„Es ist, als habe eine Band einen Überraschungshit gelandet und muss jetzt eine Langspielplatte vorlegen.“ So beschreibt Hansjörg Schmitt ein Jahr nach den ersten Demonstrationen die Situation von Pulse of Europe („Europas Puls“). Er gehört zur Kerngruppe der Bewegung, die sich auf Initiative von Sabine und Daniel Röder Ende 2016 gegründet hat, um für Europa auf die Straße zu gehen.
Nach dem Brexit-Votum der Briten und der Wahl von Donald Trump in den USA hatte das Frankfurter Juristenpaar Röder beschlossen, angesichts rechtspopulistischer Strömungen mit Blick auf das „Superwahljahr 2017“ nicht länger auf dem Sofa zu sitzen und Zuschauer zu sein, sondern etwas zu unternehmen. Sie sahen eine akute Gefahr für ein Auseinanderbrechen der Europäischen Union (EU) nach den Ankündigungen von Geert Wilders in den Niederlanden und Marine Le Pen in Frankreich. Darum wollten sie die positiven Seiten der Union ins Bewusstsein rücken. Statt über die Abschaffung von Glühbirnen und den Krümmungsgrad von Gurken sollte über den Wert des Friedens und der Freiheit in Europa gesprochen werden. Zwischen die immer zahlreicher und immer größer werdenden Europa-Flaggen mischten sich auch pinkfarbene Mützen der Trump-Gegner, die die Womens’ Marches und Marches for Science organisierten.
An den ersten Sonntagen waren es hauptsächlich ältere Menschen, die daran erinnerten, wie Europa nach dem Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche lag, und sie daher für das „Friedensprojekt Europa“ – oft zum ersten Mal in ihrem Leben – auf die Straße gingen. Erst etwas zögerlich, aber zunehmend begeisterter fassten sie sich anschließend an den Händen, um eine Menschenkette um den Frankfurter Goetheplatz oder auf der Kölner Domplatte zu bilden. Als „Händchenhalten für Europa“ wurde das von manchen bespöttelt. Doch es kamen schon bald jüngere Demonstranten hinzu, die skandierten: „Wir sind hier, wir sind laut, weil man wieder Mauern baut!“
Die schweigende Mehrheit sichtbar machen
Das richtete sich gegen Trump, jedoch auch gegen die Zäune an europäischen Grenzen. Solche Demonstranten entsprachen zwar nicht dem Leitbild von Pulse of Europe, doch sie sorgten für Aufmerksamkeit. Denn oberstes Prinzip der Bewegung ist es, nicht „Anti-Irgendetwas“, nicht gegen, sondern für etwas zu demonstrieren – für ein vereintes, friedliches und demokratisches Europa. Dennoch schwingt das „Gegen“ immer mit. Zumindest ein Entgegentreten, wodurch eine sonst oft schweigende, große Gruppe der Zivilgesellschaft sichtbar wird – und das über gesellschaftliche ebenso wie Landesgrenzen hinweg. So mancher Demonstrant sah die Bewegung als Anti-Pegida oder Anti-AfD. Das war Teil des Erfolgs. Zudem half, dass die Medien offensichtlich für andere Bilder als die von krakeelenden Nationalisten dankbar waren. Menschen in Azurblau mit dem Sternenbanner, die die Hymne „Ode an die Freude“ singen und Schilder mit dem EU-Motto „United In Diversity“ („In Vielfalt geeint“) tragen oder die Menschenketten von Frankreich nach Deutschland über den Rhein bilden, ließen sich den Berichten über die Rechtspopulisten in den Nachbarländern gut gegenüberstellen. Solche Berichte trugen ebenso wie intensive Aktivitäten in sozialen Netzen dazu bei, die Bewegung schnell auch über die deutschen Grenzen hinwegzutragen.
