in die Öffentlichkeit. Damals wurden auch die für viele überraschenden Verbindungen ins rechtsradikale Milieu offenkundig. Brückennarrative und Bindeglieder waren dieselben wie heute: Antiamerikanismus und Antisemitismus.

Der offenkundige Israelhass und die Befürwortung von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele führten Anfang 2003 zu einem Betätigungsverbot der Gruppe in Deutschland. HuT-Vertreter bemühten sich danach um eine juristische Anfechtung des Verbots, scheiterten damit allerdings 2012 vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Infolge des letztinstanzlich bestätigten Verbots kam es zu einem Strategiewechsel. An die Stelle der Bemühungen um eine Re-Legalisierung traten Versuche der Etablierung legaler Tarnorganisationen. Ab 2014 wurden eine Reihe von HuT-Nachfolgern mit jeweils unterschiedlichen regionalen und funktionalen Schwerpunkten gegründet. Von diesen Neugründungen haben sich vor allem die Gruppen „Realität Islam“, „Generation Islam“ und „Muslim Interaktiv“ behauptet.

Während Praktiken der Tarnung und Unterwanderung auch bei diesen HuT-Nachfolgern prägend blieben, änderten sich Themen und Formen der Ansprache. Anders als die nach wie vor erfolgreichen salafistischen Prediger präsentieren sich die HuT-Nachfolger von Beginn an moderner und aktivistischer. Nicht mehr die Errichtung eines Kalifats steht im Mittelpunkt, sondern aktuelle soziale und politische Fragen sowie Kampagnen in den Medien. Wie das funktioniert, zeigte erstmals die Onlinekampagne von „Generation Islam“ gegen ein angeblich bevorstehendes Kopftuchverbot an Schulen im Jahr 2018. Die aufwendig vorbereitete und organisierte Aktion sammelte mehr als 170.000 Unterschriften. Viele der Unterzeichner waren sich vermutlich nicht darüber im Klaren, dass eine obskure Kalifats-Bewegung hinter der Aktion stand. Die Kampagne lieferte die Vorlage für nachfolgende Aktivitäten des Islamismus im Internet. Im Februar 2020 instrumentalisierte die Gruppe „Realität Islam“ Maßnahmen zur Unterstützung der Opfer der rassistischen Morde von Hanau, und im Oktober 2020 legte die „Generation Islam“ mit einem Twitter-Sturm gegen die vorgebliche „Assimilierungspolitik“ des französischen Präsidenten Emmanuel Macron nach.


Selbstinszenierung als Opfer und Täter

Die erst 2020 gegründete Hamburger Gruppe „Muslim Interaktiv“ setzte einen neuen Akzent, indem sie den Online-Islamismus auf die Straße brachte. Nach ersten kleineren und flashmobartigen Aktionen organisierte „Muslim Interaktiv“ im Februar 2023 eine Demonstration gegen Koranverbrennungen, auf der erstmals jener Block islamistischer Aktivisten in Erscheinung trat, der im April und Mai 2024 erneut in Hamburg auf die Straße ging. Zwischenzeitlich hatte auch die „Generation Islam“ den Gaza-Krieg für eigene Zwecke genutzt und am 3. November 2023 mehr als 3.000 Menschen für eine Kundgebung in Essen mobilisiert. Sowohl hier als auch in Hamburg zeigte sich das einheitliche Muster dieses Kalifats-Aktivismus: gezielte Provokation, stramme Organisation, einheitliches Auftreten und ein klares politisches Programm, unterfüttert von einem massiven Auftritt bei TikTok – der Plattform der Wahl von Radikalen und Extremisten jeglicher Couleur.

Bemerkenswert am Islamismus 2.0 der Kalifats-Anhänger und anderer Gruppen sind Auftreten und Ansprache. Waren es bislang bärtige Prediger, die mit frommen Phrasen eine korrekte islamische Lebensweise verkündeten und nebenher Scharia und Dschihad priesen, tritt Religion in der öffentlichen Selbstdarstellung immer mehr in den Hintergrund. Statt als Gläubige präsentieren sich die neuen Islamisten immer öfter als Opfer und Täter in einer „postmigrantischen Gesellschaft“.

Vor allem die Inszenierung als Opfer ist prägend. Die Demonstrationen in Hamburg am 27. April und 11. Mai 2024 adressierten über das Agitationsthema „Nahostkonflikt“ das Narrativ einer Meinungsdiktatur in Deutschland. Medien und Politik würden gegen „Muslim Interaktiv“ und allgemein gegen Muslime und Migranten sowie ihre legitimen Forderungen hetzen, „statt sich mit uns inhaltlich auseinanderzusetzen“. Auf zentral produzierten und verteilten Bannern werden „Meinungsvielfalt“, „Freiheit für Gaza“ und ein „Nein zur kolonialen Ordnung“ gefordert, immer begleitet vom Statement „Kalifat ist die Lösung“. Themen und Rhetorik sind wenig islamisch, knüpfen aber umso mehr an Diskriminierungserfahrungen und -narrative migrantischer Jugendlicher an. Populäre und (vermeintlich) progressive Diskurse werden imitiert, emotionalisiert und instrumentalisiert und im Trommelfeuer von TikTok-Videos zu einfachen Botschaften reduziert: Die deutsche Gesellschaft will euch nicht! Passt euch nicht an. Macht nicht mit!

