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Impulse für eine agile Innovationspolitik

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Deutschland kann auf eine beachtliche Entwicklung seines Innovationssystems in den vergangenen Jahren zurückblicken. Die öffentlichen und privaten Ausgaben für Forschung und Entwicklung konnten auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts gesteigert werden. Qualität und Attraktivität deutscher Forschungseinrichtungen wurden durch Exzellenzinitiative, Exzellenzstrategie, Hochschulpakt und Pakt für Forschung und Innovation gestärkt.

Zugleich sieht sich das Innovationsland Deutschland im Zuge des digitalen Wandels mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Wie viele andere Staaten hat auch Deutschland seit der Nachkriegszeit ein an den Bedürfnissen der Wissenschaft orientiertes Forschungssystem aufgebaut. So bedeutsam exzellente Forschung auch in Zukunft sein wird, so sehr muss zugleich mehr Wert auf die agile Umsetzung neuen Wissens in Wertschöpfungspotenziale gelegt werden, wenn Deutschland gegenüber neuen Wettbewerbern bestehen will.

Die deutsche Forschungs- und Innovationspolitik hat bereits zahlreiche Programme für den Transfer von Forschungsergebnissen in Anwendungen initiiert. Durchschlagende Erfolge blieben bisher jedoch aus. Unternehmensgründungen können ein Weg sein, Forschung wirtschaftlich nutzbar zu machen. Die Rahmenbedingungen dafür wurden teilweise verbessert. Den­ noch hinkt Deutschland anderen Ländern bei Gründungsneigung und Gründungswahrscheinlichkeit weiter hinterher. Auch bei etablierten Unternehmen besteht trotz gestiegener Forschungs- und Entwicklungsintensität Grund zur Sorge. Deutschland ist in Sachen Innovation von wenigen Kernbranchen abhängig. So entfällt mehr als ein Drittel der internen Forschungs- und Entwicklungsausgaben auf den Fahrzeugbau. Solche traditionellen Branchen werden immer häufiger von neuen Wettbewerbern aus der Internetwirtschaft herausgefordert. Gerade bei digitalen Technologien und Geschäftsmodellen zeigt die deutsche Wirtschaft jedoch erheblichen Aufholbedarf.

Auch die Politik muss die erforderliche Agilität unter Beweis stellen, die digitale Transformation zu meistern – sowohl aufseiten der staatlichen Verwaltung als auch durch eine konsequente Fortentwicklung der Forschungs- und Innovationspolitik.

 

Agentur für Sprunginnovationen

Das deutsche Innovationssystem ist hervorragend geeignet, Innovationen hervorzubringen, die evolutionär auf bestehende Technologien, Produkte und Dienstleistungen aufbauen. Völlig neue Angebote und Geschäftsmodelle bieten deutsche Innovatoren dagegen selten. Stattdessen sind es häufig US-amerikanische oder asiatische Wettbewerber, die radikal neue Ideen als sogenannte Sprunginnovationen auf den Markt bringen. Um die Erkenntnisse der in aller Regel gut aufgestellten deutschen Grundlagenforschung in Wertschöpfung, Arbeitsplätze und verbesserte Lebensqualität umzusetzen, haben vor gut zwei Jahren Vertreter des deutschen Innovationssystems eine Strategie zur Überwindung dieses Defizits vorgestellt. Vorgeschlagen wurde die Gründung einer neuen Agentur zur Förderung von Sprunginnovationen (SprinD). Über bisherige Forschungsförderstrukturen hinaus soll diese Agentur zusätzliche Anreize für die Realisierung neuer, richtungsweisender, wagemutiger Forschungs- und Entwicklungsprojekte setzen.

Im August 2018 hat das Bundeskabinett beschlossen, die Agentur für Sprunginnovationen einzurichten. Eine ihrer Aufgaben wird die Ausschreibung konkreter, ambitioniert angelegter Innovationswettbewerbe sein. Die Wettbewerbe sollen Pfadabhängigkeiten durchbrechen, neue Akteure an Innovationsprozessen beteiligen und das breite öffentliche Interesse für gesellschaftlich relevante Innovationen wecken. In einer Pilotinitiative hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung bereits drei solcher Wett­ bewerbe ausgeschrieben: Der Wettbewerb „Energieeffizientes KI-System“ prämiert das Künstliche Intelligenz(KI)­System, das bei einer vorgegebenen Aufgabe den geringsten Energieverbrauch aufweist. Die vielversprechendsten Schritte hin zu „Organersatz aus dem Labor“ werden in einer weiteren Ausschreibung honoriert, die den Mangel an lebensrettenden Spenderorganen adressiert. Schließlich zielt der Innovationswettbewerb „Weltspeicher“ auf die Entwicklung eines universell einsetzbaren Stromspeichers für den Hausgebrauch.

