Disruption zählt ohne Zweifel zu den Schlüsselbegriffen im Diskurs über die Auswirkungen der digitalen Transformation unserer Gesellschaft. Den mit disruptiven Prozessen einhergehenden Herausforderungen lässt sich aufseiten der Unternehmen mit einer größeren Gelassenheit begegnen, wenn man berücksichtigt, dass Disruptionen im Bereich der industriellen Fertigung eine lange Tradition aufweisen. Im späten 18. Jahrhundert leitete die Erfindung des mechanischen Webstuhls die erste Industrielle Revolution ein, in deren Folge manuelle Arbeitsschritte zunehmend durch Maschinen ersetzt wurden. Rund einhundert Jahre später ebnete der erstmalige Einsatz von Fließbändern der Massenproduktion den Weg. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts läutete schließlich der Siegeszug der Mikroelektronik einen dritten revolutionären Wandel in der Fertigung ein.
Infolge der fortschreitenden Digitalisierung durchläuft die industrielle Produktion gegenwärtig einen weiteren Transformationsprozess, der in Deutschland als die vierte Industrielle Revolution, kurz „Industrie 4.0“, bezeichnet wird. Im Kern wird damit die IT-basierte Vernetzung von Maschinen, Anlagen und Prozessen in der Industrie beschrieben. Die damit einhergehenden Veränderungen stehen in der öffentlichen Wahrnehmung häufig im Schatten anderer Digitalisierungsphänomene, beispielsweise des Siegeszuges großer US-amerikanischer oder chinesischer Technologiekonzerne in Business-to-Consumer-Märkten (B2C). Die geringere Sichtbarkeit darf je doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Vernetzung im Bereich der industriellen Produktion entscheidenden Einfluss auf die künftige Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandorts Deutschlands hat.
Deutschland hat gute Chancen, zu einem Leitmarkt und Leitanbieter von Industrie 4.0 zu avancieren. Aufgrund ihrer führenden Marktstellung im Maschinen und Anlagenbau, in der Automatisierungstechnik oder dem Bereich der Eingebetteten Systeme verfügen deutsche Unternehmen über her vorragende Voraussetzungen, um im Zeitalter der vernetzten Produktion zur Weltspitze zu gehören. Diesen Befund sollten Wirtschaft, Politik und Gesellschaft als Ansporn nehmen, um trotz der augenscheinlichen Dominanz der großen außereuropäischen Technologiekonzerne im B2CBereich nicht in einen allgemeinen Pessimismus zu verfallen. Denn im Business-to-Business-Sektor (B2B) besetzen die Schnittstellen zum Kunden nicht US-amerikanische oder chinesische Player, sondern Unternehmen aus Deutschland.
Defizite bei kleinen und mittleren Unternehmen
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass sich in den vergangenen Jahren zahlreiche Praxisbeispiele für Industrie 4.0Anwendungen in Deutschland herausgebildet haben. Aktuellen Umfragen zufolge kommen bereits in knapp der Hälfte aller Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes Industrie 4.0Anwendungen zum Einsatz. Ein nicht unerheblicher Teil der Unternehmen plant (17 Prozent) oder diskutiert (25 Prozent) zumindest den Einsatz entsprechender Lösungen (Bitkom Research / EY, 2018: Industrie 4.0: Status Quo und Perspektiven. Grundgesamtheit: Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes ab 100 Mitarbeitern, 2018, www.ey.com/Publication/vwLUAssets/ey-industrie-4-0-status-quo-und-perspektiven/$FILE/ ey-industrie-4-0-status-quo-und-perspektiven.pdf [letzter Aufruf 07.10.2019]). Zunehmende Verbreitung finden Industrie 4.0Anwendungen auch im Mittelstand. Trotzdem existieren bei kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) nach wie vor Umsetzungsdefizite, sodass der Technologietransfer in Richtung Mittelstand beschleunigt werden muss. Durch die Bereitstellung vielfältiger Unterstützungsangebote für KMU leisten die 26 bundesweit tätigen Mittelstands 4.0Kompetenzzentren einen entscheidenden Beitrag, um die Diffusion von Industrie 4.0Technologien entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu befördern.
