Die „Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“. So heißt es in Artikel 21 Absatz 1 des Grundgesetzes. Das Grundgesetz erkennt die politischen Parteien damit als eine verfassungsrechtliche Institution an. In der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland bilden sie damit ein wichtiges Zwischenglied zwischen Bürgern und Staat. In vielen Ländern lässt sich beobachten, dass es demokratischen Parteien schwerfällt, ihre wichtigen Funktionen zu erfüllen: die Repräsentation der unterschiedlichen Meinungen in einer Gesellschaft im politischen Wettbewerb, die Formulierung politischer Programme, die Präsentation von Kandidaten bei Wahlen und die Besetzung politischer Ämter. Vielerorts sind die Menschen enttäuscht darüber, wie die Parteien diese Funktionen ausüben, und sie schenken ihnen kein Vertrauen mehr. Deutschland schneidet diesbezüglich verhältnismäßig gut ab, doch auch hier überwiegt das Misstrauen.
Nach einer Umfrage des Statistikamts der Europäischen Union (EU) haben im Frühjahr 2021 hierzulande 58 Prozent der Befragten den Parteien eher misstraut, aber immerhin 37 Prozent eher vertraut. In den meisten anderen EU-Mitgliedsländern ist das Misstrauen deutlich höher. Noch stärker ist das Misstrauen gegenüber den politischen Parteien in den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. In vielen dieser Länder sind die Parteien maßgeblich verantwortlich für den teils desolaten Zustand des politischen Systems. Wo sie durch Misswirtschaft und Korruption die Erwartungen auf eine gute Regierungsführung enttäuschen, wenden sich die Menschen Populisten zu, die die Demokratien von innen zerstören. Das hat dazu beigetragen, dass gegenwärtig vielerorts der Zerfall demokratischer Strukturen festzustellen ist.
Doch nicht nur in den „jungen“, sondern auch in vielen scheinbar „etablierten“ Demokratien offenbaren die sie mittragenden Parteien Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung ihrer grundlegenden Funktionen. Auch in Europa verlieren ehemals starke Parteien an gesellschaftlichem Rückhalt und werden von populistischen Gruppierungen herausgefordert. Das ist nicht zuletzt in Deutschland der Fall, wo SPD und CDU/CSU zusammen nicht einmal mehr fünfzig Prozent der Wählerstimmen erhalten, nachdem sie jahrzehntelang einen Anteil von etwa achtzig Prozent erreichten. Zwar gab es nach der Bundestagswahl am 26. September 2021 rein rechnerisch fünf Koalitionsoptionen (Schwarz-Rot-Grün, Schwarz-Rot-Gelb, Ampel-Koalition, Jamaika-Koalition und Große Koalition), politisch war eine Regierungsbildung zu dieser Zeit allerdings nur unter Beteiligung von drei Parteien möglich. In den Bundesländern gibt es schon länger ähnliche Entwicklungen – in einigen ist die Herausforderung der „etablierten“ Parteien durch die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) unverkennbar.
Zersplitterung der Parteiensysteme
Warum fällt es den Parteien zunehmend schwer, eine breite Unterstützung zu mobilisieren und die Demokratie zu verteidigen? Ein wesentlicher Grund dafür liegt in der Entwicklung der modernen Gesellschaften, die heute vielfältiger und „bunter“ sind als früher. Den Parteien fällt es schwer, ein einheitliches politisches Angebot für die Bandbreite von Meinungen und Lebensformen zu formulieren. Ihre Repräsentativität leidet darunter, denn sie sprechen jeweils nur noch für einen kleiner gewordenen Anteil der Bevölkerung. Weder sind die gesellschaftlichen Gruppen und Schichten noch existent, zu denen einzelne Parteien früher eine enge Verbindung unterhielten, noch empfinden viele Wähler heute eine besondere Bindung zu einer bestimmten Partei. Die Volksparteien wiederum wissen nicht mehr mit Sicherheit vorherzusagen, wer ihre Wählerinnen und Wähler sind und wie sie diese ansprechen sollen. Sie verlieren Mitglieder, und auch das trägt zur Entfremdung zwischen Parteien und Bürgern bei. In Deutschland hat sich die Zahl der Mitglieder von CDU/CSU und SPD seit 1990 halbiert, während die Grünen und die Liberalen in jüngster Zeit (moderate) Mitgliederzuwächse verzeichnen. Zwar gibt es überall zahlreiche Parteineugründungen, doch insgesamt sind viel weniger Menschen bereit, sich in Parteien zu engagieren. In Deutschland erleben wir diese Entwicklung bisher vor allem auf der kommunalen und der Länderebene. In anderen Ländern ist die Parteienzersplitterung auf der nationalen Ebene längst der Fall. Wenn jedoch viele kleine und neue Parteien ins Parlament einziehen und dort eine größere Vielfalt herrscht, wird es in der Regel schwieriger, Mehrheiten zu bilden.
