Asset-Herausgeber

Auf der Suche nach dem Angemessenen

Ralf Konersmann: Welt ohne Maß, S. Fischer Wissenschaft, Frankfurt am Main 2021, 319 Seiten, 26,00 Euro.

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Wer als Anwalt des Neuen zu Aufbruch und Veränderung drängt, hat selten die Geduld, sich an Bewährtes zu erinnern. Traditionen von Gewicht erscheinen als Ballast, der umso leichter aufgegeben wird, je schneller eine Gegenwart über alles ‚Alteuropäische‘ hinwegeilen will. Die Metapher der Zeitenwende war schon immer eine Verabschiedungsfigur mit der Eigenart, die Dramatik des aktuellen Geschichtsverlaufs gegen die Erinnerung ans Unabgegoltene auszuspielen. Doch Beschwörung aktueller Alternativlosigkeit muss nicht der Königsweg der Vernunft im Umgang mit ihrer Geschichte sein. Möglich sind auch Moratorien der Urteilsbildung, Mut zur Nachdenklichkeit oder das Erproben von Gegenerzählungen. Denn zögern zu können, ist Quelle der Produktivität des Denkens und zumal einer Philosophie, die bei allem, was der Fall ist, nichts abstürzen lassen und verloren geben will. Weil ihre Kritik zwar illusionslos scharf, aber nicht unsolidarisch ist, mutet sie niemandem Abschiede zu, solange das Alte nicht gründlich bedacht ist. Der Kieler Philosoph Ralf Konersmann setzt dem „Verschleiß der Ideen“ und der schnellen Preisgabe metaphysikverdächtiger Leitbegriffe eine eigene Nachhaltigkeit entgegen: eine philosophische Genealogie, die in den Archiven des Denkens noch offenhält und fruchtbar macht, was mit Sieben-Meilen-Stiefeln ausgerüstete Aktualitätsdenker längst hinter sich ließen. Am Beispiel der antiken Kategorie des Maßes, an der mit ihr verbundenen Tugend des Maßhaltens und schließlich an der Technik des Messens entschlüsselt Konersmann unterschiedliche Weisen, sich zur Wirklichkeit zu verhalten, samt den Erwartungen, falschen Versprechungen und produktiven Enttäuschungen, die zu ihnen gehören. Im Fokus stehen langfristige Sinnverschiebungen und Transformationen kultureller Ordnungen, die sich schließlich zu dem Unterschied ums Ganze entwickeln, mit dem sich die Moderne von ihrer Vergangenheit abgrenzt.

Ohne Scheu vor dem typischen Stil konservativer Kulturkritik stimmt der Buchtitel Welt ohne Maß auf Verlust ein, und en détail mangelt es nicht an Klagen über die Gegenwart als eine Zeit der Quantifizierung des Wissens, der unüberschaubaren Sammlung von Messdaten, der Automatisierung von Entscheidungen und der ins Maßlose drängenden Lebensgewohnheiten. Aber Scheltrede ist nur eine Seite der Sache. Denn das Buch handelt nicht ausschließlich vom Untergang des Maßes, sondern auch von seiner prägenden Kraft und den Methoden, in denen die Suche nach dem Angemessenen auch noch die gegenwärtige Erfahrung präfiguriert. Zwar steht eine Renaissance antiker Ethik nicht in Aussicht, aber zu deren Nachleben gehört es doch, dass die philosophische Denkarbeit jedenfalls mäßigend auf den Zeitgeist einwirken will.

 

Maß als Modus

 

Der Autor erzählt die Geschichte des Maßes als eine Angelegenheit humanen Weltvertrauens. Es ging um Chancen des angemessenen Umgangs mit Situationen und um Ermutigung zu praktischer Klugheit. Aber gerade die Kunst beweglicher Anpassung ohne Voreingenommenheit verschaffte der Ethik des Maßes einen prekären Status, kam es doch immer wieder auf neue Stabilisierung und Bewährung an. Wird den Verhältnissen gemäß gehandelt, können menschliche Interventionen gelingen: Handelnde finden sich in ihrer Welt zurecht, weil sie einer vorgegebenen Ordnung vertrauen, die weder Gesetze diktiert noch strikte Normeinhaltung abverlangt, sondern Spielräume eröffnet, in denen niemand überfordert wird.

Das Eingespielte und fraglos Selbstverständliche des Maßvollen verschafft denen Rückendeckung, die sich zu mäßigen verstehen, und bettet ihre Taten in übergreifende Praktiken ein. Sich recht zu verhalten, ist eine Gabe der Verhältnisse, in denen der Mensch lebt. Im Zwischenraum zwischen ‚zu viel‘ und ‚zu wenig‘ bildeten sich Lebensformen, die elastisch genug blieben, um auf Veränderungen erfahrungsgesättigt und lebensklug zu reagieren. Maßvolles Handeln war der Modus eines Weltumgangs‚ der nicht aus einer Theorie der Natur Handlungsprogramme ableitete, sondern begründungsunbedürftig, aber gewitzt, das Passende zu treffen verstand.