Aber auch der Täterhabitus der HuT-Nachfolger und anderer Zeitgeist-Islamisten ist bemerkenswert. Die Frontmänner von „Muslim Interaktiv“, „Realität Islam“ und „Generation Islam“ inszenieren sich nicht als religiöse Autoritäten, sondern als Macher und Macker sowie als popkulturelle Führer einer migrantisch-identitären Jugendbewegung. Trendige Klamotten, Gangsterpose, Rapperhabitus, das Protzen mit Muscle-Cars und Kampfsportkörpern gehören zum Image. Die Ansprache ist selbstbewusst, chauvinistisch und subkulturell. Die Feinde sind Medien, Demokratie, Amerika, Schwächlinge, Homosexuelle und natürlich Israel. Nicht Anpassung, sondern Abgrenzung lautet die Botschaft.


Strategie der Eindämmung

Die Rede vom Kalifat und das Schwenken von Fahnen im Look von Terrorgruppen dienen vor allem als Trigger und Provokation – und sie generieren Bilder für die eigene Onlinepropaganda. Kein Wunder, dass die Reaktionen auf die Demonstrationen von Essen und Hamburg beachtlich waren. Selbst international berichteten Medien breit über die kleine Hamburger Kalifats-Truppe. „Kalifats-Experten“ waren plötzlich heiß begehrt und entsprechend inflationär verfügbar. Der tatsächlichen Bedeutung der HuT-Gruppen innerhalb des islamistischen Spektrums in Deutschland entspricht dies nicht wirklich. „Muslim Interaktiv“, „Realität Islam“ und „Generation Islam“ haben zwar Zulauf, die Gesamtzahl ihrer Unterstützer und selbst die ihrer Follower in den sozialen Medien ist jedoch nach wie vor überschaubar. Auch eine Ausweitung der Aktivitäten über die bekannten Zentren in Hamburg, im Ruhrgebiet und im Frankfurter Raum ist bislang nicht erkennbar.

Harmlos sind diese Gruppierungen dennoch nicht. Die gruselige Faszination für die Provokationen der Islam-Identitären auf deutschen Straßen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um Tarnorganisationen einer verfassungsfeindlichen und nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen islamischen Staaten verbotenen Bewegung und Ideologie handelt. Ablehnung von verfassungsmäßiger Ordnung und gesellschaftlicher Teilhabe, offener Antisemitismus, der Ruf nach Regimewechseln und verklausuliert auch nach Gewalt machen die HuT und ihre Tarnorganisationen zur Gefahr für Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der Verfassungsschutzbericht 2023 weist zudem darauf hin, dass die von den HuT-Ablegern besetzten Themen im Rekrutierungsprozess gewaltbereiter islamistischer Organisationen eine wichtige Rolle spielen.

Nach den Provokationen von Essen und Hamburg kamen sofort Verbotsforderungen auf, gefolgt von einer eigenartigen Diskussion, wie und wo Rufe nach dem Kalifat strafrechtlich relevant seien – eigenartig deshalb, weil die HuT (und ihre Nachfolgeorganisationen) in Deutschland längst verboten sind und islamistische Ideologien letztendlich immer eine Veränderung globaler Herrschaftsverhältnisse vorsehen. Nicht Empörungen und Detaildebatten versprechen deshalb Abhilfe, sondern unaufgeregtes Handeln und eine breite Strategie der Eindämmung.

Vereins- und Demonstrationsverbote sind dafür unumgängliche Elemente. Allerdings lassen sich informelle Netzwerke und virale Erzählungen nicht verbieten. Was heute als „Muslim Interaktiv“ und „Generation Islam“ verboten wird, taucht morgen unter anderem Namen wieder auf. Mindestens ebenso wichtig im Kampf gegen die HuT sind deshalb das Wissen über ideologische Hintergründe und Zusammenhänge und über personelle Verflechtungen. Mehr Forschung, mehr internationale Zusammenarbeit und gezieltere staatliche Straf- und Exekutivmaßnahmen gegen Organisationen und Einzelpersonen sind der richtige Weg im Kampf gegen den Kult ums Kalifat.


Andreas Jacobs, geboren 1969 in Kleve, Leiter Abteilung Gesellschaftlicher Zusammenhalt und Stellv. Leiter der Hauptabteilung Analyse und Beratung, Konrad-Adenauer-Stiftung.

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