In ökonomischer Hinsicht bietet die Vernetzung der industriellen Produktion Wertschöpfungs- und Effizienzpotenziale, die die Marktstellung deutscher Unternehmen nachhaltig stärken. So stimmen in einer aktuellen Umfrage des Digitalverbands Bitkom 85 Prozent der befragten Industrie unternehmen der Aussage zu, dass Industrie 4.0 „die Voraussetzung für den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie und damit für die Sicherung von Arbeitsplätzen“ darstellt (Bitkom, 2019: Industrie 4.0. Jetzt mit KI). Mit dem Wandel zur Industrie 4.0 ist für Deutschland somit nicht weniger als die Chance verbunden, seine Stellung als führender Industriestandort langfristig zu sichern und auszubauen. Nicht übersehen werden dürfen zudem die Vorteile, die die vernetzte Produktion für die Kunden beziehungsweise Abnehmer von Industriegütern bereithält. Dazu zählen beispielsweise eine lückenlose Nachverfolgbarkeit einzelner Produktionsschritte, die Bereitstellung kundenindividueller Dienstleistungsangebote oder die Anfertigung von Kleinstserien zu bezahlbaren Preisen.
Positive Beschäftigungsbilanz der Digitalisierung
Wie bei allen tiefgreifenden Transformationsprozessen wirft der Übergang zur Industrie 4.0 jedoch auch kritische Fragen auf, denen sich Staat, Wirtschaft und Gesellschaft stellen müssen. Besonders deutlich wird dies mit Blick auf die weitverbreitete Sorge, dass mit der Digitalisierung zwangsläufig Arbeitsplatzverluste verbunden sind. Unstrittig ist, dass durch den technologischen Wandel bestimmte Tätigkeiten, beispielsweise einfache Routine arbeiten in der Produktion, gefährdet sind. Gleichzeitig entstehen aber neue Tätigkeitsfelder und Berufsbilder, sodass die Digitalisierung in erster Linie zu einem Strukturwandel der Arbeitswelt führt.
Empirisch untermauern lässt sich diese These durch aktuelle Studien zu den Arbeitsmarkteffekten der Digitalisierung. So haben im Frühjahr 2018 Wissenschaftler des Mannheimer Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in einer viel beachteten Studie ermittelt, dass die Digitalisierung in Deutschland mehr Arbeitsplätze schafft als vernichtet (Beschäftigungseffekt plus ein Prozent; vgl. ZEW, 2018: Digitalisierung und die Zukunft der Arbeit: Makroökonomische Auswirkungen auf Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und Löhne von morgen). Zu einer vergleichbaren Einschätzung gelangt auch das World Economic Forum in seinem Future of Jobs Report 2018, der für die kommenden Jahre ebenfalls einen positiven Beschäftigungseffekt voraussagt (WEF, 2018: Future of Jobs Report).
Es versteht sich von selbst, dass sich niemand auf diesen optimistischen Prognosen ausruhen darf. Wirtschaft und Politik müssen die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger vor Arbeitsplatzverlusten weiterhin ernst nehmen und ihre Bemühungen, Menschen bestmöglich auf die Anforderungen der Arbeitswelt im digitalen Zeitalter vorzubereiten, weiter intensivieren. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung, um eine breite gesellschaftliche Akzeptanz des technologischen Wandels sicherzustellen.
Die Unternehmen des produzierenden Gewerbes in Deutschland investieren erhebliche Summen in Industrie 4.0-Anwendungen – 2018 durchschnittlich 5,9 Prozent ihres Jahresumsatzes (Bitkom Research / EY, 2018: Industrie 4.0: Status Quo und Perspektiven). Um im Bereich der vernetzten Produktion der Weltspitze angehören zu können, ist allerdings auch die Politik gefordert, da sie die Rahmenbedingungen beeinflusst, denen die Unternehmen in ihrer Geschäftstätigkeit unterliegen. Angesichts immer kürzer werdender Innovationszyklen und einer verstärkten Konkurrenz durch aufstrebende Märkte wie China ist auf der einen Seite schnelles politisches Handeln gefordert, das mit dem Veränderungstempo Schritt hält.
Zu den zentralen inhaltlichen Weichenstellungen, die auf politischer Ebene erforderlich sind, um den Übergang zur Industrie 4.0 erfolgreich zu gestalten, zählt die Sicherstellung einer innovationsfreundlichen Datenpolitik. Regelungen zur Erhebung, Speicherung und Verarbeitung von Daten kommt im Zeitalter von Industrie 4.0 eine überragende Bedeutung zu, da künftige Geschäftsmodelle datengetrieben sind. Der Analyse riesiger Datenmengen fällt in sämtlichen Innovationsbereichen eine Schlüsselrolle zu. Daraus folgt, dass der Datenschutz sowie der Schutz der Privatsphäre nicht zu einem Innovationshemmnis werden dürfen. Geboten ist eine moderne und innovationsfreundliche Datenpolitik, die insbesondere eindeutig zwischen Regelungen zur Verarbeitung von personenbezogenen und nicht personenbezogenen Daten (Industriedaten) differenziert.