Neben der Durchführung solcher Wettbewerbe wird es Aufgabe der Agentur sein, bestehende Forschungs- und Entwicklungsarbeiten auf ihr Sprunginnovationspotenzial zu prüfen. Sogenannte Innovations-Entrepreneure bereiten als „Kopf“ einer eigenen SprinD-Tochtergesellschaft viel­ versprechende Ansätze für den Transfer in den Markt vor. Im Rahmen eines personenzentrierten Ansatzes treiben diese Innovations-Entrepreneure Sprunginnovationen mit größtmöglichen Freiräumen voran. Für den Erfolg der Agentur als Ganzes ist ein für öffentliche Einrichtungen außerordentlich hohes Maß an Unabhängigkeit von politischer Steuerung entscheidend.

 

Der Staat als Innovationsmotor

Die Agentur für Sprunginnovationen ist ein für Deutschland neues und weit­ hin sichtbares Instrument der Innovationspolitik. Doch auch in ihren alltäglichen Prozessen könnte die staatliche Verwaltung Innovation weitaus besser stimulieren, etwa durch ein konsequent umgesetztes E-Government und eine innovationsorientierte öffentliche Beschaffung.

Regierungs- und Verwaltungsleistungen vollständig elektronisch durchzuführen, bietet eine Reihe von Vorzügen. E-Government ermöglicht rund um die Uhr die ortsungebundene Bereitstellung von Behördendienstleistungen in konstanter Qualität. Besonders bei Angelegenheiten, die mehrere administrative Leistungen in unterschiedlichen Behörden verlangen und bei konsequenter Digitalisierung zentral online abgewickelt werden können, bedeutet E-Government erhebliche Zeit­ und Kostenersparnisse für Bürger und Unternehmen. Mehr Transparenz durch die Nachvollziehbarkeit des Bearbeitungsstands von Verwaltungsangelegenheiten und die Dokumentation der Verwendung von Bürgerdaten kann das Vertrauen in öffentliche Stellen stärken. Die Partizipation von Bürgern an politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen lässt sich durch Online-Verfahren ausweiten.

Im Rahmen von E-Government werden große, digital nutzbare Daten­ mengen generiert. Nach Anonymisierung oder Pseudonymisierung können diese als Open Data der wissenschaftlichen Forschung zur Verfügung gestellt werden. Unternehmen können Open Data für die Entwicklung neuer Dienstleistungen und innovativer Geschäftsmodelle verwenden. Obwohl ein konsequent umgesetztes E-Government ein bedeutendes Wertschöpfungspotenzial eröffnet und die Attraktivität eines Landes für Unternehmen erhöht, werden die Vorteile den Bürgerinnen und Bürgern Deutschlands bisher weit­ gehend vorenthalten. Besonders der Mangel an digitaler Durchgängigkeit und die wenig nutzerfreundliche Gestaltung stellen Hürden für die Nutzung dar. Hier hat der Staat versagt.

Die öffentliche Beschaffung im Bereich E-Government kann als Innovationstreiber für die IT­ und Internetwirtschaft in Deutschland genutzt werden. Auch bei der Entwicklung anderer innovationsorientierter Märkte können staatliche Akteure durch eine auf innovative Produkte und Dienstleistungen ausgerichtete Beschaffung Marktversagen korrigieren und eine strategische Forschungs- und Innovationspolitik verfolgen.

Im Vergleich zu anderen Ländern verlässt sich die öffentliche Beschaffung in Deutschland jedoch zu oft auf wenig innovative, etablierte Angebote. Chancen für die Entwicklung innovativer Produkte und Dienstleistungen lassen staatliche Akteure hierzulande meist ungenutzt. Dabei wären die Möglichkeiten angesichts des enormen öffentlichen Beschaffungsvolumens beträchtlich. Über erste Schritte – wie das Gesetz zur Modernisierung des Vergaberechts und das Kompetenzzentrum innovative Beschaffung (KOINNO) – hinaus sollten deshalb Rechtsrahmen und Verwaltungspraxis in Richtung einer Beschaffung mit Priorität für das innovativere Angebot weiterentwickelt werden.

 

Agile Innovationspolitik

Immer schnellere Innovationszyklen und höhere Unsicherheit der Innovationsergebnisse erfordern dringend eine neue Herangehensweise in der Innovationspolitik. Experimentieren und Iterieren erlauben die Erprobung unterschiedlicher Regulierungsansätze und damit vorausschauende beziehungsweise begleitende Regulierung innovativer Technologien und Geschäftsmodelle. Zusammenfassen lassen sich solche Ansätze unter dem Begriff der agilen Innovationspolitik.

