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Die Lage in den Kitas zeigt, wie ein System an seine Grenzen kommt

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Die deutsche Bildungspolitik erscheint zuweilen wie Loch Ness. Sie dümpelt ruhig vor sich hin, bis das Ungeheuer in Form von Vergleichsstudien hervorkommt. Die IGLU-Studie 2023 (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) bescheinigt Grundschülern eine seit 2016 abnehmende Lesekompetenz. Jeder vierte Viertklässler kann nicht richtig lesen. Eine der Konsequenzen ist eine frühere Sprachförderung, die bereits in der Kita beginnen soll. Die mediale Aufregung ist groß, wie so oft nach Vergleichsstudien der letzten Jahre. Doch danach lässt die Aufregung nach, Forderungen und Maßnahmen verschwinden in Klärungsprozessen zwischen Zuständigkeiten und Finanzen.

Nicht ganz so groß ist die Erregung nach Veröffentlichungen über die Situation im frühkindlichen Bereich. Dabei hatten es die Zahlen in diesem Jahr in sich: Bundesweit stehen 2023 deutlich weniger Kita-Plätze zur Verfügung als benötigt. Nach Berechnungen der Bertelsmann Stiftung fehlen 384.000 Plätze vor allem im Westen und eine kindgerechte Personalausstattung vor allem im Osten. In einem möglichst frühen Kita-Besuch und einer möglichst frühen Förderung der Kinder sehen Bildungsexperten und -expertinnen eine wichtige Voraussetzung für den Eintritt in die Grundschule. Dabei ist nicht nur die frühe Sprachförderung in der Kita bedeutend: Nach Berichten vieler Grundschullehrerinnen mangelt es auch an Fertigkeiten der Feinmotorik, Gruppenerfahrung und im Einüben von Stillsitzen. Die Bedeutung frühkindlicher Bildung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dessen war man sich bereits vor zehn Jahren bewusst. Frühkindliche Bildung wurde nicht nur als Schlüssel für den weiteren Bildungsverlauf, sondern auch als Voraussetzung zur Integration von Kindern mit Migrationshintergrund erachtet. Keine Talkshow, in der die frühkindliche Bildung nicht als Allheilmittel für die gesellschaftlichen und schulischen Probleme diskutiert wurde. Mittlerweile ist Ernüchterung eingekehrt.

Der kontinuierliche Kita-Ausbau in den letzten achtzehn Jahren hat nicht zu den gewünschten Erfolgen geführt. Nach wie vor klafft eine große Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Im Jahr 2021 meldeten knapp 47 Prozent der Eltern mit Kindern zwischen einem und drei Jahren Betreuungsbedarf an. Die reale Betreuungsquote betrug allerdings nur 34,4 Prozent. In der Altersspanne von drei Jahren bis zum Schuleintritt beläuft sich die reale Betreuungsquote auf 92,2 Prozent. Vor allem bei den Kindern unter drei Jahren klafft die Lücke erheblich. Das ist nicht nur für Eltern von erheblicher Bedeutung, sondern auch politisch. Schließlich hat jedes Kind vom ersten Lebensjahr bis zur Einschulung, unabhängig von Beschäftigung und Einkommen seiner Eltern, einen Rechtsanspruch auf Tagesbetreuung. Es scheint, als habe das Ungeheuer von Loch Ness seinen Schrecken verloren.

 

Großer Mangel an pädagogischen Fachkräften

Als wäre das Problem fehlender Kita-Plätze nicht genug, so wird der Anspruch zusätzlich dadurch konterkariert, dass es immer schwerer wird, eine verlässliche Betreuung zu gewährleisten. Nach konservativer Schätzung fehlen bis 2025 vor allem in westlichen Bundesländern 179.000 pädagogische Fachkräfte (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. September 2022). Das hat erhebliche Auswirkungen auf die Qualität der Kinderbetreuung und die frühkindliche Bildung in den Kitas. Hochgerechnet arbeiteten 2022 etwa 10.000 Kitas in mehr als der Hälfte der Zeit mit zu wenig aufsichtsrelevantem Personal, so der Verband Bildung und Erziehung (VBE 2023). Laut einer aktuellen Umfrage des VBE gaben 94 Prozent der Kitaleitungen an, dass ihnen nicht einmal die personelle Mindestbesetzung zur Erfüllung des rechtlichen Rahmens zur Verfügung steht.

