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Nordafrika als Knotenpunkt der Migration

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In der Migrationsdebatte kommt Nordafrika und der Kooperation mit nordafrikanischen Staaten eine zentrale Rolle zu. Tatsächlich hat sich die Migration in den letzten Jahren zu einem dominierenden Politikfeld in der Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union (EU) und Nordafrika entwickelt. Wie hat sich die Migrationsthematik auf die Beziehungen mit nordafrikanischen Ländern ausgewirkt und was sind die Elemente einer weitreichenden und nachhaltigen Strategie in der Zusammenarbeit mit Nordafrika bei der Bewältigung der Herausforderungen durch Flucht und Vertreibung?

In den letzten zehn Jahren sind über zwei Millionen Flüchtlinge und Migranten über das Mittelmeer nach Europa gelangt. Der Großteil kam 2015 über die östliche Mittelmeerroute, über die Ägäis. Im Nachgang zum EU-Türkei-Abkommen im März 2016 reduzierten sich diese Bewegungen abrupt, und es fand eine Verschiebung der Migrationsrouten von der östlichen über die zentrale hin zur westlichen Mittelmeerroute statt.

Ebenfalls änderten sich die Herkunftsländer der Migranten. Zunehmend machten sich vornehmlich Menschen aus Subsahara-Afrika aufgrund ökonomischer Missstände auf den Weg, unter anderem nach Europa. Die Ankünfte aus Nordafrika in Europa sind für eine transkontinentale Migrationsroute im Grunde nicht dramatisch hoch, abgesehen von den drei Ausnahmejahren 2015, 2016 und 2017. Seither sind die Ankunftszahlen in Europa zwar kontinuierlich zurückgegangen – die Route zwischen Nordafrika und Europa ist dennoch seit Jahren die tödlichste Grenze der Welt. Seit 2015 sind im Mittelmeer mindestens 15.500 Menschen ertrunken. Diese humanitäre Dimension führt zu moralischen Dilemmata hinsichtlich des Umgangs Europas mit seiner südlichen Grenze.

 

Ankünfte in Europa über das Mittelmeer (2015–2019)

  • 2019: 105.425 (1.246 Tote), hauptsächlich Griechenland (66.166), gefolgt von Spanien (24.759) und Italien (14.500)
  • 2018: 111.558 (2.217 Tote), hauptsächlich Spanien (55.000), gefolgt von Griechenland (31.000) und Italien (23.000)
  • 2017: 171.635 (3.116 Tote), hauptsächlich Italien (119.000)
  • 2016: 363.504 (5.143 Tote), hauptsächlich Italien (181.500) und Griechenland (173.500)
  • 2015: 1.007.492 (3.777 Tote), hauptsächlich Griechenland (847.000) und Italien (153.000)

 

Die nordafrikanischen Staaten stellen in erster Line eine Transitregion für Flüchtlinge und Migranten aus Subsahara-Afrika, aber auch aus dem Nahen und Mittleren Osten dar. Marokko hat mit Unterstützung Spaniens den Übergang nach Europa weitgehend unter Kontrolle. Die zentrale Mittelmeerroute von Libyen nach Italien hingegen ist aufgrund fehlender staatlicher Strukturen und des anhaltenden Bürgerkriegs sehr fragil. Dass die Zahl der Überfahrten seit 2016 um 95 Prozent gesunken ist, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich in dem krisengeschüttelten Land mehrere Hunderttausend Migranten aufhalten, die sich bei einer weiteren Eskalation des bewaffneten Konflikts auf den riskanten Weg über das Mittelmeer begeben müssten.

Ein Abkommen Italiens mit der international anerkannten Einheitsregierung in Tripolis und den Milizen im Westen des Landes konnte zwar die libysche Route für Überfahrten nach Europa schließen, allerdings ist das Abkommen brüchig: zum einen, weil die Regierung über keine Autorität und Kontrolle über das Land verfügt und gegen die bewaffneten Einheiten von Chalifa Haftar um ihr Überleben kämpft, und zum anderen, weil Milizen keine zuverlässigen Partner sind – zumal sie nicht im Rahmen eines nationalen Versöhnungsplans operieren. Es ist unrealistisch, eine nachhaltige und langfristige Lösung für ein einzelnes Problem zu finden, wenn dies unabhängig von umfassenderen Bemühungen um die Wiederherstellung stabiler Verhältnisse in Libyen geschieht. Schließlich muss sich Europa im ureigenen Interesse in Libyen engagieren.

Vor diesem Hintergrund ist der „Berliner Prozess“ eine bedeutende Initiative der Bundesregierung, die internationale und regionale Akteure zur Beendigung des Konflikts auf der Berliner Libyen-Konferenz im Januar 2020 an einen Tisch zusammengeführt hat. Nordafrikanische Länder haben sich in den letzten Jahren zunehmend selbst zu einer Herkunftsregion von Migranten entwickelt. Bei den Ankünften in Italien und Spanien bildeten Tunesier, Marokkaner und Algerier zuletzt eine der Hauptgruppen. 2019 waren es bis Oktober 7.800 Marokkaner, 3.500 Tunesier und 5.200 Algerier. In absoluten Zahlen ist ihr Anteil zwar sehr niedrig, das Migrationspotenzial könnte allerdings steigen, vor allem aufgrund der ökonomisch zunehmend bedrückenden Lage und völliger Perspektivlosigkeit, mit der sich insbesondere die junge Generation konfrontiert sieht. Umfragen belegen die hohe Bereitschaft junger Menschen, ihr Land auf der Suche nach einer besseren Perspektive in Richtung Europa zu verlassen.

