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Über den Rückzug ins Regionale

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Der Moment, der das politische Selbstverständnis Nordrhein-Westfalens erschütterte, kam in nicht einmal 100 Zeichen daher. Am 29. November 2013 ging auf den Mobiltelefonen mehrerer Düsseldorfer Korrespondenten eine Kurznachricht ein; abgesendet von Teilnehmern einer Sondersitzung der SPD-Landtagsfraktion zum fertig ausgehandelten Koalitionsvertrag über die Bildung der neuen Bundesregierung mit der Union. Der erstaunliche Inhalt der SMS: Ministerpräsidentin Hannelore Kraft habe sich vor den versammelten Abgeordneten festgelegt, „nie, nie als Kanzlerkandidatin antreten“ zu wollen.

Die journalistische Deutungsmaschine erreichte schnell eine erhöhte Betriebstemperatur und brachte zwei Interpretationen hervor. Erstens: Kraft habe dem wichtigsten SPD-Landesverband vor dem anstehenden Mitgliederentscheid über die Große Koalition ultimativ klargemacht, dass es die von manchen Genossen erträumte „Alternative Neuwahlen“ mit ihr als Hoffnungsträgerin und Gegenspielerin von Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht geben werde. Zweitens: Ein Jahr nach dem triumphalen Wahlerfolg über CDU-Herausforderer Norbert Röttgen, dem ein Wahlkampf mit Rückfahrticket nach Berlin verübelt worden war, schien es für die Ministerpräsidentin wieder einmal an der Zeit, ihren Markenkern der Heimatverbundenheit und Bescheidenheit herauszustellen.

 

Bedeutungsverlust Nordrhein-Westfalens beim Bund

Was die wenigsten Berichterstatter damals in der vollen Dimension erfassten: Dieser 29. November 2013 veränderte nachhaltig den Blick auf die nordrheinwestfälische Landespolitik – und den journalistischen Umgang mit ihr.

Die Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann (Universität Düsseldorf) und Karl-Rudolf Korte (Universität Duisburg-Essen) skizzierten jüngst einen fortschreitenden „Bedeutungsverlust“ des bevölkerungsreichsten Bundeslandes im politischen Gesamtgefüge der Bundesrepublik.

„NRW bringt sein Potenzial nicht ein“, analysierte von Alemann und zog eine direkte Verbindungslinie der persönlichen bundespolitischen Ambitionen der Ministerpräsidenten. Johannes Rau war Kanzlerkandidat der SPD und legte Wert auf die Wahrnehmung, er begegne Bundeskanzler Helmut Kohl auf Augenhöhe. Wolfgang Clement und Peer Steinbrück zog es später selbst ins Bundeskabinett. Jürgen Rüttgers wechselte von dort in die Landespolitik und ließ keinen Zweifel, dass er von Düsseldorf aus die Bundespolitik mitgestaltete. Kraft habe dagegen keinen Bundesbezug und verzichte „auf einen größeren Wirkungsanspruch“, so von Alemann.

Dieses Rollenverständnis zwingt auch die landespolitischen Berichterstatter zu einer neuen Standortbestimmung. Wie sollen Journalisten damit umgehen, wenn die Regierungschefin laufend mitteilt, ihr behage die Art nicht, „wie in Berlin Politik gemacht wird“? Wenn immerzu ein Gegensatz ausgeleuchtet wird zwischen der angeblich bürgernahen, problemorientierten Landespolitik und einer anonymen und entrückten Bundespolitik, mit der man am liebsten nur zu tun haben will, wenn der Bundesfinanzminister mal wieder Geld überweisen soll? Wenn verkleistert wird, dass gerade Nordrhein-Westfalen über den Bundesrat und die starken Landesgruppen in den Bundestagsfraktionen immer auch Teil der Berliner Machtmaschine ist?