Was bedeutet diese Entwicklung für berufstätige Eltern? Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird immer schwieriger. Daher müssen die Großeltern einspringen, und wohl dem, der Großeltern in der Nähe hat. Wie der Deutsche Alterssurvey 2021 nachweist, beteiligt sich ein Drittel der über 60-Jährigen, die ein Enkelkind unter achtzehn Jahren haben, an dessen Betreuung. Die Bedeutung der Großeltern für die Betreuung der Kinder im Familienalltag ist nicht zu unterschätzen, da die Verlässlichkeit der Kinderbetreuung in den Kitas angesichts des Personalmangels in den letzten Jahren immer fragiler geworden ist. Eine aktuelle Befragung des Deutschen Kitaverbandes 2023 ergab, dass 69 Prozent der Träger ihre Öffnungszeiten bereits teilweise reduzieren; 58 Prozent haben ihre Aktivitäten mit den Kindern bereits eingeschränkt.

 

Warnung vor dem Kitakollaps

Kitas reagieren mit unterschiedlichen Maßnahmen auf die Mangelsituation. So ist es durchaus möglich, dass Eltern trotz eines verbindlichen Betreuungsvertrags über eine „Kita-Ampel“, die verschiedene Warnstufen anzeigt, auf ihrem Handy kurzfristig erfahren, dass sich die Einrichtung nicht in der Lage sieht, ihr Kind in der vereinbarten Zeitdauer aufzunehmen. Daneben gibt es eine Fülle anderer Modelle: Es gibt Kitas, die ihr Stundenkontingent für die Betreuung pro Tag gekürzt haben, sodass es für berufstätige Eltern kaum möglich ist, ihre Arbeitszeit damit zu vereinbaren. Es gibt auch Kitas, die nur alle vierzehn Tage die Betreuung des Kindes gewährleisten können. Andere Kitas wiederum bieten nur an drei Tagen in der Woche die volle Stundenzahl an. Zu allem Überfluss gibt es noch Kitas, die aus Personalmangel oder weil sich Träger der evangelischen und katholischen Kirche immer stärker zurückziehen, schließen müssen.

Die Lage ist ernst. Viele Eltern können ihrem Beruf nicht nachgehen, wie etwa Berichte über Lehrerinnen zeigen, die nach der Elternzeit nicht den dringend benötigten Unterricht in der Schule abhalten können, weil ihr Kind keinen Kitaplatz erhalten hat. Vielen Kindern fehlt zudem die benötigte Förderung. Kinder aus armutsgefährdeten und von Armut betroffenen Familien haben das Nachsehen. Nur jedes vierte Kind wird aktuell in einer Kita betreut. Ebenso gering ist die Betreuungszahl der Kinder aus Migrantenfamilien, die kein Deutsch sprechen (BIB 2023). Nicht besser ergeht es Kindern aus Flüchtlingsfamilien. Wie aktuelle Forschungen zeigen, besucht nur jedes zweite geflüchtete Kind aus der Ukraine bis einschließlich sechs Jahren eine Kindertagesbetreuung. Der Kitabesuch ist nicht nur wichtig, um die Sprache zu lernen und Freunde zu finden, sondern auch für die Eltern, um an Sprachkursen teilzunehmen und arbeiten zu können.

Stehen wir vor einem Kitakollaps? So sehen es jedenfalls mehr als 150 Forschende aus den Bereichen Frühkindliche Bildung, Kindheitspädagogik sowie Bildung und Erziehung im Kindesalter und fordern die Politik zum Handeln auf (Nifbe 2022). Sie sehen die akute Gefahr, dass sich Kitas zur reinen Aufbewahrungsstätte entwickeln, und fordern deutlich verbesserte finanzielle sowie fachliche Anstrengungen, um das Kita-System zu stärken. Wie alarmierend die Situation ist, zeigt ein Bündnis von 89 Organisationen aus Stiftungen, Verbänden und Gewerkschaften, die die Regierungschefinnen und -chefs der Bundesländer und den Bundeskanzler im Juli 2023 dazu aufriefen, einen grundlegenden Reformprozess in der Bildung einzuleiten (#NeustartBildung Jetzt 2023).