In Finnland ist es bereits heute ein wesentlicher Bestandteil der Innovationsstrategie, Politikmaßnahmen schnell experimentell zu testen. 2016 brachten die finnische Regierung, der Thinktank Demos Helsinki und die Aalto­-Universität gemeinsam das Projekt Kokeileva Suomi, „experimentelles Finnland“, auf den Weg. Das Programm soll ermöglichen, politische Maßnahmen in begrenztem Umfang zu implementieren und zu evaluieren. Im Erfolgsfall können die getesteten Instrumente im großen Maßstab eingeführt werden. Kokeileva Suomi soll eine Kultur des Experimentierens auf unterschiedlichen Ebenen befördern – innerhalb von Ministerien genauso wie in allen Teilen der Gesellschaft. Deshalb werden sowohl Experimente unterstützt, die Schlüsselthemen des Regierungsprogramms betreffen, als auch solche, die ihren Ursprung unabhängig von der staatlichen Innovationspolitik in der Zivilgesellschaft haben. Einen ersten Schwerpunkt des Programms bilden Themen rund um Digitalisierung und Künstliche Intelligenz. Vor allem die Bewältigung des digitalen Wandels durch Kulturwandel und eine Verbesserung der Digitalkompetenzen der Bevölkerung stehen im Mittelpunkt des Interesses.

In Europa existiert mittlerweile eine Reihe von Einrichtungen und Programmen, die Agilität und Experimentieren als Methoden zur Lösung gesellschaftlicher und technologischer Herausforderungen anbieten, etwa in Dänemark das Dansk Design Center und die Disruption Taskforce, in Schweden Testbed Sweden oder Reallabore für Blockchain-Anwendungen in der Schweiz.

 

Hoffnungschimmer in Deutschland

Deutschland betreibt bisher nur in Einzelfällen agile Innovationspolitik. Da­ bei liegt es nicht an mangelnder Kreativität der in den Ministerien Beschäftigten. Aber die oft siloähnlichen Strukturen und innovationsfeindlichen Prozesse der Ministerien lassen die Umsetzung von Initiativen und Ideen in agile Politik oft nicht zu. Es gibt jedoch immer wieder ermutigende Positivbeispiele. So wurde unter der Schirmherrschaft von Kanzleramtschef Helge Braun und in Kooperation mit dem Informationstechnikzentrum Bund das Digitalisierungs-Fellowship Tech4Germany ins Leben gerufen. Dabei erhalten Ingenieure und Designer aus dem Softwarebereich als Stipendiaten die Gelegenheit, in einem Zeitraum von zehn Wochen digitale Services für den Bund zu entwickeln. Für die staatliche Verwaltung bietet die Initiative die Möglichkeit, Digitalisierungsvorhaben agil voranzutreiben. Die bisher gängige Praxis, Softwareanforderungen für E-Government-Dienste ohne Einbindung von Nutzern zu definieren, in langen Lastenheften niederzuschreiben und dann möglicherweise jahrelang an Nutzern vorbei zu entwickeln, wird hierbei verworfen. Stattdessen wird die Akzeptanz eines Minimum Viable Product (wörtlich: das kleinste brauchbare Produkt. Diese Entwicklungsstufe des Produkts bietet zunächst nur die Mindestfunktionen, die unbedingt notwendig sind, damit Kunden den grundsätzlichen Produktnutzen bewerten können.) getestet, und mit jeder neuen Entwicklungsiteration werden Nutzerrückmeldungen eingeholt. So konnten bereits erste nutzerzentrierte Lösungen für E-Government-Angebote aufgezeigt werden.

Das Bundeswirtschaftsministerium will agiles Experimentieren in der deutschen Politik breiter verankern. Im Dezember 2018 hat es die Strategie „Reallabore als Testräume für Innovation und Regulierung“ auf den Weg gebracht. Regulierung soll perspektivisch so fortentwickelt werden, dass sie flexibler auf schnellen Wandel durch die Digitalisierung reagieren kann. Hierfür sollen Experimentierklauseln in das Recht aufgenommen werden. Außerdem sollen Reallabore für die Erprobung neuer Produkte und Geschäftsmodelle geschaffen werden. Ein „Netzwerk Reallabore“, ein Handbuch für Reallabore sowie Pilotprojekte und Wettbewerbe sollen die Entwicklung unterstützen. Den Ankündigungen muss jetzt eine konsequente Umsetzung folgen.

Bislang existieren flächendeckende, nationale Ansätze für eine agile Innovationspolitik in nur wenigen Ländern. Doch die Agilität der Politik wird sich mehr und mehr zu einem zentralen Standortfaktor entwickeln. Instrumente agiler Innovationspolitik müssen auf eine gesicherte methodische Basis gestellt und auch in Deutschland umfassend eingesetzt werden. Wo der Staat selbst zum Vorbild und Innovationsmotor werden kann – durch ein leistungsfähiges, anwenderfreundliches E-Government, die Bereitstellung von Open Data, die Beschaffung möglichst innovativer Lösungen oder das Vorantreiben von Sprunginnovationen –, sollte er Chancen nutzen und beherzt vorangehen. Silostrukturen in den Regelbetrieben der Ministerien und Organisationskulturen, die auf Restauration geeicht sind, sollten dagegen endlich weichen. Mehr Revolution! Gern auch mal von oben.

 

Dietmar Harhoff, geboren 1958 in Ahlen, 2007 bis 2019 Vorsitzender der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) der deutschen Bundesregierung, Vorsitzender der Gründungskommission für die Agentur für Sprunginnovationen, Direktor am Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb.

Alexander Suyer, geboren 1982 in München, Senior Research Fellow am Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb.

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