Was bedeutet wünschenswerte, manche würden sagen, gute Arbeitsmigration? Und wie sollten Programme aussehen, die darauf abzielen, Migration und Nachhaltigkeit in Einklang zu bringen? In einem zwischen Dezember 2020 und August 2022 an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg durchgeführten Forschungsprojekt wurden diese Fragen an den Beginn unserer Analyse gestellt. In Länderstudien zu Georgien, Kosovo und Vietnam wurden unterschiedliche Partnerschafts- und Rekrutierungsmodelle analysiert und Bedingungen für positive Entwicklungseffekte insbesondere für die Herkunftsländer identifiziert.
Die Statistiken zum Fachkräftemangel in Deutschland sind hinlänglich bekannt; der demografische Wandel ist in der Lebensrealität vieler Menschen angekommen. Diese Entwicklung wird sich wahrscheinlich weiter verschärfen und die anstehende sozial-ökologische Transformation beeinträchtigen. Weite Bereiche der Wirtschaft sowie der kommunalen Daseinsvorsorge stehen vor fundamentalen Herausforderungen. Um das Erwerbspersonenpotenzial und den Wohlstand in Deutschland künftig sichern zu können, ist neben vielfältigen Bemühungen um inländische Fachkräfte eine jährliche Nettozuwanderung ausländischer Fachkräfte unabdingbar. In diesem Kontext wird die Anwerbung von Fachkräften zu einer strategischen Frage für die Zukunft. Die Perzeption von Arbeitsmigration als potenziell vorteilhaftem Prozess hängt dabei oft mit dem Triple-Win-Narrativ zusammen: Triple-Win bezeichnet die Chance, eine positive Migrationsrendite für die Herkunftsländer, die Zielländer und die Migrierenden zu generieren. Unsere Forschung bestätigt den hohen Stellenwert von Triple-Win bei der Bewertung von Migrationsprogrammen. Der blinde Fleck ist allerdings die unausgewogene Berücksichtigung von Kosten und Nutzen; die Frage „Wie werden die Gewinne verteilt?“ beantwortet Triple-Win nur unbefriedigend.
Generierung positiver Entwicklungseffekte
Viele Annahmen, wie sich die Migrationsrenditen einstellen, erweisen sich zudem als diskussionswürdig. Für bestimmte Sektoren, in denen eine hohe Erwerbsmigration festzustellen ist, zum Beispiel im Gesundheitswesen oder in der Landwirtschaft, sind nicht-nachhaltige Praktiken wie etwa die Verletzung ethischer und rechtlicher Standards dokumentiert. Zudem wird die Abwanderung junger Arbeitskräfte von vielen Herkunftsstaaten zunehmend kritisch betrachtet. Finanzielle Rücküberweisungen von Migrierenden entfalten ihre positive Entwicklungswirkung nicht per se, sondern hängen vielmehr von einer Reihe spezifischer Faktoren ab.
Bei den meist positiv wahrgenommenen Arbeitsmarkteffekten in den Herkunftsländern findet die Betrachtung und Bewertung regionaler, sektoraler und qualifikatorischer Gesichtspunkte oftmals keinen Eingang. Positive Entwicklungsfaktoren, die sich aus der Rückkehr von Migrierenden oder aus Wissenstransfers ergeben, spielen in den meisten Arbeitsmigrationsprogrammen eher eine untergeordnete Rolle. Daher besteht die Gefahr, dass eine einseitige Fokussierung auf rasche und dauerhafte Zuwanderung möglichst vieler Fachkräfte mit entwicklungspolitischen Zielen in Konflikt gerät. Unsere Analysen zeigen dennoch, dass die nachhaltige Steuerung und Gestaltung von Arbeitsmigration gelingen kann. Die untersuchten Beispiele in Georgien, Kosovo und Vietnam tragen positiv zur Entwicklung in den drei Ländern bei, wenn auch in einem unterschiedlichen Ausmaß und über verschiedene Mechanismen. In allen Fallstudien konnten Ansatzpunkte identifiziert werden, mithilfe derer sich weitere positive Entwicklungseffekte generieren lassen. In Georgien fokussieren wir die Verzahnung von aktiver Arbeitsmarktpolitik (Berufs- und Karriereberatung), beruflicher Bildung (modulare Teilqualifizierung) und Saisonarbeit (gezielte Auswahl der Teilnehmer und Überwachung rechtlicher und ethischer Standards).
Die betrachtete Form der Zuwanderung aus Kosovo in die berufliche Ausbildung im Bausektor in Deutschland weist in der kurzfristigen Perspektive die geringsten Entwicklungseffekte für die Herkunftsländer auf. Mit einem längeren Betrachtungshorizont könnte sich die Gesamtbilanz allerdings ändern, insbesondere dann, wenn sich positive Effekte über finanzielle Rücküberweisungen einstellen, Instrumente zur Förderung der (temporären) Rückkehr gezielt Anwendung finden und die Expertise der Diaspora für Wissenstransfers genutzt wird.
Der Aufbau von Berufsbildungsstrukturen im metallverarbeitenden Gewerbe in Vietnam beinhaltet ein hohes Entwicklungspotenzial. Die entsprechenden Maßnahmen finden schwerpunktmäßig in Vietnam statt und zielen in ihrer Wirkung vornehmlich auf das Herkunftsland. Der Wissens- und Entwicklungstransfer ist dabei explizit verankert. Ein Großteil der Qualifizierung wird in das Herkunftsland verlagert und verknüpft die Qualifikation von (potenziell) Migrierenden und Nichtmigrierenden.
