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Der Einfluss von Ideologien auf Großmachtkonflikte

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Die Vorstellung, dass Ideologie und Machtpolitik eng miteinander verbunden sind, ist in der europäischen Geschichte gang und gäbe. Große ideologische Umwälzungen gelten als Vorboten schwerer zwischenstaatlicher Konflikte. Im 16. und 17. Jahrhundert waren die Konfessionskriege nicht nur Bürgerkriege, sondern auch Konflikte zwischen Staaten, wie etwa zwischen England und Spanien. Selbst die Französische Revolution mit ihrer Entschlossenheit, „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ im restlichen Europa zu verbreiten, stürzte den Kontinent in einen mehr als zwanzig Jahre andauernden Flächenbrand, bei dem es ebenso um den Wunsch, die exorbitante Macht Frankreichs einzudämmen, wie um die Wiederherstellung der „alten Ordnung“ ging.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der Kampf gegen den Bolschewismus mit dem lange anhaltenden Bestreben verknüpft, den russischen territorialen Expansionismus in Schach zu halten. Aus diesem Grund sprechen die renommierten Historiker Vladimir Zubok und Constantine Pleshakov, die sich mit sowjetischer Außenpolitik befassen, davon, diese sei von einem „revolutionär-imperialistischen Paradigma“, das heißt von einer Mischung aus zaristischer und leninistischer Tradition, geleitet. In ähnlicher Weise war auch die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus eine Fortsetzung des bereits bestehenden Kampfes gegen die deutsche Vorherrschaft in Europa. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts stand im Zeichen des Kalten Krieges, der zum einen eine Konfrontation zwischen kommunistischer Diktatur und kapitalistischer Demokratie und zum anderen einen Wettstreit um die geopolitische Vorherrschaft zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten darstellte.

 

„Neues politisches Denken“

 

Dieser Zusammenhang war jedoch nie einfach. Ideologien waren oft Triebfeder für Konflikte zwischen Großmächten, sie konnten allerdings auch quer über deren Grenzen hinausgehen. Die intensivste Großmachtrivalität im 16. und 17. Jahrhundert bestand zwischen dem katholischen habsburgischen Spanien und dem katholischen Frankreich. Einige der treuesten Verbündeten des revolutionären und napoleonischen Frankreichs waren deutsche Fürsten, die hofften, den Umbruch nutzen zu können, um sich von der österreichisch-preußischen Vormundschaft zu emanzipieren. Die Sowjetunion ging, zumindest zeitweise, eine enge Verbindung mit Nazideutschland ein, die auf der gemeinsamen Feindschaft gegen die „angelsächsischen“ Mächte beruhte. Beide fühlten sich von dem ausgeschlossen, was sie als ihren Anteil an den Ressourcen der Welt betrachteten. Ebenso nutzten Richard Nixon und Henry Kissinger die chinesisch-sowjetische Spaltung aus, um eine der kommunistischen Mächte, die Sowjetunion, gegen eine andere, die Volksrepublik China, auszuspielen.

In den späten 1980er-­Jahren stellte Michail Gorbatschows „Neues politisches Denken“ – oder einfach „Neues Denken“ – in der Sowjetunion schließlich die globale Geopolitik auf den Kopf. Was als Glasnost („Offenheit“) und Perestroika („Wiederaufbau“) begann, mündete bald in das Ende des Ost-West-Konflikts. Am Ende des Jahrzehnts erlaubte die neue „Sinatra-Doktrin“ Gorbatschows – eine Anspielung auf das weltbekannt gewordene Lied Frank Sinatras My Way – den Satellitenstaaten, „ihren Weg“ zu gehen, und beendete rasch den Kalten Krieg.

Großmachtkonflikte schienen der Vergangenheit anzugehören und wurden von Globalisierung, transnationalen Prozessen und sonstigen Belangen, wie etwa Umweltthemen, abgelöst. Gleiches gilt auch für grundlegende ideologische Konflikte, wie die weit verbreitete Annahme (basierend auf einer verzerrten Sichtweise der eigentlichen Aussagen von Francis Fukuyama), dass die Geschichte mit dem Triumph des westlichen liberalen Kapitalismus „beendet“ sei. Dies war stets eine recht optimistische Sichtweise, da die Regierung der Volksrepublik China nach der Niederschlagung der demokratischen Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Juni 1989 den machtpolitischen und den ideologischen Kampf mit Vehemenz weiterführte. Westliche Beobachter verwechselten die Entschlossenheit Pekings, sich wirtschaftlich zu modernisieren, um es mit den Vereinigten Staaten aufzunehmen, fälschlicherweise mit dem Beginn einer unaufhaltsamen politischen Öffnung.

