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Zur Koexistenz von Arbeitslosigkeit und Arbeitskräftemangel

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Blickt man auf den deutschen Arbeitsmarkt, könnte man vordergründig den Eindruck gewinnen, dass die großen Probleme der Vergangenheit gelöst sind und die Politik ihre Hausaufgaben bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gemacht hat. Jedenfalls ist in den letzten rund fünfzehn Jahren – seit den sogenannten Hartz-Reformen – ein grundlegender Wandel zu beobachten. War der Zeitraum von Anfang der 1970er- bis in die Mitte der 2000er-Jahre durch einen stufenförmigen Anstieg der Arbeitslosenzahlen bis auf durchschnittlich fast fünf Millionen im Jahr 2005 geprägt, drehte sich der Trend seitdem um. Trotz mehrerer krisenbedingter ökonomischer Schocks verringerte sich die Zahl der Arbeitslosen auf etwa die Hälfte.

Hervorzuheben ist dabei, dass diese Entwicklung nicht auf einen Rückgang des Arbeitskräfteangebots zurückzuführen ist. Im Gegenteil: Die Zahl der abhängig Beschäftigten erhöhte sich von knapp 35 Millionen im Jahr 2005 auf 41,7 Millionen im Jahr 2022, wobei der Anstieg bei den Teilzeitbeschäftigten sowohl absolut als auch relativ stärker ausfiel als bei den Vollzeitbeschäftigten. Deshalb, aber auch wegen rückläufiger Entwicklungen bei der durchschnittlichen Arbeitszeit und der Zahl der Selbstständigen, fällt der Anstieg beim volkswirtschaftlichen Arbeitsvolumen gemäß der Arbeitszeitrechnung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) deutlich schwächer aus als die Zahl der Beschäftigten.

 

Demografischer Effekt und Erwerbspersonenpotenzial

 

Gleichwohl gibt die gegenwärtige Situation auf dem Arbeitsmarkt aus zweierlei Gründen Anlass zur Sorge: Denn obwohl sehr viel mehr Menschen als früher einer Beschäftigung nachgehen, zeichnet sich seit einiger Zeit ein zunehmender Fach- und Arbeitskräftemangel ab. Zuletzt gab es im vierten Quartal 2022 mit 1,98 Millionen offenen Stellen gemäß der IAB-Stellenerhebung einen neuen Rekordwert in Deutschland. Dieser Mangel dürfte sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten aufgrund der voranschreitenden Bevölkerungsalterung deutlich verschärfen. So erwartet das IAB bereits für das Jahr 2023, dass der demografische Effekt – bei isolierter Betrachtung – das Erwerbspersonenpotenzial alterungsbedingt um 400.000 Personen schrumpfen lässt.1 Ob es auch in Zukunft gelingen wird, diesen Rückgang durch weiter steigende Erwerbsquoten und Zuwanderung (über)kompensieren zu können, wie es für 2023 noch zu erwarten ist, darf bezweifelt werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn man die Migration perspektivisch stärker steuern möchte und sich dabei an den Beschäftigungs- und Integrationsperspektiven der Zuwanderer orientiert.

Gleichzeitig ist die Zahl der Arbeitslosen keineswegs so stark gesunken, wie man es angesichts des deutlichen Beschäftigungszuwachses und des an vielen Stellen sichtbaren Arbeitskräftemangels erwarten könnte. So liegt die Zahl der Arbeitslosen zu Beginn des Jahres 2023 noch immer bei rund 2,6 Millionen Personen, was einer Arbeitslosenquote von 5,7 Prozent entspricht. Darunter sind 880.000 Personen, die länger als ein Jahr ohne Arbeit sind und als langzeitarbeitslos gezählt werden. Fasst man den Arbeitslosigkeitsbegriff etwas weiter und berücksichtigt zum Beispiel auch Personen in Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik oder in Integrationskursen, so sind nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit derzeit knapp 3,5 Millionen Personen unterbeschäftigt. Während im Bereich der Arbeitslosigkeit nach wie vor erhebliche Verfestigungstendenzen erkennbar sind, speist sich der Anstieg bei den Beschäftigtenzahlen zu beträchtlichen Teilen aus anderen Quellen, insbesondere der sogenannten stillen Reserve.

Die Ursachen dieser ökonomisch und gesellschaftlich problematischen Koexistenz von mehreren Millionen Arbeitslosen auf der einen Seite und einem großen und tendenziell steigenden Fach- und Arbeitskräftemangel auf der anderen Seite sind vielschichtig.