In Summe bewerten wir gesteuerte Programme der Erwerbsmigration als nachhaltiger im Vergleich zu ungesteuerten, individuell realisierten Formen. Wir sind zudem überzeugt, dass nachhaltige Modelle der Fachkräftezuwanderung als unique selling point – als Alleinstellungsmerkmal – im internationalen Wettbewerb um Fachkräfte dienen können. Notwendig ist allerdings ein Paradigmenwechsel, der die Realisierung von Entwicklungseffekten und deren Verteilung sowie die partnerschaftliche und transnationale Steuerung von Erwerbsmigration in den Mittelpunkt stellt.
Empfehlungen für einen Paradigmenwechsel
Erstens: Arbeitsmigration sollte künftig besser mit anderen Politikfeldern verzahnt und in Regierungsstrategien, wie Entwicklungs-, Arbeitsmarkt- und Armutsbekämpfungsstrategien in den Herkunfts- und Zielländern, integriert werden. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) sollte dabei stärker als bislang als Makler der Interessen der Migrierenden und der Herkunftsländer fungieren.
Zweitens: Bilaterale Arbeitsmigrationsabkommen werden von vielen Befragten als praktikable Instrumente erachtet, um die Kooperation transparent zu dokumentieren. Das BMZ sollte seine Expertise nutzen und sich für umfassende Migrationsabkommen einsetzen.
Drittens: Ein kohärenterer, zwischen den Fachministerien abgestimmter Gesamtregierungsansatz kann zu einer inklusiven Migrationsinfrastruktur mit vereinfachten und beschleunigten Verwaltungsverfahren beitragen.
Viertens: Privatwirtschaft, Zivilgesellschaft und kommunalpolitische Akteure sollten systematisch und frühzeitig in Rekrutierungsprogramme eingebunden werden.
Fünftens: Neben einer Analyse der Ausgangslage bedarf es eines konsistenten Erwartungsmanagements sowie adäquater Zeit- und Planungshorizonte – weniger Pilotismus, mehr Anstrengung beim Aufbau von Gemeinschaften des gegenseitigen Vertrauens.
Sechstens: Viele Akteure werden aufgrund von Ressourcenmangel den Anforderungen einer nachhaltigen Erwerbsmigration nicht gerecht. Es braucht daher sektorspezifische Kümmererstrukturen, die die gegebene Komplexität abbilden. Passende Informations- und Bildungsangebote sollten dafür zugänglich gemacht werden.
Siebtens: Komplexere Ansätze der Erwerbsmigration sollten sich auf transformationsrelevante Sektoren und Berufe fokussieren.
Achtens: Viele Pilotprojekte sind voraussetzungsreich, kostenintensiv und schwierig umzusetzen. Erweisen sich Pilotprogramme als erfolgreich, sollten entsprechende Ressourcen bereitgestellt werden, um sie zu skalieren.
Neuntens: In der deutschen Migrationslandschaft sind vielfältige Erfahrungen und erprobte Instrumente vorhanden. Diese innovativen Ansätze gilt es zu fördern und interessierten Akteuren zugänglich zu machen.
Zehntens: Die Wissenschaft sollte sich stärker der interund transdisziplinären Analyse von Arbeitsmigration öffnen.
Der Wandel der Migrationspolitik hat Deutschland in den letzten Jahrzehnten schrittweise zu einem modernen Einwanderungsland werden lassen. Bei entsprechender Gestaltung kann Arbeitsmigration zu positiven Entwicklungseffekten für alle beteiligten Akteure führen. Bei der Bewertung dieser Zusammenhänge gilt es, zumindest aus entwicklungspolitischer Perspektive, die Verteilung der Entwicklungsdividenden stärker in Betracht zu ziehen und die vielversprechenden Praxisbeispiele im Hinblick auf ihr Skalierungspotenzial zu prüfen. Die Komplexität dieser Prozesse muss dabei von der Politik besser koordiniert werden.
Im Diskurs um gute Migration spielt es letztlich eine untergeordnete Rolle, welchen Begriff man im Lichte des Paradigmenwechsels verwendet. Man mag dies Triple-Win+, Quadruple-Win, dynamisches Viereck der Erwerbsmigration oder nachhaltige Arbeitsmigration nennen – die exakte Bezeichnung ist nachrangig. Wichtiger sind die zugrunde liegende Perspektive sowie die spezifische Herangehensweise.
Eines sollte allerdings klar sein: Wenn Deutschland nicht in der Lage ist, den vorhandenen rechtlichen Rahmen in die praktische Umsetzung zu überführen und innovative Ansätze zu skalieren, werden viele potenzielle Fachkräfte in andere Länder migrieren. Um der Komplexität von Migrationsprozessen gerecht zu werden und sie nachhaltiger zu gestalten, bedarf es daher Mutes und eines kreativen Sinns für Innovationen.
Michael Sauer, geboren 1976 in Aschaffenburg, Professor für Sozialpolitik und Leiter des Bachelorstudiengangs „Nachhaltige Sozialpolitik“, Hochschule Bonn-Rhein-Sieg (H-BRS), Sankt Augustin.