 

Künstliche Distanz zu Berlin

Man könnte es sich leicht machen und die Selbstbeschränkung der Landespolitik klaglos in der Berichterstattung spiegeln. Schule, Hochschule, Kindergarten, Polizei – an publikumsnahen Themen herrscht auch im engeren Wirkungskreis der Landespolitik kein Mangel. Viele Sender und Verlage in Nordrhein-Westfalen schenken der Arbeit ihrer Düsseldorfer Korrespondenten sogar eine immer größere Beachtung. Die landespolitische Berichterstattung ist zu einem journalistisch recht exklusiven Bindeglied geworden zwischen bundespolitischen Themen, die täglich Internetportale und Soziale Medien fluten, und Lokalnachrichten, die sich naturgemäß an einen engen Interessentenkreis richten. Die großen Medienhäuser in NRW vernetzen ihre Landesbüros zwar zunehmend in kostengünstigeren Kooperationen, die Mitgliederzahl der Landespressekonferenz liegt jedoch seit Jahren stabil bei über 120 Journalisten.

Die Korrespondenten in NRW sind einen anderen Weg gegangen. Sie forderten Ministerpräsidentin Kraft im Frühjahr 2015 auf, sich mindestens einmal im Monat in einer Pressekonferenz zu allen aktuellen und interessierenden Fragen zu äußern. Nach einem öffentlich ausgetragenen Konflikt mit der Staatskanzlei erreichte die Landespressekonferenz immerhin, dass sich die Ministerpräsidentin seit 2016 fünfmal pro Jahr zu allen Themen äußern muss. Das ist nicht nur für die journalistische Arbeit wichtig, sondern durchaus   demokratierelevant.

Schon länger verfestigt sich der Eindruck, die Öffentlichkeitsarbeit vieler Landesregierungen erschöpfe sich in provinziell anmutender Terminroutine mit schönen Bildern und harmlosen Bürgerbegegnungen. Die Verbindungslinien zu brennenden Fragen der Bundespolitik werden dabei bewusst verwischt. Es gehört zum strategischen Kalkül vieler Landesmütter und -väter, sich als bürgernahe Kümmerer zu inszenieren und eine künstliche Distanz zu „denen da oben“ in Berlin aufzubauen. Es verspricht Popularität, Berliner Rituale und „Scheindebatten“ zu kritisieren, wie es Ministerpräsidentin Kraft gern tut. Dass es eigentlich das gefährliche Mittel der Populisten ist, sich über Routinen „der“ Politik zu erheben, wird gern übersehen.

 

Abgehoben, machthungrig, mediengeil

Viele Landespolitiker stempeln Berlin zum neuen Brüssel. Abgehoben, machthungrig, mediengeil. Der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, hat schon vor zehn Jahren die nationalen Regierungen gewarnt: Wer immerzu die Institutionen der Europäischen Union als Hort einer bürgerfeindlichen Bürokratie diffamiere, dürfe sich über schwindendes Vertrauen in das Projekt Europa nicht wundern. Ähnliches zeichnet sich im Zusammenspiel von Bund und Ländern auf kleinerer Bühne ab: Bundespolitische Beachtung suchen viele Länderchefs nur noch in den Minuten nach der ersten Wahlabendprognose, die übrigen Jahre der Legislaturperiode geht man bewusst auf Abstand zur Hauptstadt. In Düsseldorf wird dieser Rückzug ins Regionale mit der größten Konsequenz vollzogen – und gerade hier wirkt das wegen Größe und Möglichkeiten des Bundeslandes besonders befremdlich. Diesen Widerspruch immer wieder deutlich zu machen, gehört zu den neuen Herausforderungen der landespolitischen Berichterstattung.

Die nordrhein-westfälische Landesregierung hat vor geraumer Zeit mit großem Aufwand eine „Väter-Kampagne“ gestartet, die den Familiensinn von Männern steigern soll. „Vater ist, was Du draus machst!“ prangt in übergroßen Lettern in den Hochhausfenstern des Familienministeriums direkt am Rhein. Als Journalist wünschte man sich in der nahe gelegenen gläsernen Staatskanzlei die Erinnerung: „Ministerpräsident ist, was Du draus machst!“

Tobias Blasius, geboren 1974 in Essen, Landeskorrespondent der Funke-Mediengruppe NRW, Vorsitzender der Landespressekonferenz Nordrhein-Westfalen e.V.

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