Jetzt stellt sich die Frage: Was ist in den letzten Jahren eigentlich passiert? Wurde die Zahl der Kita-Plätze nicht permanent erhöht? Die Bilanz des letzten Jahrzehnts sieht auf den ersten Blick gar nicht so schlecht aus. So hat sich die Betreuungsquote seit 2008 im Durchschnitt von 17,6 Prozent auf 35 Prozent im Jahr 2020 fast verdoppelt. Ebenfalls hat sich die Zahl der Erzieherinnen in den letzten fünfzehn Jahren verdoppelt; im Bereich der frühkindlichen Bildung arbeiteten im vergangenen Jahr mehr als 880.000 Menschen. Mit dem „Gute-Kita-Gesetz“ unterstützt der Bund die Länder bei der Verbesserung der Kita-Qualität mit 5,5 Milliarden Euro. Seit Januar 2023 stellt der Bund den Ländern für die kommenden zwei Jahre jeweils zwei Milliarden Euro zur Verfügung, um angemessene Rahmenbedingungen für gute Kitas zu schaffen. Von politischer Seite wurde viel unternommen. So sieht der Blick von den schottischen Highlands auf Loch Ness aus.

Mit dem Kita-Ausbau seit 2005 fand jedoch auch ein gesellschaftlicher Wandel statt, der sich in der gestiegenen Erwerbsquote von Müttern und dem Wandel der Familien feststellen lässt. So stieg der Anteil erwerbstätiger Mütter von 2004 bis 2019 von 61 Prozent auf 74,7 Prozent (Destatis 2021). Die traditionelle Halbtagstätigkeit der vergangenen Jahrzehnte am Vormittag wurde durch Wochentage mit ungleichmäßig verteilter Arbeit abgelöst, die eine flexible Betreuung notwendig machen.

Schließlich ist Elternschaft von den traditionellen Eltern über Patchworkfamilien und Alleinerziehende vielfältiger und auch kulturell diverser geworden. Diese Entwicklung wurde in den letzten Jahren durch mehrere Flüchtlingswellen aus Syrien, Afghanistan und der Ukraine verstärkt. Damit kommt der Sprachförderung in der Kita eine neue zentrale Bedeutung zu. Das Sprachförderprogramm des Bundes ist allerdings zum 30. Juni 2023 ausgelaufen. Das ist für viele Kitas ein Problem. Zudem hat die Ausbildung der Erzieherinnen mit dem gestiegenen Anforderungsprofil an die frühkindliche Bildung nicht mitgehalten.

Was bedeutet nun der hier nur rudimentär skizzierte gesellschaftliche Wandel für die Weiterentwicklung der Kitas? Die Qualität der Kitas hat den Entwicklungen nicht standgehalten. Immer mehr Aufgaben und gestiegene Ansprüche an die Förderung der Kinder bei weniger Personal mussten die Kitas in den letzten Jahren bewältigen.

 