Im Laufe des Jahres kamen immer mehr Demonstrationsorte hinzu. Ihren Höhepunkt erreichte die Bewegung im Frühsommer 2017 mit bis zu 70.000 Demonstranten an 120 Orten in zwanzig Ländern. Doch auch nach den Wahlen in den Niederlanden und Frankreich dachten das Ehepaar Röder sowie ihre Mitstreiter Hansjörg Schmitt, Jens Pätzold, Stephanie Hartung, Karin und Karl-Burkhard Haus und die Initiatoren vieler anderer Standorte nicht mehr daran, aufzuhören. Schließlich stand die Bundestagswahl im Herbst an, und es war absehbar, dass mit der AfD auch ins deutsche Parlament rechtspopulistische Töne einziehen würden. Mit einem offenen Brief an die Parteien und einem Europa-Wahl-O-Mat versuchte Pulse of Europe, Themen der EU auf die Agenda zu setzen. An den Demonstrationssonntagen kamen nun auch Politiker zu Wort.
Daniel Röder macht keinen Hehl daraus, dass er sich mehr Europapolitik im Wahlkampf gewünscht hätte. Doch auf den Plätzen war immer wieder zu spüren, dass sich die Europa-Freunde politisch keineswegs einig sind. Spätestens bei der Frage nach dem Umgang mit Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen kam es zum Dissens. Forderte einer die Sicherung der Grenzen, verließen andere den Platz. Stellte ein anderer die These auf, die EU habe Schuld am Elend und sei verpflichtet zu helfen, gingen andere.
Uneinigkeit verhindert konkrete Ziele
Die Begeisterung vieler Anhänger der Pulse of Europe-Bewegung für den französischen Präsidenten Emmanuel Macron und seine flammenden Plädoyers für eine engere Zusammenarbeit der Europäer teilen nicht alle. Auftritte von Ulrike Guérot, deren Einsatz für eine europäische Integration bei den Initiatoren auf viel Sympathie stößt, goutierten auch nicht alle auf den Plätzen. Und Guérot wiederum kritisierte die Bewegung, dass diese die schnell erlangte Popularität viel stärker einsetzen und weitreichende Forderungen an die Politik stellen solle.
Eine europäische Republik, wie Guérot sie propagiert, ist aber offensichtlich vielen Anhängern der Bewegung nicht geheuer. Wurden derartige Modelle im Frühjahr noch intensiv diskutiert, will man sich bei den Initiatoren derzeit nicht auf solch konkrete Ziele festlegen. Allerdings wünscht sich Röder, dass die deutsche und europäische Politik Macron in seinen Bestrebungen stärker unterstützen solle. Denn er ist sich sicher, dass in Frankreich nur ein Etappensieg errungen sei.
Sollte Macron scheitern, sieht er Unheil für Europa heraufziehen. Das sehen er und seine Mitstreiter aber auch an anderen Stellen, und zwar an solchen, die nicht tagtäglich über die Nachrichten ins allgemeine Bewusstsein dringen. So mache sich kaum jemand bewusst, dass in Italien bei den Parlamentswahlen im Frühjahr eine weitere Stärkung der Fünf-Sterne-Bewegung des EU-Kritikers Beppe Grillo und der Forza Italia zu erwarten sei. Gefahr für die Union sieht Röder vor allem im Osten aufziehen. Daher will er besonders den Pulse of Europe-Gruppen in den osteuropäischen Nachbarländern, die von ihren Regierungen mit Argwohn betrachtet werden, den Rücken stärken. Ein politisches Programm aber verfolgt Pulse of Europe weiterhin nicht.
„You say goodbye, we say hello“
Zunächst will man eine Graswurzelbewegung bleiben, die von der Zivilgesellschaft getragen wird. Daher soll zunächst die innere Vernetzung vorangetrieben werden. Aus diesem Grund fand im Herbst 2017 ein Treffen in Luxemburg mit Vertretern der Organisationsteams aller teilnehmenden Länder statt. Im Wesentlichen ging es um das, was die Initiatoren schon zu Beginn in ihren Grundthesen festgehalten hatten: dass Europa nicht scheitern dürfe, weil der Frieden auf dem Spiel stehe; dass die Bürger verantwortlich seien; dass Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit unantastbar und die europäischen Grundfreiheiten nicht verhandelbar, Reformen jedoch notwendig seien. All das über Landes-, Sprach- und Kulturgrenzen hinweg auf einen Nenner zu bringen, ist nicht leicht. An erster Stelle aber stehe immer eine klare Absage an jede Form von Nationalismus, sagt Röder. Angesichts der Ergebnisse der Wahlen in Österreich und Tschechien oder auch der Entwicklungen in Polen und Ungarn sieht er reichlich Handlungsbedarf für Pulse of Europe.