Zudem halten Vielparteienkoalitionen oftmals nicht über eine gesamte Wahlperiode. In den Niederlanden beispielsweise erschwerten mehrere Kleinparteien, die auf wenige Themen festgelegt sind, fast zehn Monate lang die Bildung einer neuen Regierung. In Spanien waren 2019 zwei Wahlen innerhalb eines Jahres notwendig, ehe der Ministerpräsident von zehn Parteien gewählt wurde und dennoch nur eine Minderheitsregierung bilden konnte. In Portugal drohen nach den Parlamentswahlen im Januar ähnliche Verhältnisse. In Chile, lange Zeit ein demokratisches Musterland Lateinamerikas, sind nach den Wahlen im November 2021 zwanzig Parteien in der Abgeordnetenkammer vertreten, in Brasilien sind es sogar dreißig Parteien. Angesichts dieser Zersplitterung ist es wenig verwunderlich, wenn viele Menschen eine starke Führungspersönlichkeit herbeisehnen und einen populistischen, offen demokratiefeindlichen Präsidenten wie Jair Bolsonaro wählen. Überall ist die Zersplitterung der Parteiensysteme und Parlamente auch Ausdruck der Schwäche vorheriger Volksparteien, die ihre Integrationsfähigkeit eingebüßt haben.
Scharnier zwischen Staat und Gesellschaft
Die sozialen Medien erschweren den Parteien ihre Repräsentationsfähigkeit zusätzlich. Sie bieten den Bürgern alternative Kanäle der Kommunikation, sodass viele Menschen meinen, der „Umweg“ über die Parteien als Vermittler sei nicht mehr notwendig, um Interessen und Anliegen zu äußern. Dabei besteht jedoch die Gefahr, dass derjenige, der am lautesten schreit, eher gehört wird. Donald Trump hat vorgemacht, wie der Missbrauch der sozialen Medien die Demokratie gefährdet und den Populismus belebt.
Wie gut eine Demokratie funktioniert, hängt weiterhin maßgeblich vom Verhalten und von den Fähigkeiten der Parteien ab, gesellschaftliche Interessen zu repräsentieren und politische Alternativen zu erarbeiten. Neue Formen der Bürgerbeteiligung können die Parteien nicht ersetzen. Allerdings müssen diese wieder zu ihrer Rolle als maßgebliches Sprachrohr politischer Forderungen und Konzepte zurückfinden, die sich aus der Entwicklung einer Gesellschaft ergeben. Wie schnell Parteien thematisch „überrannt“ werden können, mussten zuletzt beispielsweise die Grünen in Deutschland erleben, als sie vor der Bundestagswahl 2021 ihre Deutungshoheit über die Klimapolitik an Fridays for Future oder andere – auch radikale – Protestbewegungen zu verlieren drohten.
Dennoch haben Parteien die Chance, ihre Rolle als maßgebliches Scharnier zwischen Staat und Gesellschaft wieder zu stärken. Die Ära der Volksparteien ist keineswegs zu Ende. Ihre Leistung des Austarierens unterschiedlicher Interessen und Erwartungen an die Politik bleibt angesichts der Fragmentierung der Parteiensysteme erst recht aktuell. Um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu optimieren, müssen sie sich meines Erachtens nach in drei Bereichen verbessern.
Zukunftsfähige Volksparteien
Erstens: das eigene programmatische Profil schärfen. Die Wirtschafts-und Sozialkompetenz spielt dabei nach wie vor eine entscheidende Rolle. So wichtig Klima und Umwelt, Migration und Sicherheit oder andere Themen sind, erwarten die meisten Menschen nach meiner Beobachtung überall auf der Welt von den Parteien, dass sie dafür sorgen, dass sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ihres Landes kontinuierlich verbessern oder zumindest nicht verschlechtern. Wirtschaftskompetenz sollte stets mit einem sozialen Versprechen einhergehen. Ludwig Erhard hat das auf den Punkt gebracht: „Wohlstand für alle.“ Heute muss dieses Versprechen mit neuen Konzepten für eine Wirtschafts- und Sozialpolitik unterfüttert werden, die sowohl dem größeren Wettbewerbsdruck infolge der Globalisierung als auch den neuen Erwartungen an eine soziale Kohäsion gerecht werden. Das geht über sozialpolitische Einzelaktionen wie die Anhebung des Mindestlohns oder das Bürgergeld für alle hinaus und betrifft beispielsweise eine Zuwanderungspolitik, die einerseits die Migration von Fachkräften steuert, andererseits für eine gesellschaftliche Integration der Zuwanderer sorgt. Zugleich muss eine Partei, die sich programmatisch profilieren will, auch unbequeme Themen aufgreifen. In den alternden Gesellschaften Europas sind das beispielsweise die Flexibilisierung des Renteneintrittsalters und Reformen der Rentenversicherung mit dem Ziel einer Begrenzung der immer weiter steigenden Zuschüsse aus dem Staatshaushalt. Eine solche Wirtschafts- und Sozialkompetenz sollte von führenden Repräsentanten einer Partei personifiziert werden. Dabei darf es durchaus zu innerparteilichen, auch öffentlich ausgetragenen Kontroversen über einzelne Politikvorschläge kommen. Solche kritischen Diskussionen demonstrieren dem Bürger die Vitalität einer Partei und verschaffen ihr Aufmerksamkeit.
