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Leseprobe: Persönlichkeit und historische Größe

Eine Würdigung in Respekt und Dankbarkeit

Der Tod Helmut Kohls markiert einen tiefen Einschnitt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und besonders auch für seine Partei. Er war das Bindeglied zweier Epochen: Die eine – die deutsche Teilung – half er zu überwinden; für die andere – das vereinte Europa – legte er die Grundlagen.

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Am 16. Juni 2017 verstarb Helmut Kohl in seiner pfälzischen Heimat im Alter von 87 Jahren. Sechs Tage später hat der Deutsche Bundestag seiner im Reichstagsgebäude in der Mitte Berlins, der Hauptstadt des vereinten Deutschlands, gedacht. Das versteht sich fast von selbst, wäre aber undenkbar gewesen ohne die weltgeschichtlichen Veränderungen, die sich untrennbar mit seinem Namen verbinden.

Als sich 1989 die von manchen längst abgeschriebene Chance ergab, ergriff Helmut Kohl mit sicherem Instinkt die Initiative: Mit seinem am 28. November 1989 verkündeten Zehn-Punkte-Programm gab er der Friedlichen Revolution in der DDR ihre ehrgeizige politische Richtung – hin zur deutschen Einheit. Es war eine Sternstunde unserer Parlamentsgeschichte und seine politische „Glanzleistung“, wie sein Amtsvorgänger Helmut Schmidt anerkennend befand.

Kohl bewies 1989 eine Weitsicht, die im Westen des geteilten Landes vielen längst abhandengekommen war. Die Anerkennung einer eigenen DDR-Staatsangehörigkeit zum Beispiel, für die es auch in Teilen seiner eigenen Partei zeitweise durchaus Sympathien gab, hat es mit ihm nie gegeben. Was in seiner langen Amtszeit als Parteivorsitzender und Bundeskanzler folgte, war die beispiellose Erfolgsgeschichte einer ebenso besonnenen wie zielgerichteten Diplomatie; ihr Ergebnis die deutsche Einheit im Staaten- und Werteverbund des Westens, im Einvernehmen mit allen Nachbarn und mit Unterstützung wichtiger Partner in der Welt.

Kohl wusste, dass dieses große nationale Ziel nur über die Einigung Europas zu erringen war. Die Union der europäischen Staaten war ihm dabei aber nie allein ein Mittel, sondern immer ihr eigener Zweck: das große Friedensprojekt auf dem ehemals verfeindeten Kontinent, das er am Ende seiner Amtszeit auch über die gemeinsame Währung unumkehrbar zu machen suchte.

Die Kraft der Geschichte

Helmut Kohl wurde 1930 genau an dem Tag geboren, als im Reichstagsgebäude ein Misstrauensantrag gegen die damals neu gebildete Regierung unter Heinrich Brüning eingebracht wurde und scheiterte – die erste der Präsidialregierungen, die, wie wir heute wissen, das Ende der Weimarer Republik einläuteten und den Weg in die Diktatur wiesen. An deren Ende standen der vollständige moralische Zusammenbruch und ein Krieg, der sich schicksalhaft in die Familienbiographien von Generationen einschrieb – auch in die Helmut Kohls.

1989 vor der Dresdner Frauenkirche, als der Wille der Menschen zur Einheit für alle spürbar war, erinnerte Kohl an seine Jugend im Krieg mit dem nie ganz verwundenen Tod des älteren Bruders an der Front. Vor der Kirche, damals noch Ruine, erneuerte er das Versprechen, das sich seine Generation gegeben hatte: Nie wieder Krieg! „Von deutschem Boden muß in Zukunft immer Frieden ausgehen – das ist das Ziel unserer Gemeinsamkeit!“

Ausdruck dieses Auftrags und Symbol der Aussöhnung zwischen Deutschen und Franzosen ist der Händedruck mit François Mitterrand über den Gräbern von Verdun 1984. Zehn Jahre später markierte der feierlich begangene, friedliche Abzug der letzten russischen Soldaten aus Berlin den, wie Helmut Kohl es damals nannte, „Schlusspunkt der Nachkriegsgeschichte Europas“.