Bestätigt fühlt sich die Bewegung dadurch, dass in Warschau, Prag und Rom den ganzen Winter hindurch demonstriert wird, während die anderen Standorte eine Winterpause einlegen. Aus Frankfurt erhalten sie dafür Unterstützung. Dort will man bis zu den nächsten Demonstrationen Anfang März eine „Task Force Italien“ bilden, gegebenenfalls aber auch spontane Aktionen unterstützen, falls es Anfragen aus anderen Ländern gebe.
So ist aus der kleinen Bürgerinitiative aus Frankfurt eine europaweit agierende Bewegung geworden. Man werde sicher nicht dauerhaft regelmäßig demonstrieren können, sagen die Initiatoren, die sich weiterhin ausschließlich ehrenamtlich für die Sache einsetzen, unterstützt nur von einer kleinen Geschäftsstelle. Es gebe derzeit kein zeitliches Limit, heißt es. Die nächste Etappe sei der Zeitraum bis April 2019, dem Termin des Brexit, dem sie weiterhin den abgewandelten Beatles-Song „You Say Goodbye, We Say Hello“ entgegenhalten. Lieder wie dieses oder Toto Cutugnos Titel „Insieme“ sind es, die die positive Stimmung der Pulse of Europe-Demonstrationen vermutlich stärker geprägt haben als mancher politische Appell. Es ist die Antwort auf Jacques Delors’ Aussage „Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt“ oder vielleicht eine populäre Replik auf die Initiative von Volker Hassemer. Der hatte seinem mit Nele Hertling herausgegebenen Buch Europa eine Seele geben den Satz vorangestellt: „Wir brauchen ein Europa der Bürger, die ihre Verantwortung für die europäische Einigungs-Entwicklung annehmen und leben.“
Herzschrittmacher Europas
In diesem Sinne sagte die saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer in ihrer Laudatio bei der Verleihung des Marion-Dönhoff-Förderpreises an Pulse of Europe im Dezember 2017: „Wenn es Sie nicht schon gäbe, müsste man Sie erfinden!“ Sabine Röder antwortete darauf, Pulse of Europe nehme den Preis als Ansporn dafür, weiterzumachen. Es gebe noch viel zu tun.
Die Frankfurter Politikwissenschaftlerin Sandra Eckert, die die Bewegung von Beginn an beobachtet, sieht durchaus ein Potenzial zur politischen Einflussnahme. Das habe die Forschung vielfach aufgezeigt, sagte sie auf Anfrage. Auch wenn der Appell von Pulse of Europe, im Bundestagswahlkampf über Europa zu streiten, ohne größeren Widerhall geblieben sei, könne die Bewegung doch im Konzert mit anderen Stimmen aus möglichst vielen Mitgliedstaaten einen Beitrag zur Stärkung der europäischen Zivilgesellschaft leisten.
Erste Schritte dafür sind gemacht. Und vielleicht liegt es auch an Pulse of Europe, dass nicht mehr so oft vom „kranken Mann Europa“ gesprochen wird. Die Bewegung ist zu einem Herzschrittmacher für die europäische Sache geworden – initiiert von Bürgern, deren Herz für das vereinte Europa schlägt.
-----
Patricia Andreae, geboren 1962 in Köln, seit 1991 Redakteurin bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ in der Rhein-Main-Redaktion und dort mit unterschiedlichen Themen der städtischen Gesellschaft befasst. Sie begleitet den „Pulse of Europe“ seit der ersten großen Demonstration im Januar 2017.