 

Umadressiertes Vertrauen

 

Erst sekundär wird solche Angemessenheit des Verhaltens auf einen Schöpferwillen oder das Gebot eines Gottes zurückgeführt, der alles nach seinem Maß einrichtet und bestimmt. Das Ausmaß dieser Garantiegewährung manifestiert die Erschütterung der ehedem selbstverständlichen Überzeugung, dass die Natur und die Praxis des Menschen zueinanderpassen. Nur durch externe Absicherung schien die immanente Beweglichkeit des Maßes gegenüber den Fehlidentifikationen und Missgriffen des Menschen geschützt werden zu können. Die Autorität eines göttlichen Gesetzgebers fing das labile Verhältnis zwischen Mensch und Natur auf und bewahrte beide vor den Maßlosigkeiten humaner Manipulationen.

Konersmann spricht in Aufnahme einer zentralen Kategorie Hans Blumenbergs von einem „Kunstgriff der Delegation“ (S. 153), der das Vertrauen in die wohlgeordnete Welt erneuere, weil die höchste Macht über das Maß wacht und die vom Menschen heraufbeschworene Unordnung heilvoll begrenzt. Bei dieser „Umadressierung“ des Vertrauens vom Kosmos auf den allein mächtigen Gott arbeiteten laut Konersmann der Platonismus der griechischen Antike und die jüdisch­christliche Kulturwelt Hand in Hand. Denn dass Gott „alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet hat“ (Sapientia Salomonis [Altes Testament, Buch der Weisheit] 11,21), ist die im Zusammenhang altorientalischer Weisheit geleistete Übersetzung des jüdischen Schöpferglaubens. Sie trifft sich mit der Handwerkskunst des platonischen Demiurgen, der die Ordnung der ewigen Ideen in der vergänglichen, sinnlich-materiellen Welt realisiert – so gut es in dieser geht. In beiden Traditionssträngen der europäischen Kultur präludiert die Hochschätzung der Zahlen und geometrischen Figuren den neuzeitlichen Anspruch einer Naturwissenschaft, die ihren Gegenstand mathematisch beschreibt, erklärt und die Natur in Formeln erfasst, um sie rational beherrschen zu können. Auch die Wissenschaft lebt vom Glauben, aber sie prägt die Bestände dessen um, was als verlässlich gilt.

 

Gut skaliert ist halb digitalisiert

 

Die Moderne (bei Konersmann immer im Singular) übersetzte das Maßdenken in die Technik des Messens, der exakten Bestimmung der Zahlen. Noch einmal stiftete eine Praxis basales Weltvertrauen; aber nun eines, das aus dem Zweifel kommt. Denn nicht auf sich selbst, nicht auf die Wahrnehmung der eigenleiblichen Sinnesorgane kann sich neuzeitlich die Erkenntnis verlassen, sondern allein auf Messgeräte, die methodische Folgerichtigkeit von Rechenoperationen und die sequentierte Verarbeitung von Informationen. Gewährte die Ethik des Angemessenen Beheimatung in einer Lebenswelt, so fordert die Wissenschaftswelt die Umstellung vom Qualitativen auf das Quantitative. Wissen beruht in der durch René Descartes und Francis Bacon markierten Epochenwende auf dem Glauben, dass die von Gott geschaffene Natur nicht in die Irre führt oder gar lügt, wenn sie nur mit den richtigen Methoden befragt, also einem strengen Verhör unter der Bedingung experimentell ermittelter Ja-Nein-Stellungnahmen unterworfen wird.

Schon mit dieser Ausgangslage sei der aktuellen Digitalisierung der Weg bereitet, der sich durch Erfolg legitimierte und immer weitere Bereiche des menschlichen Handelns dem „Zwang zur Effizienz“ (S. 43) anpasse. Effizienz ist so betrachtet die aktuelle Schwundstufe eines Maßgedankens, der aus der Entsprechung von Handlung und Situation die umfassende Dienstbarkeit aller Gegenstände für beliebige Zwecke generiert und darum alle Praxis „an wirtschaftlichen Erfordernissen“, an Maß, Zahl und Gewicht ausrichtet. Entscheidend ist, was am Ende herauskommt.

Die Folgen zeigen sich vor allem im Politischen. Politik werde nicht mehr nach dem Maß der Freiheit bestimmt, die durch das Zusammensein der Handelnden ermöglicht und in gemeinsamer Verantwortung gestaltet wird. Sie sei vielmehr „heute ein machtvolles Umgehen mit Mengen, Größen und Zahlen“ (S. 59), eine Verwaltungstätigkeit in einer vollständig vermessenen Welt. In ihr stiften immer größere Datenbanken die Suggestion, die Interessen der Menschen seien aus den Umfragen der Demoskopen verlässlicher zu ermitteln als durch kostspielige demokratische Wahlentscheidungen nach öffentlichem Streit der Parteien. Gut skaliert ist halb gewonnen. Denn die Macht erobert, wer sich medial zu inszenieren weiß – selbst für das Glück finden sich einschlägige Tabellen.

