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Leseprobe: „Alarming Ambassador“

Sir Christopher Mallaby erinnert sich an Helmut Kohl, Margaret Thatcher und die Wiedervereinigung

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Sir Christopher, Sie kamen 1988 als britischer Botschafter nach Bonn. Ahnten Sie bereits, was auf Sie zukommen würde?

Sir Christopher Mallaby: Nein. Ich habe die großartigen Ereignisse, die 1989/90 stattfanden, nicht erwartet. Dem Foreign Office teilte ich damals mit, dass ich vorläufig nicht damit rechnete, dass die Wiedervereinigung zum Thema werden würde. Jeder war meiner Ansicht, wir haben uns alle geirrt.

Wie haben Sie den Fall der Mauer im November 1989 erlebt?

Sir Christopher Mallaby: Als der Wandel in den kommunistischen Ländern im Osten, angefangen mit Polen, einsetzte, ahnte ich, dass auch in Ostdeutschland politische Veränderungen unvermeidlich würden. Also meldete ich dem Außenministerium, dass sich die Struktur der Beziehungen zwischen beiden Teilen Deutschlands dadurch ändern könnte. Als sich gegen Ende des Jahres 1989 die Entwicklungen beschleunigten, war ich weder vom Beginn des Wandels in Ostdeutschland noch von den Demonstrationen überrascht. Überrascht wurde ich aber vom Fall der Mauer – für mich der Anfang einer äußerst interessanten und positiven Arbeitsperiode.

Bei einer der – im positiven Sinne – katastrophalsten Pressekonferenzen der Geschichte hatte der DDR-„Regierungssprecher“ Günter Schabowski die Liberalisierung der Ausreisebestimmungen verkündet, die so vom Politbüro nicht beschlossen worden war. Nachdem die westlichen Medienvertreter die Neuigkeit rasch über die ganze Welt verbreitet hatten, war es dem ostdeutschen Regime unmöglich geworden, den verkündeten Beschluss rückgängig zu machen.

Am Abend des 9. November sprach ich mit dem Kommandanten der britischen Streitkräfte in West-Berlin, und wir beschlossen, dass ich mit meiner Frau am nächsten Abend von Bonn nach Berlin reisen würde. Als wir dort ankamen, waren unzählige Menschen auf den Beinen, und ich ging davon aus, es seien West-Berliner, die Zeugen der Geschichte sein wollten. Aber in Wirklichkeit waren die meisten Ostdeutsche. Sie standen an der westlichen Seite der Mauer, waren etwas verwirrt, aber überaus glücklich. Sie erklärten mir: „Wenn man durch die Mauer gekommen ist, muss man von der anderen Seite aus zurückschauen, damit man wirklich begreift, dass man draußen ist.“

Nach der Öffnung der Mauer gewann die „deutsche Frage“ wieder an Gewicht in den internationalen Beziehungen. Welche nationalen Interessen hatte Großbritannien? Und welche Politik haben Sie London anempfohlen?

Sir Christopher Mallaby: Ich war der Überzeugung, dass es im Interesse Großbritanniens läge, den Wandel in Ostdeutschland zu nutzen, um das Land aus dem Warschauer Pakt herauszulösen. Mir war klar, dass Michail Gorbatschow dies viel abverlangen würde, da es mit einer erheblichen Schwächung des Militärbündnisses verbunden wäre – immerhin waren in Ostdeutschland mehr als 300.000 sowjetische Soldaten stationiert. Dass Gorbatschow einer Integration Ostdeutschlands in die NATO zustimmen würde, hielt ich zunächst für unwahrscheinlich. Aber die Amerikaner spielten in den Verhandlungen mit Gorbatschow ihre Karten brillant und brachten ihn 1990 dazu, ein vereintes Deutschland als Mitglied der NATO zu akzeptieren.

Ich hielt das für die ideale Lösung, denn Europa würde sicher bleiben. Die Sowjetunion, die weiterhin über Atomwaffen verfügte, würde durch dasselbe System der Abschreckung in Schach gehalten; gleichzeitig wurden der Warschauer Pakt und die Stellung der Sowjets in Europa geschwächt.

Aber Premierministerin Margaret Thatcher beurteilte die Entwicklungen in Deutschland doch ganz anders.

