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Ein Plädoyer für mehr (sprachlichen) Elan

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Trinken die Deutschen zu wenig Kaffee? Glaubt man der Berichterstattung des Sommers 2021, dann sind sie kollektiv wirklich sehr müde. Pandemiemüde, der Einschränkungen müde, impfmüde und wegen alledem auch politikmüde. Die ersten Fälle von „Maskenmüdigkeit“ wurden ebenfalls bereits gemeldet. Die allgemeine Mattigkeit scheint vor niemandem haltzumachen. Der Schlafwagen, bisher nicht durch Parteinahme aufgefallen, ist seit diesem Jahr aus der politischen Rhetorik nicht mehr wegzudenken. „So langweilig war der Wahlkampf noch nie“, urteilte Der Spiegel im August. Zum Abzug der Truppen aus Afghanistan hieß es vom Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, es habe „eine gewisse Müdigkeit hinsichtlich des Einsatzes“ in Deutschland, der Europäischen Union und den USA gegeben.1 Stehen wir noch oder liegen wir schon?

Am Koffein kann es jedenfalls nicht liegen. Mit ungefähr 164 Litern jährlichem Pro-Kopf-Verbrauch ist die schwarze Bohne seit Langem der Deutschen liebstes Getränk.

Mit Metaphern ist es so eine Sache. Sie illustrieren Grundstrukturen menschlichen Denkens und Redens. Durch Übertragung und Ähnlichkeit helfen sie uns, Wissen zu ordnen. Sie bringen Semantik in der Sprache und Erfahrung zusammen: Eine Sache wird intellektuell fassbarer, weil auf konkrete anfassbare Objekte verwiesen wird. Fallen ein Sprachbild und ein Ereignis zusammen, wie bei der Flutkatastrophe im Juli 2021 in Westdeutschland geschehen, als Orte buchstäblich an einem Abgrund standen, verstärkt das nicht nur auf unheimliche Weise die ohnehin schon prägnante Vorstellung, sondern wird auch von der Berichterstattung dankbar aufgenommen. Ein Klassiker der kognitiven Linguistik von 1980 heißt Metaphors We Live By – Metaphern, mit und nach denen wir leben.

 

„Bewegungen als Herausforderung“

 

Ohne Gleichnisse ist Kommunikation, erst recht politische Kommunikation, schwierig. Wir verwenden sie sowohl unbewusst – der „Flaschenhals“ oder die „Blütezeit“ – als auch mit voller Absicht, um einer Aussage mehr Kraft zu verleihen. Niemand verbringt den Wahlkampf tatsächlich in einem Nachtabteil der Deutschen Bahn. Der neu geprägte und dankbar aufgegriffene Vergleich mit dem „Schlafwagen“ meint natürlich etwas anderes: fehlende Dynamik, geistige Trägheit, mangelnde Spannkraft, erhöhte Passivität. Dem entgegen steht der Weckruf, der Schwung, die Regung. Es ist kein Zufall, dass die Herausforderung für etablierte Institutionen aus „Bewegungen“ erwächst, sei es innerhalb einer Partei, sei es als ihre Alternative oder ihr Adressat.

„Aufstehen“ hieß es, zwischenzeitlich, bei den Linken. Deren Vorbild, „En marche“ – „In Bewegung“ –, spülte bereits Emmanuel Macron 2017 in den französischen Präsidentenpalast.

Im amerikanischen Wahlkampf 2020 war zu beobachten, dass Donald Trump von dem Rassismus seiner Anti-Obama-Kampagne 2016 auf aggressive Geschäftigkeit umgeschaltet hatte. Joe Biden wurde bei ihm zu „Sleepy Joe“. Trumps Coronabekämpfungsprogramm hieß Operation Warp Speed – nach einer in Science-Fiction-Erzählungen vielfach genutzten Methode, sich mit Überlichtgeschwindigkeit fortzubewegen. Schlaffheit wird gern personalisiert, soll aber zugleich auf Strukturen und Institutionen verweisen: Ausgelaugt, so wird insinuiert, seien nicht nur Kandidaten, sondern das ganze System.

Das ist nicht neu, deutet doch allein schon der Begriff „Mobilisierung“ darauf hin, dass etwas oder jemand bewegt werden soll, etwas zu bewegen. McKinsey empfiehlt seit einiger Zeit „agility“: Agile Organisationen, Managements und Kulturen seien die Antwort auf die Herausforderungen der Zeit. Doch dass es gerade Konjunktur hat, sprachlich allenthalben Antriebslosigkeit erkennen zu lassen, scheint nicht der bei Staatenlenkern sonst gern diagnostizierten Amtsmüdigkeit am Ende ihrer Ära geschuldet – niemand hätte Angela Merkel als „lame duck“ beschrieben –, sondern vor allem dem speziellen Hintergrund der Pandemie.

