Die erste Sprache, die wir alle gemeinsam haben, ist die Sprache der Stille. Umschirmt vom Bassin der Mutterbauchklänge, im Schutz des Wassers, seiner magnetischen, alles abspeichernden Kraft, tönt die Welt sich uns zu und wird Schicht um Schicht Teil unserer Ohren. Zweisprachig im Mutterbauch aufwachsend, muss mein Ohr sich von Beginn an mehrspurig fleißig die unterschiedlichen Tonalitäten und Rhythmen, Härte- und Weichegrade jener Sprachen und Dialekte einverleibt haben, die meine Mutter umgaben (und die sie in sich trug), als sie im Alter von zwanzig Jahren im hessischen Main-Taunus-Kreis langsam anfing, das Deutsche zu erlernen. Hat sie es geliebt? In jedem Fall hat es ihr geholfen, da alles neu um sie herum war, im doppelten Sinne an ein neues Leben zu glauben. Ein Teil dieses neusprachigen Daseins war schon bald „ich“, ein kommendes Ich, besser gesagt, noch umgeformt, aber Tag um Tag mehr dem Geborensein geöffnet, mehr und mehr ein Teil ihres Körpers, Teil ihrer neuen Lebenswörter, die ich mit meinen wachsenden Lebensohren zeitgleich mit ihr erlernte. Eine Mutter kennt in der Regel schon die Sprache, in die sie ihr Kind zur Welt bringt. Dass es bei uns anders war, meine Mutter und ich zeitgleich Lernende waren, zeigen die Verläufe unserer Biografien deutlich, sie zeigen auch, dass wir jeweils etwas anderes daraus gemacht haben. Über zwei Jahrzehnte hinweg habe ich reflexartig das Deutsche als meine zweite Sprache bezeichnet. Aber dass ich es in einer meiner ersten Erzählungen als „Bassin voller wundersamer Töne“ beschrieben hatte, vergaß ich nie.
Deutsch vom Wasser her denken
Meine Literatur- und neue Lebenssprache hatte ich stets als Klangraum empfunden, aber nie den Gedanken zu Ende gedacht, dass meine erste Beziehung zum Deutschen bereits im Mutterbauch entstanden war und ich das Deutsche vom Wasser her dachte: Wie viel näher konnte also eine Sprache bei der Mutter sein als bei mir? Ich war schon im Deutschen eingeklungen lange vor meinem ersten, laut und bewusst ausgesprochenen deutschen oder irgendeinem anderen Wort. Und als ich mein erstes deutsches Wort schließlich mit der Stimme laut aussprach, da war ich zehn Jahre alt. Meine Mutter war weiterhin in Deutschland geblieben, ich aber wuchs in Dalmatien und in der Herzegowina auf, wusste den einen Dialekt bald vom anderen zu unterscheiden und wunderte mich schon im Alter von fünf Jahren über den Spott meiner dalmatinischen Verwandten, wenn ich ein herzegowinisches (und damit, in ihren Ohren, ein unzivilisiertes) Wort aussprach. Ich verstand, dass ihre Abwehr etwas mit den Osmanen zu tun haben musste, aber meine Mutter kam aus der Herzegowina, deshalb kämpfte ich beharrlich für jedes Wort, begriff aber bald, dass die katholischen Dalmatier lieber bei ihrem eigenen Dialekt bleiben und nichts mit türkisch beeinflussten Worten zu tun haben wollten. Damals wusste ich nicht, dass sie selbst durchaus türkischstämmige Wörter benutzten und ahnungslos waren, auf welche Weise sie – und wir alle – von der äußeren Welt, von der Geschichte und ihrem wirksamen Erbe, beschriftet werden. Immer wieder erlebte ich einen für Aufruhr sorgenden Worttransfer am eigenen Leib und hatte viele Fragen, in die ich auch heute noch hineinwachse und die mir zeigen, wie viel wichtiger das lebenslange Lernen ist als irgendeine alles abschließende Antwort. Das erfuhr ich auch nach meiner Übersiedlung von Dalmatien nach Hessen noch einmal in aller Deutlichkeit, denn zu allem Neuen, das damals in mein Leben kam, zählte auch der hessische Dialekt, den ich, parallel zur Hochsprache, mühelos lernte, weil wir bei einem bodenständigen Bauern zur Miete wohnten, der zu keinem hochdeutschen Wort in der Lage war. Es kommt mir so vor, als sei dabei die alte Erfahrung aus dem Mutterbauch ganz automatisch in mir aktiviert worden. Ich wusste, ohne zu wissen, dass Hochdeutsch und Hessisch zwei unterschiedliche Klangwellen hatten, andere Frequenzen waren. Ich lernte also sehr schnell Hochdeutsch, der hessische Bauer ist aber gestorben, ohne es jemals auch nur versucht zu haben.
