„Eine Mischung aus moralischem Bewusstsein und persönlicher Hybris.“ So beschreibt McKay Coppins den 2012 erfolglos gegen Barack Obama angetretenen Präsidentschaftskandidaten der Republikaner, Mitt Romney. In der Tat schwankt man als Leser der Biographie zwischen Bewunderung für Romney, der im Laufe seiner Karriere wiederholt auf beeindruckende Weise pflichtbewusst und prinzipientreu handelte, und Befremden darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit er immer wieder seine vermeintlich unerschütterlichen Prinzipien über Bord warf und einen kühl kalkulierten Opportunismus an den Tag legte, um seinen politischen Aufstieg zu bewerkstelligen.
Trotz der offenkundigen Sympathie für sein Subjekt wird Coppins dem Auftrag des schonungslos objektiven Chronisten gerecht und schildert beide Seiten dieses komplexen Charakters in beeindruckender Detailfülle. Er konnte sich dabei nicht nur auf ausführliche Interviews stützen, die Romney ihm in den vergangenen Jahren gewährte, sondern auch auf eine Art Tagebuch, das Romney als aktiver Politiker beflissen führte. Als Vorarbeit für seine Memoiren gedacht, die vermutlich ungeschrieben bleiben, enthält es Romneys stichwortartige Aufzeichnungen über ereignisreiche Tage und Momente der Introspektion sowie immer wieder kurze, aber treffende Charakterporträts seiner prominenten Zeitgenossen.
Coppins lässt die Worte Romneys gekonnt in seine eigene Erzählung einfließen, sodass ein bisweilen intimes Porträt eines Mannes entsteht, dessen nach außen stets kontrolliertes, auf Hochglanz poliertes Auftreten auf den ersten Blick kein sonderlich tiefgehendes Seelenleben vermuten lässt. Coppins Buch belegt, dass die Romney über seine Karriere begleitende und vor allem im Präsidentschaftswahlkampf 2012 oftmals gezeichnete Karikatur des gefühllosen Politautomaten nicht zutrifft.
Stattdessen begegnet Romney dem Leser im Laufe der Lektüre als Politiker, der in einem für seine Zunft ungewöhnlich hohen Maße zur Selbstreflexion fähig ist, aufgrund derer er stets mit sich selbst und den Umständen hadert. Sich seiner analytischen und rhetorischen Fähigkeiten bewusst und durchdrungen von der Überzeugung, dass er aufgrund seiner privilegierten Herkunft – Romneys Vater George war Vorstandsvorsitzender eines großen Automobilkonzerns, Gouverneur des Bundesstaates Michigan und 1968 selbst Präsidentschaftskandidat – dazu verpflichtet sei, diese Fähigkeiten zur Förderung des öffentlichen Wohls einzusetzen, strebte Romney sein Leben lang immens hohen Ansprüchen nach, bei deren Hochschrauben der Mormonismus, eine Glaubensgemeinschaft mit einer in den USA einflussreichen Gefolgschaft, der Romney angehört, eine erhebliche Rolle spielt. Er fördert gezielt das Gefühl des „Auserkorenseins“, das bei Romney stets unterschwellig mitschwingt.
Dieses überhöhte Selbstbild ließ Romneys Naherfahrung mit dem politischen Betrieb für ihn zur seelischen Tortur werden. Denn das Selbstverständnis als sachorientierter und moralisch unanfechtbarer Staatsdiener ist nur schwer vereinbar mit der Realität des Politikerdaseins im modernen Medienzeitalter. Um politische Ämter zu erringen, musste Romney immer wieder Kompromisse eingehen, die ihm in Wahrheit zuwider waren, Positionen öffentlich vertreten, an die er nicht glaubte, und sich mit Personen gemein machen, die er verachtete. Man nimmt Romney ab, dass er, wie Coppins eindrücklich schildert, vor jedem dieser Seelenausverkäufe mit sich rang. Letztlich entschied sich Romney jedoch stets dafür, seiner Ambition nachzugeben, getragen von der Überzeugung, dass er jedes begangene Übel in der dadurch erlangten Position wiedergutmachen könne. Darin liegt die von Coppins beschriebene persönliche Hybris Romneys – selbstgerecht richtet er darüber, wann er die selbstgesetzten Maßstäbe gemäß einer eigens getroffenen moralischen Abwägung unterlaufen darf.