Zudem sollte das traditionelle Prinzip der Datensparsamkeit durch ein Prinzip der Datensouveränität abgelöst werden. Wie realitätsfern Datensparsamkeit im digitalen Zeitalter anmutet, verdeutlicht nicht zuletzt die Schlüsseltechnologie Künstliche Intelligenz (KI). Gerade im industrienahen Umfeld, in dem die zunehmende Vernetzung von Maschinen zu nie gekannten Datenmengen führt, gibt es zahlreiche Einsatzfelder für KI, die hervorragend ins Leistungsspektrum heimischer Industrieunternehmen passen. Entscheidend ist daher, unsere industrielle Stärke mit den Möglichkeiten Künstlicher Intelligenz zu kombinieren.
Für die Politik resultiert daraus der Auftrag, Europa zu einem führen den Standort für Künstliche Intelligenz zu entwickeln. Wichtig ist in diesem Zusammenhang beispielsweise die Schaffung von Kompetenz und Testzentren für KI-basierte Lösungen, um gerade kleinen und mittleren Unternehmen die frühzeitige Erprobung neuer Anwendungen zu ermöglichen. Von zentraler Bedeutung ist zudem eine enge Verzahnung der nationalen Aktivitäten auf europäischer Ebene, da die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nur im Verbund mit ihren europäischen Partnern im internationalen Wettbewerb bestehen können.
Förderung von Sprunginnovationen
Die eingangs skizzierte Entwicklung der industriellen Fertigung verdeutlicht, dass die Auslöser der Mechanisierung, Elektrifizierung und Automatisierung der Produktion jeweils bahnbrechende technologische Innovationen waren. Auch im Zeitalter der Digitalisierung muss daher die Stärkung des Forschungsstandorts Deutschland weit oben auf der politischen Agenda stehen. Der Koalitionsvertrag für die laufende Legislaturperiode enthält viele Ansätze, die in die richtige Richtung zielen. Dazu zählt beispielsweise die Ankündigung, bis 2025 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung zu investieren. Die im Aufbau befindliche Agentur zur Förderung von Sprunginnovationen (SprinD) bietet darüber hinaus eine Chance, neue Wege bei der Lösung gesellschaftlicher oder technologischer Probleme einzuschlagen. Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung mit dem Instrument der SprinD die Bereitschaft zeigt, Risiken einzugehen. Denn ohne ein gewisses Maß an Risikobereitschaft wird es Deutschland auf Dauer nicht gelingen, sein hohes Innovationsniveau aufrechtzuerhalten.
Unstrittig ist, dass sich auch die Unternehmen selbst auf einen verschärften Innovationswettbewerb zwischen den großen Wirtschaftsräumen dieser Welt einstellen müssen. Mehr Risikobereitschaft und weniger Angst vor dem Scheitern sind vor diesem Hintergrund auch aufseiten der Wirtschaft erforderlich. Wir brauchen diesen Kulturwandel in Deutschland, damit wir im internationalen Wettbewerb um die besten Zukunftsideen nicht den Anschluss verlieren.
Selbst wenn die zunehmende Innovationsgeschwindigkeit und der verstärkte Innovationswettbewerb die Unternehmen vor nicht unerhebliche Herausforderungen stellen: Deutschland darf sich durch den Erfolg chinesischer und US-amerikanischer Technologiekonzerne nicht entmutigen lassen. Viel mehr müssen wir an unsere Kernkompetenzen und Alleinstellungsmerkmale im Industriebereich anknüpfen, damit unsere Unternehmen zu „digitalen Champions“ im B2B-Bereich avancieren können.
Wenn wir die gute Ausgangssituation nutzen und die Politik die richtigen Weichenstellungen in den Feldern Datenpolitik, Künstliche Intelligenz und Forschungsförderung vollzieht, werden deutsche Unternehmen auch künftig zur Weltspitze gehören. Ein erfolgreicher Übergang zur Industrie 4.0 leistet somit einen entscheidenden Beitrag zur langfristigen Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands.
Iris Plöger, geboren 1971 in Hamburg, Mitglied der Hauptgeschäftsführung, Bundesverband der Deutschen Industrie e.V.