 

Erschöpfung als Grundstimmung

 

In der Müdigkeitsmetapher kristallisiert sich die Angst, nicht nur der Einzelne, sondern eine ganze Gesellschaft, ein ganzes Land könne, im übertragenen Sinne, an Long COVID erkranken. Erschöpfung nicht nur als physisches Symptom, sondern als emotionale Grundstimmung. Amerikanische Psychologen identifizierten das „languishing“, das unmotivierte Dahindümpeln, als Gemütslage des Jahres 2021. Die Erfahrung sagt, dass derlei Diagnosen alsbald zum Sprung über den Teich ansetzen.

Zu Beginn der in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik einzigartigen Situation mischte sich in den überraschten Schrecken über die Pandemie die Bereitschaft, das Gute am unglücklichen Zustand zu sehen. Wer nicht in systemrelevanten Berufen tätig war, schätzte die Drosselung. Der Weg zur Arbeit war mit zehn bis zwanzig Metern Luftlinie angenehm kurz. Auf YouTube stapelten sich Videos, in denen Menschen die freie Zeit mehr oder minder sinnvoll nutzten. Manche rannten einen Marathon auf ihren Balkons. Andere stiegen, in voller Bergsteigermontur, so lange die Treppen im eigenen Haus, bis sie im übertragenen Sinne den Mount Everest erklommen hatten. Dann kam die Langeweile, und viele stellten fest, dass „Zwangsentschleunigung“ (Hartmut Rosa) gar nicht zu dem führte, was sie sich ausgemalt hatten. Was hatte man nicht immer alles machen wollen, wenn bloß die Zeit da wäre! Dann war sie da, aber die Lust fehlte. Das sei nicht verwunderlich, „wenn du ein System, das auf Beschleunigung beruht, anhältst“, sagte der Soziologe Rosa dem Deutschlandfunk im April 2020, „dann fällt es nur um wie ein Fahrrad.“ Vielmehr gehe es um „eine andere Weise, in der Welt zu sein, wieder offen zu sein für das, was uns im Alltag begegnet, und eine andere Form der Beziehung zu anderen Menschen, zum eigenen Körper, zur Natur einzunehmen“. Das sei durch das Virus schwierig, denn es schränke die Beziehungen ein, statt sie zu ermöglichen.2

Nun waren und sind das Reflexionen der in allen Belangen Privilegierten. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Gesundheits- und Pflegebereichs, Kleinunternehmerinnen und Kleinunternehmer und kleine Betriebe oder Alleinerziehende im eigenen Land erzählten andere Geschichten. Sie sind auch, und in diesem Falle sehr konkret, sehr, sehr müde: von der vielen Arbeit, der zehrenden psychischen Belastung und der fehlenden Aussicht auf Besserung durch die immer neuen Coronawellen. In vielen Ländern bedeutete das Virus fast zwangsläufig den staatlich nicht abgefederten Ruin und führte durch eine schlechte Gesundheitsversorgung viel eher zum Tod als in den Industrienationen. Die Klage über Schlaffheit geht daher über den nationalen Fall weit hinaus. Dahinter verbirgt sich die Angst vor einem gelähmten Land, das in seiner Passivität seiner internationalen Verantwortung nicht gerecht werden kann oder möchte. Im Gegensatz stehen jene Staaten, die vermutlich das 21. Jahrhundert prägen werden, allen voran China. Als „Pandemie-Gewinner“, so Die Welt im Dezember 2020, sei „China auf der Überholspur“. Die Autometapher wird für das ostasiatische Land ohnehin gern verwendet, weil sie nicht nur auf Geschwindigkeit, sondern auch auf die massiven Investitionen der chinesischen Regierung in neue Technologien, darunter die Mobilitätsindustrien, verweist.

Das alles muss nicht stimmen. Deutschland kann – und sollte – Ende des Jahres mit neuem Schwung in eine neue Amtszeit, und auch in eine neue Zeit, starten. Doch Zuschreibungen, auch wenn sie unbewusst gewählt wurden, haben die unangenehme Eigenschaft, nicht nur langlebig, sondern auch sehr einflussreich zu sein. Der politische Diskurs in Deutschland kennt einige solcher Bezeichnungen: Die bleierne Zeit, so der Titel von Margarethe von Trottas Spielfilm von 1981, der ursprünglich die Atmosphäre der 1950er-Jahre beschreiben sollte; der „Mehltau“, der sich gern über festgefahrene Zustände legt; die „lähmenden Kohl-Jahre“ der späten 1990er. Beschreiben oder beschwören sie eine Situation? Ist ein dumpfes Grundgemurmel erst einmal in ein griffiges Bild geronnen, bekommt es einen einschlägigen Namen, wird es gern wiederholt – siehe den Schlafwagen.