 

Passprobleme zwischen Anforderung und Eignung

 

Eine erste zentrale Ursache ist darin zu sehen, dass – vereinfacht gesprochen – die Arbeitslosen nicht zu den offenen Stellen passen. Ökonomisch liegt somit ein Matchingproblem vor, und es entsteht eine sogenannte Mismatch-Arbeitslosigkeit.2 Diese kann unterschiedliche Ursachen haben. So können regionale Unterschiede in Verbindung mit einer unzureichenden Mobilität eine Rolle spielen. Während in wirtschaftsstarken Regionen händeringend nach Arbeitskräften gesucht wird, herrscht in anderen, strukturschwächeren oder von wirtschaftlichen Umbrüchen besonders betroffenen Landesteilen eine überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit. Dass dies nicht nur ein theoretisches Argument ist, zeigt ein Blick auf die Spannbreite der regionalen Arbeitslosenquoten in den Bundesländern: Im März 2023 lag die Arbeitslosenquote in Bayern bei lediglich 3,4 Prozent. Im Bremen hingegen war sie mit 10,5 Prozent rund dreimal so hoch.

Ebenso kann es Passprobleme zwischen den Anforderungen der offenen Stellen und den Eignungsprofilen der Arbeitslosen geben. Diese können auf der Ebene der Qualifikation liegen, etwa wenn die Unternehmen hochqualifizierte oder stark spezialisierte Mitarbeiter suchen, die in der Gruppe der Arbeitslosen nicht oder nur selten vertreten sind. Zu nennen sind hier beispielsweise unzureichende Sprachkenntnisse, fehlende (Schul-)Ausbildungen beziehungsweise Berufsabschlüsse, eine ökonomische „Entwertung“ erworbener Qualifikationen als Folge des Strukturwandels, aber auch formal hohe, von Arbeitgebern jedoch nur wenig nachgefragte Qualifikationen und Berufsabschlüsse. Die seit Jahren immer wieder aufflammende Diskussion über eine zu geringe Zahl von Absolventen in den sogenannten MINT-Fächern ist ein starkes Indiz für die Relevanz des letztgenannten Phänomens. Des Weiteren können aufseiten der Arbeitslosen gesundheitliche Einschränkungen oder Defizite bei spezifischen sozialen Kompetenzen (Soft Skills) eine Beschäftigungsaufnahme verhindern. Schließlich können unterschiedliche Wünsche und Erwartungen an Arbeitsbedingungen oder Entlohnung zwischen Arbeitssuchenden und potenziellen Arbeitgebern verhindern, dass beide Seiten zusammenfinden.

Dass fehlende oder unzureichende Qualifikationen das Arbeitslosigkeitsrisiko in Deutschland stark erhöhen, ist empirisch gut belegt. So zeigt der Blick auf die qualifikationsspezifischen Arbeitslosenquoten seit Jahrzehnten ein eindeutiges Bild. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit war im Jahr 2022 die Arbeitslosenquote von Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung mit 19,8 Prozent neunmal so hoch wie die von Akademikern (2,2 Prozent). Geringqualifizierte machen zugleich gut die Hälfte aller Arbeitslosen aus. Bereits mit einer abgeschlossenen Lehre sinkt die Arbeitslosenquote auf unterdurchschnittliche 2,8 Prozent.3

Auch wenn eine Verbesserung des Matchings zwischen Arbeitslosen und offenen Stellen aufgrund der heterogenen Ursachen an unterschiedlichen Stellschrauben ansetzen muss, kommt dem Bildungssystem zweifellos eine zentrale Rolle zu. Neben dringend notwendigen Verbesserungen im schulischen Bereich – etwa was die zu hohe Zahl von Schulabgängern ohne Abschluss betrifft – sollte es im kollektiven Eigeninteresse der Arbeitgeber liegen, einen konstruktiven Beitrag zu leisten und in betriebliche Aus- und Weiterbildung zu investieren. Hier liegt es auch in der Eigenverantwortung der Wirtschaft, einem möglichen Trittbrettfahrer-Verhalten einzelner Unternehmen bei der betrieblichen Ausbildung entgegenzuwirken. Was die von staatlicher Seite angebotenen und in den letzten Jahren mit dem Qualifizierungschancengesetz und dem „Arbeit-von-morgen-Gesetz“ ausgeweiteten Fördermöglichkeiten für berufliche Weiterbildungen von Mitarbeitern betrifft, werden diese nach bisherigen Erkenntnissen des IAB von den Betrieben eher wenig in Anspruch genommen, was unter anderem auf mangelnde Informationen sowie auf administrative Hürden zurückgeführt wird.4

 

Stärkung des Prinzips „Fördern und Fordern“

 

Die zweite grundlegende Ursache für das Nebeneinander von Arbeitslosigkeit und Arbeitskräftemangel sind Fehlanreize durch die Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme. Von ökonomischer Seite wird insbesondere im Hinblick auf die bedürftigkeitsgeprüften Grundsicherungsleistungen seit Langem von einem Sozialstaatsdilemma gesprochen und darauf hingewiesen, dass ein Zielkonflikt zwischen der dauerhaften Sicherung des Existenzminimums durch staatliche Transfers und dem Erhalt ausreichender Arbeitsanreize im unteren Einkommensbereich besteht, der kaum aufzulösen ist.5