Begegnungen mit Trump
Dass man sich beim Jonglieren moralischer Prinzipien und taktischer politischer Notwendigkeiten auch verstolpern kann, zeigt Romneys Umgang mit Donald Trump, jenem Mann, der vier Jahre nach ihm 2016 unerwartet die Nominierung der Republikaner gewann und ins Weiße Haus einzog. 2012 war Trump ein berüchtigter Fernsehstar und Besitzer einer dubiosen Immobilienfirma, der seine eigene Bekanntheit zu steigern versuchte, indem er sich an die Spitze des Birther Movements setzte, einer Bewegung am Rande der Republikanischen Partei, die anzweifelte, dass Barack Obama in den USA geboren wurde und so die Legitimität seiner Präsidentschaft zu untergraben versuchte. Coppins’ Schilderung verdeutlicht, dass Romney die Birther-Bewegung als rassistisch und potenziell gefährlich erachtete.
Trump selbst war für ihn nicht mehr als ein oberflächlicher Selbstdarsteller, der, wie Romney seinerzeit notierte, im persönlichen Umgang durchaus „unterhaltsam“ sein könne, letztlich jedoch eine „unseriöse Figur“ bleibe. Schließlich unterschätzte er den ihm in Auftritt, Verhalten und Wertvorstellungen diametral entgegengesetzten Trump, weshalb er auch keine Bedenken sah, sich im Februar 2012 in einer gemeinsamen Pressekonferenz dessen Unterstützung im Wahlkampf gegen Obama aussprechen zu lassen. Ähnlich wie John McCain, der sich 2008 genötigt sah, sich die populistische Sarah Palin als Vizepräsidentschaftskandidatin an seine Seite zu holen, redete sich Romney ein, die radikalen Ränder seiner Partei prominent einbinden zu müssen, auch wenn er deren Positionen keineswegs teilte, um seinen Sieg zu sichern.
Wie Romney diese besonders schwerwiegende Verrenkung seines moralischen Gewissens als gewählter Präsident wiedergutgemacht hätte, bleibt spekulativ, denn die Rechnung, ein vermeintlich kontrolliertes Ventil für die sich anstauende populistische Energie innerhalb der Republikaner zu öffnen, ging, wie bereits im Falle McCains 2008, bekanntlich nicht auf. Doch Hinweise darauf, wie Romney mit der erlangten Machtfülle umgegangen wäre, bietet seine Amtszeit als Gouverneur von Massachusetts.
Im einzigen politischen Exekutivamt, das er innehatte, erwies sich Romney zwischen 2003 und 2007 als ausgesprochen pragmatischer, ideologiefreier Gouverneur, der etwa einen parteiübergreifenden Kompromiss zur Krankenversicherungsreform schmiedete, der unter dem Titel Romney Care maßgebend wurde und auch Barack Obama bei seiner eigenen Reform auf Bundesebene als Musterbeispiel diente. Es blieb Romney verwehrt, eine vergleichbare Politik als Präsident umzusetzen – den Anspruch, so darf man Coppins glauben, hätte er zweifelsfrei gehabt.
Stattdessen verbrachte er die Jahre nach seiner Niederlage gegen Obama 2012 damit, die Salonfähigkeit Trumps, die er entscheidend mit herbeigeführt hatte, wieder rückgängig zu machen. Spät, aber dafür besonders klar warnte Romney vor Trump und die von ihm ausgehende Gefahr nicht nur für den Fortbestand der Republikaner, wie Romney sie verkörpert hatte, sondern auch für die amerikanische Demokratie. Im Sommer 2016 konstatierte er, dass Trump „ohne Frage ein geistig instabiler, rassistischer, bigotter, misogyner Xenophob“ sei. Daher unternahm er bis zuletzt alles, ein Bündnis moderater Kräfte innerhalb der Republikanischen Partei zu bilden, um Donald Trumps Nominierung zu verhindern. Er scheiterte am „abgrundtiefen Selbstinteresse“ sämtlicher Mitglieder des republikanischen Establishments, wie er klagend notierte.
Einst Romneys Protegé: J. D.Vance
Mit dem Zynismus seiner Parteikollegen kollidierte Romney auch im US-Senat, in den er 2018 als Vertreter Utahs gewählt wurde. Bezeichnend ist seine Reaktion auf den einige Jahre später gewählten Senator J. D. Vance aus Ohio und Running Mate Trumps im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf. Romney hatte den jungen Erfolgsautor des Bildungsromans Hillbilly Elegy aktiv als Zukunft des moderaten Konservatismus protegiert. Zwei Jahre später war Vance mit Unterstützung einer Pro-Trump-Plattform in den Senat eingezogen, was Romney dazu veranlasste, seinem Tagebuch die Frage zu stellen, „wie man mit einem solchen Menschen kollegial zu Mittag essen soll?“
Frei von taktischen Zwängen, da kein weiteres Amt mehr anstrebend, fixierte sich Romney derart auf seine Position als führender parteiinterner Kritiker Trumps, dass ihn der von Trump auf das Capitol gehetzte Mob am 6. Januar 2021 ebenfalls im Visier hatte.