Schließlich sind die nordafrikanischen Länder im Laufe der letzten Jahre auch zur Zielregion für Migranten aus Ländern südlich der Sahara geworden. Verlässliche Angaben über ihre genaue Anzahl existieren nicht. Schätzungen zufolge halten sich in Tunesien etwa 60.000, in Algerien bis zu 100.000 und in Marokko etwa 70.000 Migranten aus Subsahara-Afrika auf. Für Libyen belaufen sich die Schätzungen auf 800.000 Migranten. Sie haben größtenteils keinen legalen Status, arbeiten für niedrigere Löhne in saisonalen Jobs und warten möglicherweise auf eine Gelegenheit, die gefährliche Reise nach Europa anzutreten. Die Flüchtlingsströme stellen die nordafrikanischen Länder vor soziale, wirtschaftliche, institutionelle und rechtliche Herausforderungen. Abgesehen von fehlendem Rechtsschutz sind Migranten vor allem in Libyen mit gravierenden Menschenrechtsverletzungen konfrontiert.

Heute stehen die Länder Nordafrikas vor ähnlichen Herausforderungen wie Europa: Der Druck auf ihre Land- und Seegrenzen wächst ebenso wie die innenpolitische Auseinandersetzung um Migration. Die EU hat in den letzten Jahren eine Vielzahl von Initiativen ergriffen, Programme initiiert und Migrationsabkommen abgeschlossen. Maßnahmenpakete, die im Brüsseler Alleingang geschnürt werden, sind bislang nicht nachhaltig. Vielmehr sollte die EU nach Kooperationsebenen suchen, die auch im primären Interesse der südlichen Nachbarn sind, gemeinsam Prioritäten definieren und abgestimmte Projekte entwickeln. Vor allem müssen Initiativen vermieden werden, die für die nordafrikanischen Länder nicht akzeptabel sind und daher auch keine realistische Aussicht auf eine Umsetzung haben. Ein Beispiel hierfür war der Vorstoß, Ausschiffungsplattformen in Nordafrika anzusiedeln, der großen diplomatischen Schaden anrichtete. Der Vorschlag wurde von allen nordafrikanischen Staaten abgelehnt und hat Misstrauen gegenüber Europa geschürt.

Die nordafrikanischen Länder sind insbesondere für eine enge Kooperation im Grenzschutz offen, da diese eine erhebliche Überschneidung mit ihrem Interesse an der effektiven Kontrolle ihrer südlichen Grenzen darstellt. Die meisten Länder Nordafrikas begrüßen den Transfer logistischer und technischer Güter zur Bekämpfung von Schmugglernetzwerken. Beide Seiten sollten jedoch darauf achten, dass sie sich nicht auf reine Sicherheitskonzepte einlassen. Ebenfalls sollte es nicht um eine Integration der südlichen Nachbarn in die EU-Grenzkontrollsysteme gehen, sondern darum, eine gemeinsame Agenda zu entwickeln, die die Eigenverantwortung der nordafrikanischen Länder sicherstellt.

Insbesondere könnte die EU die Unterstützung der Länder bei der Gestaltung ihrer Asylund Migrationspolitiken verstärken, um sie nicht mit wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lasten alleinzulassen. Der politische Wille dazu ist in einigen Ländern bereits vorhanden. Bisher hat lediglich Marokko eine „Nationale Migrationsund Asylstrategie“ initiiert, die die Einführung einer kohärenten und menschenrechtsbasierten Politik vorsieht. Durch eine Legalisierungskampagne erhielten bis 2017 24.000 Migranten Aufenthaltstitel. Ebenfalls hat Marokko Abkommen mit der Elfenbeinküste, Mali und dem Senegal unterzeichnet, um die Zusammenarbeit im Bereich Migration auszubauen. Tunesien hat zwar erste Schritte für eine Asylgesetzgebung eingeleitet und eine Migrationsstrategie angekündigt, kam bisher aber nicht darüber hinaus. Eine kontinuierliche Unterstützung durch Europa in diesen Bereichen ist vielversprechend.

Die Migrationsfrage bleibt auf beiden Seiten des Mittelmeers an oberer Stelle auf der Tagesordnung. Daher sollten sich diplomatische Initiativen darauf konzentrieren, Interessen und Prioritäten der jeweils anderen Seite zu berücksichtigen, wenn sie eine gemeinsame Agenda aufstellen und ihre Zusammenarbeit vertiefen wollen. Wenn sie das nicht tun, könnte die Migrationsfrage zu einer Vertrauenskrise und einer weiteren Instabilität an den Rändern Europas werden.

Anmerkung: Die Zahlen basieren auf den Angaben der International Organization for Migration (IOM) und des United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR).

 

Canan Atilgan, Regionalprogramm Politischer Dialog Südliches Mittelmeer der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Tunis

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