Helmut Kohl dachte in historischen Perspektiven, denn er wusste um die identitätsstiftende Kraft der Geschichte: „Politik ohne Geschichte ist wurzellos, bleibt ziellos, ohne Grund und Perspektive. Wer die Zukunft politisch gestaltet, muß aus der geschichtlichen Erfahrung leben, ohne bei ihr stehenzubleiben.“

Die politischen Akzente, die er mit dieser Begründung in seiner Amtszeit – auch gegen Widerstand – zu setzen wusste, werden bleiben; sie prägen das Geschichtsbewusstsein und die Erinnerungskultur.

Alte Zöpfe – Kohl führte die Schere

In den vielen Nachrufen auf Helmut Kohl dominierten fast zwangsläufig die immer wieder gezeigten Bilder seiner Kanzlerschaft, die mit sechzehn Jahren länger währte als alle anderen, und zudem die viele Menschen berührende Tragik seiner letzten Lebensjahre. Dahinter tritt jedoch auch die Persönlichkeit Helmut Kohls wieder stärker hervor, die fast niemanden gleichgültig lässt. Legendär sind seine integrierende Kraft wie seine polarisierende Wirkung. Man denke an den leidenschaftlichen Parlamentarier, an den in vielerlei Hinsicht wuchtigen Debattenredner und Oppositionsführer im Bundestag, der in Zeiten Herbert Wehners und Helmut Schmidts hart austeilte und ebenso heftig einstecken musste – ein Mann, der zuvor in seiner rheinland-pfälzischen Heimat der jüngste Parlamentarier im Landtag gewesen war, jüngster Fraktionsvorsitzender und jüngster Regierungschef, ein kraftvoller Modernisierer und mutiger Reformer, freilich zu einer Zeit, als Studenten eher die Revolution erwarteten und einforderten, und über den gleichwohl der Spiegel – ausgerechnet der Spiegel – 1969 schrieb: „Wann immer alte Zöpfe abgeschnitten wurden – Kohl führte die Schere.“

Die Christlich Demokratische Union, in der er fest verwurzelt war, verstand er als seine Familie, ihre Fraktion im Bundestag, die er 2012 noch einmal besuchte, bezeichnete er als „seine Heimat“, sie war sein Zuhause. Bodenständig war er und blieb er, was die, die ihn notorisch unterschätzten, als provinziell missverstanden. Ausgestattet mit einem deftigen Charme und einem ausgeprägten, mitunter spöttischen Humor verbanden sich in ihm Gestaltungsanspruch und Machtbewusstsein, ein unbedingter Wille und die bemerkenswerte Begabung, breite Bevölkerungskreise anzusprechen – dank eines ganz besonderen Gespürs für Menschen.

Dabei gelang es ihm, auch in den internationalen Beziehungen, politisch enge und persönlich freundschaftliche Beziehungen zu den wichtigen Staatschefs in aller Welt aufzubauen – in Frankreich genauso wie in den USA und in Russland. Er war die „personifizierte vertrauensbildende Maßnahme der Weltpolitik“, wie ihn manche Medien treffend würdigten.

Typisch dafür, und im Gedächtnis der Polen vermutlich stärker verankert als bei uns, sind die Umstände seines Staatsbesuchs in Warschau am 9. November 1989 – ein Besuch, den Kohl zwar unterbrach, um im welthistorischen Moment in Berlin zu sein, aber eben nicht abbrach, sondern zur Überraschung seiner Gastgeber am 11. November fortsetzte.