Zweitens: die Bindung zu den Bürgern und den gesellschaftlichen Gruppen erneuern. Weil es nicht genügt, über die Erosion früherer gesellschaftlicher Großorganisationen wie Kirchen und Gewerkschaften zu lamentieren, die gerade für die Volksparteien als Scharnier zu wichtigen Teilen der Bürger- und Wählerschaft funktionierten, müssen die Parteien neue Wege gehen, um den Kontakt mit den „normalen“ Bürgern zu erneuern und zu intensivieren. Die Kommunalpolitik und die sozialen Medien spielen dabei eine entscheidende Rolle. Wo Parteien auf der lokalen Ebene durch Bürgerforen und andere Formen der unmittelbaren Bürgerbeteiligung herausgefordert werden, sollten sie das als Chance begreifen, neue Bindungen zur Bürgerschaft aufzubauen. Dabei gilt auch auf der lokalen Ebene: persönliche Präsenz zeigen. Die Parteien brauchen kompetente und glaubwürdige Repräsentantinnen und Repräsentanten, um einen politischen Führungsanspruch zu erheben. Wenn, wie in Deutschland schon mehrfach zu beobachten war, eine Volkspartei in Großstädten keine eigenen Kandidaten bei einer Bürgermeisterwahl benennt, muss sie sich nicht über einen Mangel an Wahrnehmung und eine weitere Erosion ihrer Bindekraft zu den Bürgern wundern. Um diese wieder zu stärken, müssen auch die „etablierten“ Parteien ihre Präsenz auf den verschiedenen sozialen Kanälen erweitern. Mittlerweile ist bei den meisten Altersgruppen in den sozialen Medien ein hohes Maß an Aufmerksamkeit für politische Botschaften zu erzielen.
Drittens: in die eigenen Mitglieder investieren. Bei aller Professionalisierung der Parteiarbeit und der Wahlkampfführung sollten große Parteien nicht darauf verzichten, eine möglichst hohe Zahl von Mitgliedern zu gewinnen. Sie bilden sowohl das Reservoir ihrer Kandidaten als auch das wichtigste Bindeglied zur Gesellschaft. Der dramatische Mitgliederverlust von CDU und SPD in den letzten Jahrzehnten hat zum kontinuierlichen Rückgang ihres Stimmenanteils beigetragen. Investition in die Mitglieder bedeutet: eine kontinuierliche Information über politische Positionen der Partei zu aktuellen Fragen, eine gezielte Aus- und Fortbildung der Mitglieder sowohl über politische Sachthemen als auch den Umgang mit den modernen Medien, vor allem aber ein besonderes Bemühen um Frauen und junge Bürger als Mitglieder, Kandidaten und nicht zuletzt Teil der Parteiführung auf allen Ebenen. Auch wenn in Deutschland das Wahlrecht im Vergleich zu Frankreich, Spanien oder Schweden die bewusste Förderung von Frauen erschwert (was zu dem vergleichsweise niedrigen Frauenanteil in den Parlamenten beiträgt), würde schon ein höherer Frauenanteil in den Parteiführungen dazu beitragen, dass mehr Frauen für politische Ämter kandidieren und sich dadurch der Frauenanteil in den Parlamenten erhöht. Dafür können Parteien ganz ohne zusätzliche gesetzliche Regelungen selbst sorgen.
Eine Partei, die diese drei Punkte bei ihren Bemühungen um eine Erneuerung berücksichtigt, kann bei künftigen Wahlen wieder Stimmengewinne erwarten. Denn der maßgebliche Wettbewerbsvorteil der Parteien gegenüber anderen Formen politischer Vereinigungen bleibt auf jeden Fall bis auf Weiteres erhalten: Sie werden auch in Zukunft die Mehrheit der Kandidaten und Parlamentarier stellen und Regierungen bilden. Aufgrund der allgemeinen und freien Wahlen haben sie einen Legitimitätsvorsprung gegenüber anderen Akteuren und Entscheidungsverfahren. Ohne Parteien kann die repräsentative Demokratie nicht bestehen.
Wilhelm Hofmeister, geboren 1956 in Worms, Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, Leiter des Auslandsbüros Spanien und Portugal der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Madrid. In seinem aktuellen Buch vergleicht er die Parteienentwicklung verschiedener Länder und plädiert für eine Reform der Parteien: Parteien gestalten Demokratie. Theorie und Praxis in globaler Sicht, Verlag Kohlhammer, Stuttgart 2021.