Sir Christopher Mallaby: Margaret Thatcher war gegen die Wiedervereinigung. Und sie sagte das in verschiedenen Reden und Interviews auch öffentlich. Ihre Begründung war recht schwer zu verstehen. Sie sprach von Stabilität; sie legte dar, dass der Frieden in Europa durch eine schnelle Wiedervereinigung destabilisiert werden könnte.

Aus verschiedenen Gründen war ich nicht ihrer Meinung. So glaubte ich nicht, dass ein vereintes Deutschland, eine vergrößerte Bundesrepublik, eine Gefahr in Europa darstellen würde. Darüber hinaus hatte sich Großbritannien dazu verpflichtet, eine Wiedervereinigung auf demokratischer Grundlage zu unterstützen, falls das je möglich werden sollte. Dies war nun offensichtlich der Fall; wir konnten doch jetzt unmöglich eine Verpflichtung aufgeben, die wir über viele Jahrzehnte bei jeder Gelegenheit wiederholt hatten.

Wie sind Sie mit dieser – sicherlich nicht unkomplizierten – Situation umgegangen?

Sir Christopher Mallaby: Ich habe weiterhin London informiert und beraten, was in Deutschland vor sich ging. Der Gegensatz zu Margaret Thatcher, der mich tatsächlich in eine missliche Lage gebracht hatte, konnte nicht von langer Dauer sein. Schließlich hielt ich die Wiedervereinigung für unvermeidlich und war überzeugt, dass sich ihre Ansicht – die Wiedervereinigung sei zumindest verfrüht und vermutlich nicht wünschenswert – schnell als unhaltbar erweisen würde. Also machte ich mir nicht allzu große Sorgen, obwohl Margaret Thatcher mir sehr böse war. In den britischen Unterlagen drückt sie an verschiedenen Stellen ihren Ärger über die Ansichten aus, die ich aus Bonn übermittelte. Zum Beispiel bezeichnete sie mich als einen „besorgniserregenden“ Botschafter.

Wie war die Beziehung zwischen Premierministerin Thatcher und Bundeskanzler Kohl?

Sir Christopher Mallaby: Sie waren ungleiche Persönlichkeiten. Er ging bei Verhandlungen sehr schwerfällig und langsam vor, und sie war extrem nachdrücklich und sich in jeder Hinsicht dessen sicher, was sie sagte. Vor allem gab es auch Differenzen über Europa. Helmut Kohl war ein Verfechter der europäischen Integration. Margaret Thatcher hingegen konzentrierte sich darauf, die britischen Interessen als Mitglied der Europäischen Union zu schützen und zu fördern. Kohl fand ihre Art ziemlich einschüchternd; Thatcher war von ihm nicht sehr beeindruckt. Darin hat sie sich geirrt.

Meiner Ansicht nach ist er unter den deutschen Führungspersönlichkeiten der letzten 200 Jahre eine der drei größten – zusammen mit Otto von Bismarck und Konrad Adenauer. Dabei ist die Art, wie er Deutschland mit friedlichen Mitteln und durch wirtschaftliches Vorbild geeint hat, dem im Wesentlichen militärischen Wege Bismarcks bei Weitem vorzuziehen. Kohl löste die „deutsche Frage“, friedlich, ohne dass ein Schuss abgefeuert worden war – eine riesige Leistung.

Adenauer gab den Westdeutschen mithilfe von Erhards Wirtschaftswunder Selbstvertrauen und Selbstachtung zurück. Dadurch hat er die Voraussetzungen für die spätere Vereinigung geschaffen: Der Erfolg der Bundesrepublik sollte die Menschen in Ostdeutschland ansprechen. Auf diesem Wege wollte er zur Wiedervereinigung gelangen. So erweist sich Adenauer nicht nur als großer Macher, sondern auch als Visionär. Er und Kohl sind die großen politischen Gestalter Deutschlands nach 1945.

Sie haben für Großbritannien an den Zwei-plus-Vier-Gesprächen teilgenommen. Inwieweit hat diese neue Verhandlungsrunde die Ansichten von Premierministerin Thatcher zur Wiedervereinigung beeinflusst?