Die Terroranschläge vom 11. September 2001 räumten endgültig mit der Vorstellung auf, die Feinde des Westens würden still und leise in die Nacht der Geschichte eingehen. Paradoxerweise hielten sie auch die Fiktion am Leben, dass Großmachtpolitik der Vergangenheit angehörte. Konventionelle Kriegsführung war out, komplexe Krisensituationen waren in. Nation Building, nicht Abschreckung, lautete das Gebot der Stunde. In den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts wurde Wladimir Putins Russland weithin als Verbündeter im Kampf gegen den Islamismus im „Globalen Krieg gegen den Terror“ erachtet. Diejenigen, die wie der Autor dieses Beitrags davor warnten, dass Russland an der Ostflanke Europas „noch etwas zu erledigen“ habe, wurden als Überbleibsel des Kalten Krieges abgetan.

Heute, nach dem russischen Angriff auf die Ukraine und angesichts der Spannungen mit der NATO im Baltikum, der wiederholten Drohungen Pekings gegen Taiwan und des Wirtschaftswachstums der Volksrepublik China ist klar, dass die Großmachtpolitik erneut aufgelebt ist. Manchmal wird dabei übersehen, dass diese Kämpfe sowohl ideologischer als auch geopolitischer Natur sind.

 

Internationaler Klassenkonflikt

 

Das Russland Wladimir Putins ist nicht nur eine militärische Bedrohung für die Ostflanke Europas und eine störende Kraft im Nahen Osten, sondern auch ein ideologischer Gegenpol zum Westen. Putin stellt die „souveräne Demokratie“ – ein Konzept, das ausschließlich mit Souveränität und sehr wenig mit Demokratie zu tun hat – über den Rechtsstaat und die Freiheit von Einmischung von außen über politische Teilhabe und Menschenrechte. Einige europäische Regierungen, wie die von Viktor Orbán in Ungarn, stimmen mit ihm überein, ebenso wie viele Wähler in Europa und den Vereinigten Staaten.

Besonders deutlich wird diese Haltung im „Kulturkampf“, den Putin zu nutzen versucht, um die Einheit des Westens zu untergraben. Ähnlich wie im Russland des frühen 19. Jahrhunderts hat er sich als Verteidiger traditioneller christlicher Werte gegen den gottlosen, gar perversen Westen positioniert. Daher rührt auch seine Fokussierung auf die gleichgeschlechtliche Ehe und andere vermeintliche Auswüchse westlicher „Freizügigkeit“.

Weniger diskutiert, jedoch vielleicht viel wichtiger, ist die tiefe ideologische Kluft zwischen dem „Westen“ und seinen Herausforderern in der grundlegenden Frage, wie die Weltordnung aussehen sollte. Sie lehnen die gesamte Idee einer liberalen internationalen Ordnung ab; nicht nur aus inhaltlichen, sondern auch aus praktischen Gründen. Für Russland, die Volksrepublik China und noch mehr für kleinere Akteure wie den Iran scheint das gesamte System der globalen Governance gegen sie gerichtet zu sein. Wie die alte Sowjetunion und die Achsenmächte – Nazideutschland, das faschistische Italien und das kaiserliche Japan – betrachten sie sich als die globalen „Habenichtse“. Einst von den „angelsächsischen“ Mächten, den „Besitzenden“, unterdrückt, bezeichnen sie heute die „angelsächsische“ Hegemonie und den globalen Kapitalismus mit auffallend ähnlichen Begriffen.

Diese Mächte sehen den gegenwärtigen Kampf als eine Form des internationalen Klassenkonflikts, bei dem die Protagonisten nicht die Bourgeoisie und das Proletariat sind, sondern etablierte und aufstrebende Staaten. Sie fordern daher mehr „Demokratie“ innerhalb des internationalen Gefüges und nicht innerhalb der Staaten, womit sie die Anerkennung ihrer souveränen Macht meinen und (auch, wenn sie es nicht so ausdrücken) das Recht, ihre eigene Bevölkerung und vielleicht auch ihre Nachbarn zu unterdrücken.