„Zuständigkeitswirrwarr und Träger-Labyrinth“

Wo müsste man ansetzen? Die Gründe und Ansatzpunkte der Kinderbetreuung in Deutschland sind vielfältig. Ein Ansatzpunkt sind die politischen Rahmenbedingungen. „Weil sich die Zuständigkeiten der drei Regierungsebenen Bund, Länder und Gemeinden in Verbindung mit vielen freien Trägern überschneiden und föderale Strukturen ohne verbindliche Standards ihr Übriges hinzutun, gleicht die frühkindliche Bildung hierzulande einem Flickenteppich. Mit anderen Worten: Kennzeichnend für unseren Kitabereich ist ein politisches Zuständigkeitswirrwarr und Träger-Labyrinth“ (Wehrmann 2023). Dieses Zuständigkeitswirrwarr wird gesteigert durch sechzehn unterschiedliche Bildungspläne inklusive Sprachförderprogramme der einzelnen Länder sowie Qualitätsmanagementhandbücher der einzelnen Träger, nach deren Maßgabe sie ihre Einrichtungen evaluieren. Angesichts dieses Zuständigkeitswirrwarrs sehen Experten einen wichtigen Schritt in der Zusammenlegung der gemeinsamen Fach- und Dienstaufsicht für Kindertagesbetreuung und Schulen in einer einzigen Behörde sowie in einer einheitlichen ministeriellen Zuordnung auf Bundesund Länderebene für beide Bereiche. Neben zahlreichen Vorschlägen zur Verbesserung der Kitasituation bleibt die Behebung des Personalmangels zentrales Problem. Wie könnte diese Personallücke geschlossen werden? Nach einhelliger Meinung: überhaupt nicht. „Für dieses Jahrzehnt wird ausgeschlossen, dass eine kindgerechte Personalausstattung bei gleichzeitig ausreichendem Platzangebot realisierbar ist“ (Wehrmann 2023).

Ohne eine große Kraftanstrengung wird sich demnach nichts mehr verbessern. Der Deutsche Kitaverband sowie Experten und Expertinnen haben eine Reihe von Reformansätzen vorgeschlagen. Sie reichen von einer größeren Flexibilität und Vielfalt an Professionen in den Teams bis hin zur Anerkennung in- und ausländischer Abschlüsse (Wehrmann 2023).

Es liegen viele Vorschläge von Initiativen, Experten, Organisationen und Verbänden auf dem Tisch: Sie fordern unter anderem einen nationalen Bildungsgipfel als starkes Signal, die frühkindliche Bildung zur gemeinsamen Chefsache zu erklären. Es könnte ein Auftakt zu einem kontinuierlichen Dialog- und Reformprozess sein.

Wir sollten nicht länger wegschauen, wenn im Loch Ness ein Ungeheuer nach dem anderen in Form internationaler Vergleichsstudien und nationaler Erhebungsdaten auftaucht. Kurzfristige Empörung hilft nicht weiter. Es muss gehandelt werden!


Christine Henry-Huthmacher, bis Juli 2021 zuständig für Frauen- und Familienpolitik, Hauptabteilung Analyse und Beratung, Konrad-Adenauer-Stiftung.

 

Literatur

Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB): „Weiterhin Ungleichheit bei der Kita-Nutzung“, in: Bevölkerungsforschung Aktuell, Nr. 2/2023, Wiesbaden 2023.
Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Mehr als 150 Wissenschaftler sehen Kita-System vor dem Kollaps“, 07.09.2022.
#NeustartBildungJetzt: Appell an den Bundeskanzler und die Länderchefinnen und -chefs , Juni 2023, https://neustart-bildung-jetzt.de/ [letzter Zugriff: 27.07.2023].
Niedersächsisches Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung (Nifbe): „Das Kita-System steht vor dem Kollaps“. Wissenschaftler*innen fordern Politik zum Handeln auf, Osnabrück 2022.
Statistisches Bundesamt (Destatis): Drei von vier Müttern in Deutschland waren 2019 erwerbstätig, Pressemitteilung Nr. N 017, Wiesbaden, 05.03.2021.
Verband Bildung und Erziehung (VBE): DLKL-Studie 2023. Themenschwerpunkt: Personalmangel in Kitas im Fokus. Eine bundesweite Befragung unter 5.387 Kitaleitungen, Düsseldorf, 21.03.2023.
VBE: Notstand an Kitas. Gesundheit von Kindern und Fachkräften schützen, Pressedienst, Berlin, 09.02.2023.
Ilse Wehrmann: Der Kita-Kollaps. Warum Deutschland endlich auf frühe Bildung setzen muss!, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2023.


Weitere Artikel zur Diskussion finden Sie in unserer Ausgabe „KINDER - Ohne Lobby?“, www.kas.de/de/web/die-politische-meinung/ausgaben/detail/-/content/kinder-ohne-lobby, besonders den Beitrag „Vor dem Kollaps? - Anspruch und Wirklichkeit der Kindertagesbetreuung“ von Ilse Wehrmann, www.kas.de/de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/vor-dem-kollaps.

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