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Für einen differenzierteren Blick auf unsere europäischen Nachbarn im Osten

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Lange Zeit bildete der Eiserne Vorhang auch eine demagogische Grenze zwischen dem Osten und dem Westen. Die dadurch entstandenen Vorurteile sind nicht über Nacht verschwunden, zum Teil prägen sie das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland sowie zwischen Ost- und Westeuropa noch immer. Es ist höchste Zeit, die europäischen Nachbarn östlich der deutschen Grenze differenzierter zu betrachten. Es gibt, auch politisch, viel zu entdecken: Mit dem Demokratisierungsprozess in den ehemaligen sozialistischen Staaten ist auch ein neues Selbstverständnis und Selbstbewusstsein entstanden.

Mit dem europäischen Einigungsprozess ist zunächst im Westen etwas Herausragendes gelungen, was mittlerweile dort für selbstverständlich gehalten wird: Frieden und Freiheit. Viele einstige Staaten im „Ostblock“ haben sich dieser Werte- und Friedensgemeinschaft der Europäischen Union angeschlossen. In Anbetracht des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, russischer Agitation und Desinformation in ganz Europa ist es umso wichtiger, die historischen Erfahrungen, Interessen und Befürchtungen unserer osteuropäischen Nachbarn besonders ernst zu nehmen, denn die Wiederherstellung des Friedens in ganz Europa ist ohne den Zusammenhalt in der Europäischen Union nicht zu erreichen.

Der europäische Kontinent war jahrhundertelang von Kriegen, Einzelinteressen und der Hegemonialpolitik der Großmächte geprägt: Die kleineren Länder, seien es Verbündete oder Gegner, spielten nur eine untergeordnete Rolle; oft wurde deren Selbstbestimmungsrecht und Souveränität missachtet.

Mit Blick auf die Gegenwart müssen wir auch in Deutschland eingestehen, dass es nicht immer gelingt, diesen Ländern auf Augenhöhe zu begegnen. Sie haben bis heute das Gefühl, dass sie auf europäischer Ebene eine untergeordnete Rolle spielen. Erfolgsmodelle wie das Weimarer Dreieck, ein außenpolitisches Gesprächs- und Konsultationsforum Deutschlands, Frankreichs und Polens, das vor über dreißig Jahren ins Leben gerufen wurde, werden nicht so intensiv gelebt wie das transatlantische Verhältnis. Spätestens mit dem russischen Angriffskrieg zeigt sich, wie wichtig es ist, die Wahrnehmung unserer östlichen Nachbarn einzubeziehen.

 

Jungbrunnen für Europa

Zu Recht halten uns die mitteleuropäischen Partner, Polen oder Tschechen vor, wie unverständlich es ihnen erscheint, dass ihre Warnungen vor dem russischen Aggressor nicht ausreichend Beachtung fanden. Selbst nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Jahr 2014 schien in den meisten westlichen Ländern das drohende Unheil in weiter Ferne zu liegen und nicht greifbar zu sein. Erst mit der russischen Invasion am 24. Februar 2022 haben auch die meisten Menschen in Deutschland verstanden, dass Frieden und Freiheit in Europa keine Selbstverständlichkeiten sind.

Die demokratischen Staaten des ehemaligen Ostens sind wie ein Jungbrunnen für das freiheitliche Europa. Sie erneuern eingeschliffene Wahrnehmungen. Scheitert nur eine dieser Demokratien, wird dies immense Auswirkungen auf ganz Europa und die Europäische Union haben. Umso mehr beunruhigt, dass sie – noch mehr als die Staaten im alten Westen – zum Teil vor einer Bewährungsprobe stehen. Die Zersplitterung der nationalen Parteiensysteme und die Stärkung am linken sowie rechten politischen Rand tragen dazu bei. Die Folgen sind immer schwieriger werdende Regierungsbildungen sowie Verschiebungen im politisch-kulturellen Verständnis. Die politische Mitte gerät unter wachsenden Druck.

Einzelne osteuropäische Staaten nehmen keine uneingeschränkt solidarische Haltung gegenüber der Ukraine ein. Die Mehrheit aller Nachbarländer hat jedoch von Anfang an ihre Verantwortung für den Beitrag zu einem sicheren Europa erkannt. Nur als vereintes Europa können die Herausforderungen des

21. Jahrhunderts erfolgreich gemeistert werden. Die Zeitenwende ist nicht nur ein deutsches Ereignis, sie betrifft unsere Nachbarn mindestens gleichermaßen. Um die Zukunft weiter zu schmieden, müssen wir unser Fundament in Europa stärken. Dazu drei Impulse.

Erstens: Begegnungen auf Augenhöhe. Die Regierungen in Budapest, Warschau, Prag und Bratislava ebenso wie in den Balkanstaaten haben aufgrund ihrer geografischen Lage einen besonderen Blick auf Russland. Vor diesem Hintergrund sind intensivere Beziehungen zu ihnen notwendig – nicht nur wirtschaftlicher Natur, sondern auch und insbesondere mit Sicht auf die Verteidigung. Wir sollten die politische Zusammenarbeit forcieren und gemeinsame Truppenkontingente schnellstmöglich auf den Weg bringen. Die Verteidigung unserer Freiheit ist das Maß aller Dinge. Dazu kann und wird ganz „Mitteleuropa“ stärker beitragen müssen. Die angekündigte Stationierung einer Brigade der Bundeswehr in Litauen kann nur ein Anfang sein. Der Ausbau der Rüstungsindustrie, europäische Abkommen und die Installation einer europäischen Armee in den kommenden Jahren im Zentrum Mitteleuropas müssen wir zu einem Diskussionsgegenstand machen. Mit Unterstützung von Frankreich müssen wir immer auf Augenhöhe mit diesen Ländern diskutieren.