 

Westliche Weltanschauung und regionale Eigenheiten

 

Die Ukraine ist das klassische Beispiel für das Zusammenspiel von Ideologie und Geopolitik. Es stimmt, dass Putin auf das militärische und politische Vordringen der Europäischen Union und der NATO an seinen Grenzen reagierte. Ebenso richtig ist, dass er die Anziehungskraft fürchtete, die eine freie, wohlhabende und demokratische Ukraine auf die Bevölkerung Russlands ausüben und damit sein Regime untergraben könnte. Als Polen und die Ukraine aus dem Kommunismus hervorgingen, waren ihre Volkswirtschaften im Großen und Ganzen auf dem gleichen Stand; dreißig Jahre später liegen sie weit auseinander. Was Putin um jeden Preis vermeiden möchte, sind ähnliche Vergleiche zwischen Russland und einer europafreundlichen Ukraine. Schließlich war die Erweiterung der Europäischen Union und nicht die der NATO Auslöser für seinen ersten Angriff auf die Ukraine im Jahr 2014.

Ein anderes Beispiel ist der Iran, der sich als revolutionäre Kraft in der Region versteht, mit dem Auftrag, sowohl die säkularen nationalistischen Diktaturen als auch die konservativen Scheichtümer zu unterminieren. In jüngster Zeit wurde der Kampf für die Rechte der Frauen mit dem langen Kampf der Islamischen Republik mit den Vereinigten Staaten um die regionale Vorherrschaft am Golf verknüpft. Die Proteste wurden als Versuch des „Großen Satans“ in Washington abgetan, die innenpolitische Stabilität des Staates zu untergraben; das erklärt die außerordentliche Härte des Durchgreifens.

Die gegenwärtige ideologische Kluft ist also nicht so sehr ein Zusammenprall von Weltanschauungen, wie es bei der Konfrontation zwischen den beiden Blöcken während des Kalten Krieges der Fall war, sondern ein Kampf zwischen der westlichen Weltanschauung in ihren unterschiedlichen Facetten und einer ganzen Reihe regionaler Eigenheiten in Russland, im kommunistischen China, in der iranischen Theokratie und so weiter. Unsere Gegner sehen sich als Verteidiger der nationalen Souveränität und der Vielfalt der Staatsformen gegen die gleichmacherischen Tendenzen des „Westens“.

Die ideologische Kluft zieht sich jedoch – wie schon so oft in der Vergangenheit – quer durch den geopolitischen Kampf und treibt ihn voran. In Europa liegen Ungarn und Polen in den Kulturkriegen eng beieinander, sind allerdings in ihrer Haltung gegenüber Russland, das von Orbán hofiert und von den Polen mit großem Misstrauen betrachtet wird, erbittert zerstritten. Auch zwischen den konservativen britischen Euroskeptikern und ihren kontinentaleuropäischen Entsprechungen gibt es zwar viele Gemeinsamkeiten, aber die Briten sind viel eher bereit, die russische Aggression in der Ukraine zu verurteilen. Im Nahen Osten ist Saudi­Arabien trotz seiner repressiven Haltung im eigenen Land nach wie vor Amerikas wichtigster Verbündeter in der arabischen Welt. Ideologie ist wichtig, aber sie tritt oft hinter geopolitischen Erwägungen zurück.

Kurz gesagt: Die traditionellen Muster der europäischen und globalen Geopolitik haben sich verändert; sie haben sich allerdings nicht so grundlegend gewandelt, wie wir es während der langen Ruhephase der Geschichte zwischen 1989 und 2014 erwartet hatten. Wenn sich dies ändern soll, kann der Impuls nur von einem „neuen Denken“ in Moskau, Teheran und Peking ausgehen.

 

Brendan Simms, geboren 1967 in Dublin, Historiker, Direktor des Centre for Geopolitics, Department of Politics and International Studies, Universität Cambridge (Großbritannien).

 

Übersetzung aus dem Englischen: Monika Eingrieber, Sulzburg

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