Für Empfänger der Grundsicherung für Arbeitsuchende lohnt sich die Aufnahme oder Ausweitung einer Beschäftigung insbesondere im unteren Einkommensbereich aus finanzieller Sicht kaum, da das eigene Arbeitseinkommen zu einem beträchtlichen Teil mit den erhaltenen Sozialleistungen verrechnet wird. Im Rahmen des zum Bürgergeld umbenannten Arbeitslosengeldes II liegt diese Transferentzugsrate jenseits des Grundfreibetrags von 100 Euro ab dem 1. Juli 2023 zwischen 70 und 100 Prozent. Berücksichtigt man darüber hinaus weitere bedürftigkeitsgeprüfte steuerfinanzierte Sozialleistungen wie das Wohngeld oder den Kinderzuschlag, kann sich dieser Zielkonflikt je nach Haushaltstyp durch das komplexe Interagieren der einzelnen Leistungen verschärfen und bis in mittlere Einkommensregionen ausweiten. Der monetäre Anreiz für Grundsicherungsempfänger, Arbeitslosigkeit zu beenden oder eine Teilzeitbeschäftigung mit niedrigem Stundenumfang deutlich auszuweiten, ist daher in vielen Fällen begrenzt.

Ein Lösungsansatz, den Zielkonflikt zumindest partiell aufzulösen, liegt in einer Stärkung des Prinzips „Fördern und Fordern“. Dem Subsidiaritätsprinzip folgend, sollte der Staat klar signalisieren, dass Grundsicherungsleistungen ausschließlich für finanzielle Notlagen gedacht sind und von den Leistungsbeziehern ausreichende Bemühungen erwartet werden, so weit wie möglich selbst für den eigenen Lebensunterhalt aufzukommen – auch dann, wenn das eigene Arbeitseinkommen nicht oder nur geringfügig über dem staatlich garantierten Grundsicherungsniveau liegt. Dass darüber hinaus auch an anderer Stelle flankierende Maßnahmen notwendig sind, legt beispielsweise die hohe Anzahl von Alleinerziehenden in der Grundsicherung nahe. Ohne eine Stärkung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch verbesserte Kinderbetreuungsmöglichkeiten wird es beispielsweise schwer, die derzeit ungenutzten Beschäftigungspotenziale in dieser Gruppe zu heben.

Alles in allem bedarf es also erheblicher gesellschaftlicher Anstrengungen, die trotz des zunehmenden Arbeitskräftemangels immer noch vergleichsweise hohe und verfestigte Arbeitslosigkeit weiter zu senken.

 

Michael Eilfort, geboren 1963 in Kiel, seit 2004 Vorstand, Stiftung Marktwirtschaft, Berlin, seit 2005 Honorarprofessor für Politikwissenschaft, Eberhard Karls Universität Tübingen.

Guido K. Raddatz, geboren 1971 in Freiburg, promovierter Volkswirt, Leiter Arbeitsmarkt, Bildungspolitik und Soziale Sicherung, Stiftung Marktwirtschaft, Berlin.

 

1  Vgl. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: IAB-Prognose 2023: Rekord-Arbeitskräftebedarf in schwierigen Zeiten, IAB-Kurzbericht 5/2023.
2  Vgl. zum Begriff der Mismatch-Arbeitslosigkeit beispielsweise Anja Bauer / Hermann Gartner: Mismatch-Arbeitslosigkeit. Wie Arbeitslose und offene Stellen zusammenpassen, IAB-Kurzbericht 5/2014, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung; Alexander Kubis / Martina Rebien: „Langzeitarbeitslosigkeit in Zeiten von Fachkräfteengpässen“, in: Wirtschaftspolitische Blätter 1/2019, S. 39–57.
3  Vgl. Statistik der Bundesagentur für Arbeit: Qualifikationsspezifische Arbeitslosenquoten (Jahreszahlen), Stand: 18.01.2023.
4  Vgl. Sandra Biermeier et al.: Warum Betriebe die Weiterbildungsförderung für Beschäftigte bislang eher wenig nutzen, IAB-Forum vom 18. Januar 2023.
5  Vgl. exemplarisch Ronnie Schöb: „Die deutsche Grundsicherung auf dem Prüfstand“, in: WiSt Wirtschaftswissenschaftliches Studium – Zeitschrift für Studium und Forschung, Heft 1/2022, S. 24–30; Kerstin Bruckmeier / Jannek Mühlhan / Andreas Peichl: Mehr Arbeitsanreize für einkommensschwache Familien schaffen, ifo Schnelldienst, 3/2018, S. 25–28.

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