Es sind die dramatischsten Stunden seiner Karriere – Romney rennt während der Stürmung des Capitols um sein Leben. Zwischen den Ereignissen des 6. Januar, im Zuge derer Romney als einer der wenigen prominenten Republikaner öffentlich gegen Trump Stellung nahm, und seiner Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Partei, deren Anhänger kurz zuvor sein Leben bedroht hatten, lagen wenige Jahre.
Boris Johnsons Opfer
Von der Windeseile, in der sich eine Partei wandeln kann, kann auch der britische konservative Politiker Rory Stewart berichten, im Sommer 2019 nach dem Rücktritt Theresa Mays einer der führenden Kandidaten für die Übernahme des Amts des britischen Premierministers. Wenige Monate später, nachdem Boris Johnson den Diadochenkampf um Mays Nachfolge für sich entschieden hatte, war Stewarts politische Karriere vorläufig beendet. Die neue Führung um Boris Johnson, den Stewart im parteiinternen Wahlkampf als potenziell gefährlichen Populisten erbittert bekämpft hatte, hatte ihn kurzerhand aus der Partei ausgeschlossen.
Wie es dazu kommen konnte, dass sich die Tories, deren Selbstverständnis stets das einer seriösen, staatstragenden Partei war, einer so grundsätzlich unseriösen Figur wie Boris Johnson hingeben konnten, versucht Stewart in seinen Memoiren über seine neun Jahre in der Politik nachzuvollziehen. Es sind Memoiren voller düsterer und düster-amüsanter Episoden, die aus seinem offenkundig tiefsitzenden Frust über die Dysfunktionalität des politischen Systems heraus bisweilen brillant zu Papier gebracht wurden. Wie er das kühle, etwas verspielte Lächeln des ehemaligen Schatzkanzlers George Osborne mit jenem „eines französischen Kardinals aus dem 18. Jahrhundert“ vergleicht oder zwei ergraute US-Senatoren als „Marmorstatuen“ beschreibt, sind gestochen scharfe Beobachtungen, die eines Romanciers würdig wären.
Auf jeder Ebene – vom Hinterbänkler über den Kabinettsminister bis zum Premierminister – findet Stewart Oberflächlichkeit, wo eigentlich Tiefe sein sollte, Frivolität statt Ernsthaftigkeit, Zynismus statt Idealismus. Ebenso wie für Mitt Romney war Stewarts Konfrontation mit den Realitäten des politischen Betriebs äußerst schmerzvoll. Überhaupt scheint bei aller Verschiedenheit der spezifischen politischen Kontexte zwischen den politischen Schicksalen, die Stewart und Romney widerfuhren, eine Parallelität zu bestehen. Als Sohn eines hochdekorierten Kriegsveteranen des Zweiten Weltkriegs, der später als Spitzendiplomat und Geheimdienstoffizier diente, wurde auch Stewart bereits in jungen Jahren darauf getrimmt, hohe Staatsämter auszufüllen. Die Ausbildung an den einschlägigen elitären Bildungseinrichtungen des Vereinigten Königreichs stählte Stewarts Gefühl von „noblesse oblige“, dem er als Angehöriger der britischen Oberklasse glaubte nachkommen zu müssen.
Wie im Falle Romneys ist dieses Selbstbild Stewarts als moralisch erhabener „Philosophenkönig“ ein zutiefst hybristisch-überhebliches. Es führte ebenfalls zur Selbstblendung, sodass Stewart die Macht Johnsons genauso unterschätzte wie Romney die Trumps. Für beide war der Siegeszug des Populismus in ihren Parteien eine Erfahrung in kognitiver Dissonanz – ihre selbstgeschriebenen Karrierescripts hatten ihn schlicht nicht vorgesehen. Nun mag man die Naivität dieser beiden Persönlichkeiten belächeln, ihre Arroganz kritisieren und ihr Engagement gegen ihre populistischen Widersacher als zu spät und als zu gering abtun. Doch in Anbetracht der toxischen Kräfte, die ihnen gefolgt sind, darf man vielleicht auch bedauern, dass im Zeitalter des Populismus für Politiker ihres Schlags, für Moderation, Nuance und Anstand in zwei der bedeutendsten konservativen Parteien des Westens wenig bis gar kein Platz vorhanden zu sein scheint.
Lukas Paul Schmelter, geboren 1994 in München, Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, Historiker, 2021 bis 2022 Ernest May Fellow am Belfer Center for Science and International Affairs der Harvard Kennedy School.