Sir Christopher Mallaby: Über die Einrichtung der Zwei-plus-Vier-Gespräche im Februar 1990 war sie erfreut. Bei einem Treffen in London sagte sie Hans-Dietrich Genscher, nun gebe es ein Forum, in dem die Gesprächspartner ihre Ansichten und Interessen darlegen könnten. Sie hoffte, dadurch die aus ihrer Sicht halsbrecherische Geschwindigkeit des Wiedervereinigungsprozesses und den Mangel an Rücksprache mit den Alliierten ausgleichen zu können. Bei den Zwei-plus-Vier-Gesprächen spielte sie jedoch keine führende Rolle. Diese überließ sie hauptsächlich dem britischen Außenminister Douglas Hurd, der in den vorangegangenen Monaten freundschaftliche Beziehungen zu Helmut Kohl aufgebaut hatte.

Sie waren der erste britische Botschafter im wiedervereinigten Deutschland. Was waren die wesentlichen Aspekte in den britisch-deutschen Beziehungen nach der Wiedervereinigung?

Sir Christopher Mallaby: Anders als François Mitterrand, der etwas von Helmut Kohl wollte – die definitive Zustimmung Deutschlands zu einer einheitlichen europäischen Währung –, hatte Großbritannien nichts Wichtiges, was es als Gegenleistung für die Unterstützung der Wiedervereinigung haben wollte. Also dachte ich viel darüber nach, wie wir damit umgehen sollten. Großbritannien war für die Deutschen ein Vorbild an Stabilität und Demokratie sowie ein wertvoller Verbündeter – durch unsere Streitkräfte in Deutschland und Berlin. Aber wir waren weniger wichtig für Deutschland als Frankreich und natürlich die Vereinigten Staaten. So versuchte ich, im Kontext der Wiedervereinigung unser Ansehen in Deutschland auszubauen – vor allem in den neuen Bundesländern. Auch förderten wir die Beteiligung britischer Firmen an der Modernisierung der ostdeutschen Wirtschaft. Als ich Ende 1992 aus dem Amt schied, waren achtzig ostdeutsche Firmen über die Treuhandstelle von britischer Seite übernommen worden. Den Höhepunkt dieses britischen Engagements markierte der Deutschlandbesuch der Königin 1992, der insbesondere Ostdeutschland galt.

Wie entwickelten sich die britisch-deutschen Beziehungen unter Premierminister John Major?

Sir Christopher Mallaby: Die Beziehung zwischen John Major und Helmut Kohl war vom ersten Augenblick an sehr gut. Nie werde ich die Pressekonferenz vergessen, bei der beide erstmals gemeinsam in der Öffentlichkeit auftraten. Der Kanzler begann sofort, John Major zu duzen und ihn als „meinen Freund John“ zu bezeichnen. Es hat mich sehr berührt, zu sehen, wie der Kanzler die Gelegenheit zu einer neuen Beziehung ergriff, und er tat es auf eine gute und sichtbare Weise. Auch John Major war sehr gerührt. Dieses persönliche Verhältnis war im Gegensatz zum vorigen wirklich erfolgreich.

Die deutsche Wiedervereinigung hat die britisch-deutschen Beziehungen zunächst belastet, dann haben sie sich hervorragend entwickelt. Glauben Sie, wir werden irgendwann dasselbe über den „Brexit“ sagen können?

Sir Christopher Mallaby: Die künftige Entwicklung kann ich schwer vorhersagen. Zumal ich der Überzeugung bin, dass das Vereinigte Königreich in der EU hätte bleiben sollen – und ich also voreingenommen bin. Die britische Wirtschaft wird sicher unter dem „Brexit“ leiden. Die Frage ist nur, wie schlimm es werden wird.

Das Gespräch führte Marcel Serr, Redakteur „Die Politische Meinung“, am 27. März 2018.

Übersetzung aus dem Englischen: Wilfried Becker, Germersheim.

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Sir Christopher Mallaby, geboren 1936, britischer Diplomat, 1977 bis 1981 Leiter der Rüstungskontrollabteilung sowie der Abteilung für Osteuropa und die Sowjetunion im britischen Außenministerium, 1988 bis 1992 britischer Botschafter in Deutschland, 1993 bis 1996 britischer Botschafter in Frankreich.

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