Ein „großer Mann“

„‚Kein Mensch ist unersetzlich.‘ – Aber die wenigen, die es eben doch sind, sind groß“, schreibt der bedeutende Schweizer Historiker Jacob Burckhardt in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen. „Der große Mann ist ein solcher, ohne welchen die Welt uns unvollständig schiene, weil bestimmte große Leistungen nur durch ihn innerhalb seiner Zeit und Umgebung möglich waren und sonst undenkbar sind; er ist wesentlich verflochten in den großen Hauptstrom der Ursachen und Wirkungen.“

„Undenkbar“? Helmut Kohl hat ebenso wenig allein die deutsche Einheit ermöglicht wie Otto von Bismarck den deutschen Nationalstaat. Aber beide fundamentalen Veränderungen der deutschen Geschichte lassen sich ohne deren beider Namen schwerlich vorstellen.

Die Bonner Republik begann mit Konrad Adenauer und sie endete in der Kanzlerschaft Helmut Kohls, der zugleich dazu beitrug, dass ihre Grundpfeiler auch die Berliner Republik trugen. In bedeutenden Persönlichkeiten spiegeln sich regelmäßig ihre Epochen. Helmut Kohls historische Größe wird darin deutlich, dass er nicht nur eine Ära mitprägte, sondern das Bindeglied zweier Epochen geworden ist: Die eine half er glücklich zu überwinden, für die andere – unsere in einem vereinten Europa – legte er die Grundlagen. So war für ihn auch geradezu selbstverständlich, was für viele – auch für mich – damals durchaus diskussionsbedürftig war: dass ein in Frieden wiedervereinigtes Deutschland nicht länger von Bonn, sondern wieder von Berlin regiert und parlamentarisch kontrolliert werden müsse.

Viel Licht wirft auch Schatten

Das viele Licht um große Persönlichkeiten wirft Schatten. Das gilt auch für Helmut Kohl, der selbst sein Leben als einen Weg von großen Erfolgen und schweren Niederlagen beschrieben hat. 1976 hatte Kohl als Kanzlerkandidat die Union mit 48,6 Prozent der abgegebenen Stimmen bei hoher Wahlbeteiligung zum zweitbesten Ergebnis aller bisherigen Bundestagswahlen geführt. Er wurde Oppositionsführer, weil es zu den ungeschriebenen Regeln einer parlamentarischen Demokratie gehört, dass ein Land auch gegen die mit Abstand stärkste Partei regiert werden kann, wenn es entsprechende parlamentarische Mehrheiten gibt.

Kohls Weg säumten nicht zuletzt Verletzungen, die er selbst erlitt und die er anderen zufügte. Manche Fehler räumte Kohl selbst ein. Dass sein Abschied nach dem Verlust der Regierungsverantwortung, auch ein Abschied aus der aktiven Politik, sich so gestaltete, wie es – in der Formulierung seines Biographen Hans-Peter Schwarz – die Umstände der „kreativen Verschleierung von Parteispenden“ am Ende erzwangen, hängt wieder mit der außergewöhnlichen, bisweilen auch außergewöhnlich sturen Persönlichkeit Kohls zusammen.

Sein Tod bedeutet einen tiefen Einschnitt. Mit Kurt Schumacher, Theodor Heuss und Konrad Adenauer verschwand die Generation, deren Biographien weit vor die NS-Zeit ins Kaiserreich zurückreichten. Mit Willy Brandt, Walter Scheel, Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, Roman Herzog, Hans-Dietrich Genscher und nun auch Helmut Kohl wird uns die Generation fehlen, für die die Epoche der Weltkriege keine Erzählung, sondern konkrete Erfahrung war und Europa deshalb immer auch eine Frage von Krieg und Frieden bedeutete. Sich dieses Erbes zu vergewissern, ist offensichtlich notwendiger denn je.

Helmut Kohl hat Konrad Adenauer als einen „Glücksfall für Deutschland“ bezeichnet. Er selbst war es auch: ein Glücksfall für Deutschland und für Europa. Wir Deutschen können uns glücklich schätzen angesichts von Persönlichkeiten seines Formats, um die uns manche Nachbarn beneiden.%%

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Norbert Lammert, geboren 1948 in Bochum, Sozialwissenschaftler, 1998 bis 2002 kultur- und medienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 2005 bis 2017 Präsident des Deutschen Bundestages, seit 2018 Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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