 

Standfußball statt Schnellpassspiel

 

Wahlkampf in Zeiten von Corona war erwartungsgemäß nicht leicht. Doch es war nicht hilfreich, dass sich bereits seit einigen Jahren eine gewisse Saturiertheit in öffentlichen Auseinandersetzungen eingeschlichen hat. Während es an den Rändern immer schriller wird, will sich die Mitte gezielt besonnen geben – um den Preis, dass es bisweilen recht saft- und kraftlos zugeht. Ist es wirklich sinnvoll, bei jeder Polemik indigniert „Beleidigung“ zu rufen, jedes Wort zu geißeln und den Gegner der Unfairness oder des Schlimmeren zu zeihen? Lebt nicht der öffentliche Raum von Zuspitzungen und einem gut gesetzten Florettstich? Debatten gewinnen durch – Vorsicht: Metapher – längere Ballwechsel, doch wenn jeder härtere Schuss abgefangen und der Kölner Keller zum Videobeweis angerufen wird, dann herrscht Standfußball statt schnellem Passspiel – mit vergleichbarem Spannungsfaktor. Es war bezeichnend, dass die Harmonie der geräuschlosen Hinterzimmerkür der Kanzlerkandidatin bei den Grünen gelobt wurde. Dagegen galten die für politisch interessierte Zuschauer sehr fesselnden Wettbewerbe bei den Konservativen – erst der Kampf um den Parteivorsitz, dann das Duell um die Kanzlerkandidatur – als Beweis für deren Zerrissenheit. Warum eigentlich?

Politik, das darf die Politik nicht vergessen, findet für die meisten Menschen im symbolischen Raum statt. Wir, die Wählerinnen und Wähler, sehen nicht Debatten und Entscheidungen in den Ausschüssen, die Aktenläufe, Vorlagen und Besprechungen – das fänden wir in der Tat ermüdend. Wir sehen, wie Politik sich präsentiert, wie ihre Vertreter laufen, lachen, weinen, stehen, sitzen und gestikulieren – und vor allem, wie, wo, wann und wozu sie reden. Das erlaubte der Alternative für Deutschland, die weiche Flanke eines bei Debatten nahezu leeren Parlaments zu nutzen.

 

Bilder vom Sprechen und Sprachbilder

 

Mag die parlamentarische Auseinandersetzung selbst für das Thema von nachrangiger Bedeutung sein, konstituieren sich für die Bürgerinnen und Bürger genau darin die Politik, das Parlament und der Staat. Es geht nicht allein um den Inhalt des Gesagten, sondern darum, dass Sprechende sichtbar sind. Insofern ist es sinnvoll, sich regelmäßig bewusst zu machen, welche Bilder Sprache erzeugt – Bilder vom Sprechen und Sprachbilder.

Nicht immer ist das „house on fire“; damit jedoch der Funke überspringt, darf es auch mal etwas feuriger zugehen, ohne dass gleich der Verdacht des Zündelns laut wird. Für die künftige Regierung gibt es so viel zu tun wie möglicherweise seit Jahren nicht. Die notwendige Beschleunigung in vielen Feldern, insbesondere der Digitalisierung, des Ausbaus der Infrastruktur, der Energiewende, der Klimaneutralität, der Entbürokratisierung, wird oft angemahnt. Sie muss stattfinden, im Sinne des eigenen Landes und des immer härter werdenden globalen Wettbewerbs. Doch damit die Politik erfolgreich agieren kann, müssen die Bürgerinnen und Bürger mit an Bord sein. Elan darf sich nicht im Lippenbekenntnis erschöpfen. Um die Bevölkerung zu gewinnen, muss sich die Dynamik des Handelns auch sprachlich widerspiegeln. Deutschland liegt nicht darnieder, aber wir würden gern schneller laufen als bisher. Da darf das Anfeuern nicht fehlen.

 

Kerstin Maria Pahl, geboren 1984 in Frankfurt am Main, Promotion in Kunst- und Bildgeschichte, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin.

 

1 „Wir werden Charterflüge organisieren“. Michael Roth im Interview mit Hagen Strauß, Saarbrücker Zeitung, 14.08.2021.

2 „Warum die neue Langsamkeit nicht entspannt. Hartmut Rosa im Gespräch mit Dieter Kassel“, Deutschlandfunk Kultur, 01.04.2020, www.deutschlandfunkkultur.de/entschleunigung-durch-corona-warum-die-neue-langsamkeit.1008.de.html?dram:article_id=473780 [letzter Zugriff: 20.08.2021].

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