 

Theologische Mucken

 

„The time is out of joint“ konnte schon Hamlet klagen, und aus den Fugen geraten ist auch das menschliche Handeln, das doch stets ein maßvoll­gemäßigtes sein muss, wenn es nicht inhuman werden will. Daran zu erinnern, ist gewiss nicht trivial und kommt noch immer zur rechten Zeit – solange die Menschen so freundlich sind, sich daran erinnern zu lassen. Zumindest in dieser letzten Hinsicht dürfte die Welt nicht gänzlich im Argen liegen, sonst wäre die Arbeit des Aufklärers vergeblich. Gerade um Aufklärung aber geht es Konersmann, deren Aufgabe es heute sei, „an diejenigen Glaubenssätze […] heranzukommen, die unsere Entscheidungen“ prägen „und an die selbst diejenigen glauben, die davon überzeugt sind, mit der Sache des Glaubens abgeschlossen zu haben“ (S. 26).

Damit sind zentrale Fragen der Religionsphilosophie und Theologie berührt. Kann man Glaubensangelegenheiten an „fragloser Zustimmungsbereitschaft“ erkennen und an den Selbstverständlichkeiten kultureller Ordnungen ablesen, „worauf Verlass ist“ und was „unbedingtes Vertrauen“ findet, so ist der Glaube nicht nur Sache religiöser Sonderwelten, sondern eine des öffentlichen Zusammenlebens. Diejenigen basalen Überzeugungen, die soziale Verbände verbinden und auch in pluralistischen Gesellschaften ‚shared beliefs‘ bilden, können nicht sich selbst überlassen bleiben.

Sie identifizierend und ihre historischen Transformationsgestalten durchmusternd, gerät der Autor immer wieder in die Nähe des Säkularisierungsbegriffs. Konersmann spricht in Anlehnung an Marx von ‚theologischen Mucken‘. Allerdings wird deutlich, dass er sie nicht für beliebige Launen hält. Als Begriffsgeschichtsschreiber rechnet er nicht nur mit in die moderne Selbstbeschreibung eingewanderten religiösen Gehalten, die eine säkulare Welt unter dem Vorbehalt vernünftiger Aneignung aufgreift: Konersmann erkennt in der Phase der theologischen Prägung aktueller Grundbegriffe vor allem Umhöfe produktiver Unbestimmtheit, die Erwartungen stiften und Horizonte öffnen. Aufmerksamkeit für die imaginativen Hintergründe des Denkens zahlt sich nicht in der kleinen Münze von Enthüllungen aus, die – sei es in religiös-apologetischer oder in kritisch-denunziatorischer Absicht – in den Begriffen säkularer Selbstverständigung die klammheimliche Theologie entdecken wollen.

Aber die Art, wie Gott gedacht wurde und heute wird, ist nun einmal nicht folgenlos für das Bild, das wir uns vom Menschen machen. So habe der Deismus, der seinen Gott auf den Ausgangsimpuls der Welteinrichtung begrenzt, ihn jedoch gegenüber dem Geschichtsverlauf neutralisiert, der Selbstermächtigung des Menschen als maître et possesseur de la nature (Descartes) zuallererst Platz geschaffen und ein neues Selbstverhältnis heraufgeführt. Der antike Homo-mensura-Satz – natürlich wird er im ganzen Buch perspektivenreich kommentiert – sei erst vom Christentum in einer Weise zugespitzt worden, die den Menschen zum Maß aller Dinge machte und ihm die „Rolle des naiven und selbstherrlich agierenden Subjektes“ angetragen habe, „vor der ihn die klassischen Ausformulierungen der Maßethik hatten bewahren wollen“ (S. 145). Die Hybrisdiagnose seiner Sündenlehre wird also auf das Konto des Christentums zurückgebucht. Selbst die Frage, ob die fehlbaren Menschen der „ungeheuren Herausforderung namens Neuzeit, in der […] kein Gott ihre Wege begleitet“, gewachsen seien (S. 87), ist nicht unter dem Gesichtspunkt formuliert, das Blatt der Geschichte lasse sich durch religiöse Erlösung oder den Gottesglauben noch einmal wenden. Das wäre zu positiv und zu verwegen hoffnungsvoll gedacht. Das Buch kennt wohl nur den einen Trost, über das Maß aufgeklärter Resignation selbst entscheiden zu können.

Sein großes Verdienst ist es, die Bilder und Figurationen freizulegen, mit denen die humane Vernunft über die Grenzen positivistischer Terminologien und empirischer Sinnkriterien hinausgreift, ohne sich blauen Dunst vorzumachen. Historische Aufklärung operiert zwischen rationalen und metaphorischen Leistungen und macht erkennbar, dass gerade die wichtigsten Begriffe – Freiheit, Recht und gewiss auch Gott – nicht dem Maßstab der Messbarkeit Rechnung tragen und gerade deshalb ihren Sinn behalten.

 

Michael Moxter, geboren 1956 in Frankfurt am Main, evangelischer Theologe, Religionsphilosoph, emeritierter Professor für Systematische Theologie mit den Schwerpunkten Dogmatik und Religionsphilosophie, Universität Hamburg.

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