Zweitens: Notwendig ist ein Plan, wie wir künftig mit Russland umgehen wollen. Auch aufgrund seiner historischen Verantwortung sollte Deutschland einen wichtigen Beitrag leisten, um West-, Mittel- und Osteuropa noch stärker zu verbinden. Wenn die Ukraine hoffentlich bald gesiegt hat, stellt sich zudem die Frage, ob und wie sich künftig eine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem rohstoffreichen Russland gestalten lässt. Wie gehen wir mit möglicherweise weiteren destabilisierenden Maßnahmen durch den russischen Präsidenten bis hin zu Kriegen in anderen Ländern um? Wie stellen wir uns auf eine Zeit nach Wladimir Putin ein? Welche Antworten finden wir auf nationale Interessen europäischer Länder, beispielsweise bei der Abnahme von Gas und bezüglich der nationalen Verträge zwischen europäischen Partnern mit Russland?

Drittens: Verstärkter Austausch. Die Möglichkeiten von Schülern und Jugendlichen im Austausch mit Mittel- und Osteuropäern müssen stärker in den Fokus rücken und intensiviert werden. Mir fällt als Ostdeutschem auf, dass viele Menschen aus Westdeutschland noch nicht den östlichen Teil Deutschlands besucht haben. Wie verhält es sich denn eigentlich mit den mitteleuropäischen und osteuropäischen Nachbarn? Wer hat sich schon einmal Prag, die „Perle an der Moldau“, angesehen? Wer war in Rumänien oder in den Balkanstaaten? Wer konnte diese großartige Kultur kennenlernen und auch verstehen, warum die Menschen nachvollziehbar so reagieren, wie sie reagieren? Mit Austausch und durch Begegnungen werden wir unser Verhältnis verbessern.

 

Europa ist gelebte Freiheit

Die Europäische Union ist eine der größten Errungenschaften unserer modernen Zeitgeschichte. Sie manifestiert Werte wie Frieden, Sicherheit und Wohlstand. Europa ist Ausdruck für gelebte Freiheit. Diese Werte müssen wir schützen.

Das Bewusstsein, dass wir nicht nur Deutsche, sondern auch Europäer sind, müssen wir stärker repräsentieren. Es sind die Freiheiten eines vereinten Europas, die uns beim Einkaufen, in der Schule oder bei Urlaubsreisen begleiten. Doch nicht immer erfahren diese Vorteile entsprechende Wertschätzung. Für den Zusammenhalt der ost- und mitteleuropäischen Länder ist die Europäische Union von großer Bedeutung.

Die Europäische Union ist jedoch nicht über jede Kritik erhaben. Für die Bürgerinnen und Bürger sind europäische Gesetzesinitiativen häufig schwer nachvollziehbar und oftmals zu bürokratisch. Der Brexit zeigt nicht nur, wie wir die Europäische Union missen könnten, sondern wie stark wir von ihr profitieren. Den rechten und linken Kräften, die dieses Europa offen ablehnen, gilt es, bei den anstehenden Europawahlen argumentativ zu begegnen.

Ostdeutschland profitiert ebenfalls tagtäglich von den Vorteilen der Europäischen Union. Mit den Ansiedlungen von Tesla und Intel wird in Europa ein neuer Wirtschaftsstandort in Ostdeutschland und damit in Mitteleuropa entstehen. Die wirtschaftlichen Kennzahlen attestieren den ostdeutschen Bundesländern immer noch ein strukturelles Defizit, jedoch wird der Abstand zu strukturschwachen Bundesländern in Westdeutschland geringer.

Wir Ostdeutschen können stolz auf diese Erfolge sein, jedoch spiegelt unsere Mentalität dies nicht immer wider. Was sagt es aus, wenn sich ein Ostdeutscher selbst als „Ossi“ bezeichnet, während einem westdeutschen Bundesbürger das Wort „Wessi“ nicht über die Lippen kommt?

 

Kein Vorhang des Schweigens

Die kulturell-politischen Herausforderungen bleiben bestehen. Damit oft in Verbindung gebracht wird, den Ostdeutschen in Studien die Fähigkeit zur Demokratie abzusprechen. Haben wir als Ostdeutsche vielleicht nur eine andere Erwartung an das Lösen von Problemen in unserem demokratischen Denken?

In den Gesprächen mit den Menschen aus unseren osteuropäischen Nachbarstaaten wurde ein Aspekt mit einer besonderen Intensität betont, und zwar die Kommunikation. Populistische Aussagen verengen den politischen Diskurs und führen die Menschen aus der politischen Mitte heraus. Politik und ihre Themen werden unsagbar. Daher betonten meine Gesprächspartner, dass kein Vorhang des Schweigens zwischen den demokratischen Institutionen und ihren Bürgern aufgezogen werden darf.

Rückblickend auf den Fall des Eisernen Vorhangs war es Teil der Runden Tische, Meinungen auszutauschen. Wir müssen wieder mehr für eine stärkere Partizipation an der Demokratie streiten. Die Stammkneipen, die Festzelte und die Marktplätze müssen wieder zu unseren Runden Tischen werden. Mit den sozialen Medien bietet sich zudem eine Plattform, die Partizipation individuell zugänglich macht. Denn eine Demokratie lebt von ihren Bürgerinnen und Bürgern.

 

Sepp Müller, geboren 1989 in Lutherstadt Wittenberg, Stellv. Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Gesundheit, Neue Länder, Sport und Ehrenamt, Petitionen, Vorsitzender der CDU-Landesgruppe Sachsen-Anhalt, Mitglied der Jungen Gruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.


Dies ist der dritte Teil einer Reihe von Beiträgen von Mitgliedern der Jungen Gruppe der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag.

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