Von Dalmatien nach Hessen
Das Deutsche war meinem ganzen inneren Gefühl nach nie eine wirklich fremde und auch keine ansatzweise harte Sprache, im Gegenteil, ich erkannte in ihr alles Vertraute, alles Weiche, das vom Schutz des Wassers rührte. Bereits vor meinem Umzug, wenn meine Mutter nach Dalmatien oder in die Herzegowina zu Besuch kam, muss mir die deutsche Sprache wie eine sanfte Verlängerung meiner (wie ich heute weiß) ersten tonalen Erfahrungen erschienen sein, ein Klangkörper, der sich ganz auf die Melodie, auf die Wirkung des Gesprochenen bezog. Meine Mutter hingegen kämpfte noch viele Jahre mit den Bedeutungen, mit einzelnen deutschen Wörtern und ihrem speziellen Sinn. Die neuen Wörter dienten in ihrem Leben einem bestimmten Zweck: Sie musste sie gut und richtig gebrauchen, um in ihrem Arbeitsalltag zurechtzukommen. Für mich aber war selbst das alltäglichste Wort Musik. Und wenn sie es aussprach, dann war es Musik aus ihrem Mund und zeitgleich eine direkte, feste, vielleicht sogar die einzige Verbindung zu ihr, zu ihren Händen, zu ihren Fingerkuppen, die von der vielen Arbeit aufgeraut, aufgeplatzt waren und manchmal auch bluteten. So lernten wir, Mutter und Tochter, aus ganz unterschiedlichen Gründen, in der deutschen Sprache zu leben. Meine Mutter wurde nie richtig heimisch im Deutschen, aber es verhalf ihr dennoch zu einem neuen Selbstbewusstsein, und sie liebt es bis heute auf ihre eigene Weise, weil es ihr einen Freiheitsraum eröffnete, den sie vorher nicht kannte. Und als ich neun Jahre alt war, zog ich in ihre Freiheit wieder ein, zog zu ihren Fingerkuppen, zu ihren blutenden Händen, die stets mit der Muttergottes im Gebet verbunden waren, ihre betenden Hände sprachen zum Himmel, wenn sie Kummer hatte, eine neue Arbeit suchte und sie sich ohne göttlichen Schutz verloren und einsam fühlte.
Die Ohren schlafen nicht
Vielleicht hatte sie auch immer gebetet, als ich in ihrem Bauch zum Sprachwesen wurde, die Singsangstimme ihrer Gebete jedenfalls weckt in mir immer eine große Sehnsucht, die nur am Meer, in der Meeresstille geheilt werden kann. Ich kenne den Süden (der rauer ist, als man im Norden gemeinhin denkt), ich kenne den Norden (der warmherziger ist, als man gemeinhin im Süden denkt). Ich liebe die Schönheit aller Meere. Das Ohr, die Ohren schlafen nicht, sie haben wach diese Erde betreten und bringen mir bei, wie man wach bleibt in der Sprache, wie man sie durchdringt. Es gibt nichts Schädlicheres als einen „äußeren“ Willen in der Sprache, deshalb soll man sie nie verordnen, sondern der Sehnsucht überantworten, der Liebe und ihrer Wirkkraft übergeben, sie freiwillig zu lernen. Doch bis zu einem bestimmten Punkt muss man den
„äußeren“ Bereich der Sprache dennoch aktivieren, um dann auch dieses letzte Ruder fortzuwerfen, damit die Sprache selbst zur Handelnden wird. Wasser zu sein, das ist das Schwerste für uns Menschen, dabei waren wir alle an unserem Anfang genau das: Wasser, ein Tropfen in ihm, ein Kern des Kerns, der sich im großen Wasser einerseits auflösen, andererseits gerade dadurch verankern musste, um dann ein Körper zu werden, der ab diesem Augenblick für immer ein Mittler zwischen den verschiedenen Wassern unseres Lebens ist.
Selbstvergessen im deutschen Klangraum
Dieses fast mystische Sprachbewusstsein lässt mich an Meister Eckhart denken, der einmal Gott darum bittet, ihn von Gott freizumachen. Auch ich bitte. Ich bitte die Sprache, mich von ihr und ihren Wörtern freizumachen, damit ein anderer Klangraum, ein anderes, inneres Ereignis sichtbar, hörbar werden kann – etwas, das ich noch nicht kenne, etwas, das ich noch werden kann. Nur im Deutschen ist mir diese Art von Selbstvergessenheit möglich. Sie zeigt mir meine Verletzlichkeit als Mensch, die wir nur erleben können, wenn wir uns aussetzen. Ich habe das große Glück, dies freiwillig tun zu dürfen. Viele Menschen werden durch Krieg, Gewalt und Hunger dazu gezwungen, sich auf den Weg zu machen. Sie schlagen mutig die Seiten ihres Lebensbuches um, kommen in einer neuen Sprache an und werden durch Not Leser ihrer selbst. Dazu brauchen sie einen freundlichen anderen. Wir alle brauchen diesen anderen Menschen, der uns Vertrauen schenkt, der die Vision eines besseren Lebens wieder möglich macht. Die weißrussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch hat in diesem Zusammenhang unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel eine große, weise Frau und eine echte Epochenfigur genannt. Weisheit und Erfahrung sagen uns, dass wir das uns vom Leben Zugewiesene manchmal besser in einer zweiten, uns ermächtigenden Sprache leben können und vielleicht sogar auch aufrichtiger, viel ehrlicher als in einer, die uns die erste ist und die unsere Freiheit begrenzt. Aber Freiheit heißt auch Freiheit von einem alten Kollektiv, Freiheit in einem neuen Denken, in einer neuen mentalen und seelischen Struktur. Für mich gibt es dafür keine schönere Sprache als die deutsche. Sie ist ein Ort im Geist und in der Zeit. Wir leben nicht nur zu einer bestimmten Zeit, sondern auch in ihr. Und es gibt Momente in der Geschichte der Menschheit, in denen wir sehen können, wie sich unsere Teilhabe in der Zeit gestaltet.
Ankerplatz für meinen Geist
Wenn wir selbst fähig sind, die Freiheit größer zu denken als die Angst, sind wir reich beschenkt. Nicht nur handeln wir mit großer symbolischer Kraft, sondern helfen auch konkreten einzelnen, wieder Hoffnung schöpfenden Menschen. Eine bessere Friedensarbeit kann es gar nicht geben. An einem fremden Ort zu leben und neu beginnen zu dürfen, bereichert unser aller Freiheit. Es gibt keine einzige individuell gelebte Freiheit, die unabhängig von der Freiheit und der Sprache eines anderen wäre. Alles ist miteinander verbunden. Wer sich bewegen kann, der kann sich anders denken. Das Bewusstsein ist ein gemeinsamer Ort. Erste und zweite Sprachen sind innere Länder, Landschaften unserer Seele und geistige Eroberungen in einem freien Europa, in dem mehrspurige Identitäten seit Langem zur Normalität gehören. Diese größere Idee des Menschlichen konnte im barbarischen 20. Jahrhundert weder der Faschismus noch der Nationalsozialismus auslöschen. Umso mehr sind wir in die Pflicht genommen, mit und in der deutschen Sprache so zu leben, dass sie der Freiheit und dem Leben aller zuarbeitet.
Für mich ist das Deutsche die Sprache meiner eigenen größeren Denkfreiheit, ein kostbarer Ort, an dem mein Geist seinen Ankerplatz ausgeworfen hat. Und nicht zuletzt ist mir das Deutsche eine Bleibe, ich lebe in der Sprache, darf in ihr sein – in aller metaphysischen Unbehaftetheit. Denn ich habe keine andere Sprache. Sie ist mein Leben. Ich hoffe, dass ich diesen Sprach Ort, in diesem Land meiner Freiheit, weiterhin beschützen kann. Auch hoffe ich, dass diesen Ort niemand abtöten kann, vor allem jene nicht, die den Hass in die Sprache tragen und die sie so in Besitz nehmen wollen. Der Langsamkeit verpflichtete Spracharbeiter machen seit jeher etwas anderes als die Hassenden: Sie halten die Sprache nicht fest, sie sagen ihr nicht, was sie tun soll, sondern sehen ihr zu, sehen in sie hinein und lernen von ihr, indem sie ihr Bewusstsein durchschreiten. Das Ideal des Menschen, seine Befähigung, in der Sprache das Imaginäre zu betreten und so das ihn Überschreitende zu ahnen, kann, wir wissen es alle, fehlgeleitet und missbraucht werden. Diese Gefahr ist genauso real wie das Schöne echt ist. Deshalb kommt es heute mehr denn je darauf an, dass wir uns diese Gefahr vor Augen führen, dass wir uns an der geistigen Arbeit beteiligen und empathisch das Gleichgewicht der Welt erhalten.
Der erste deutsche Satz: „Ich vermisse dich“
Wir schützen uns am besten vor einer unmenschlich oberflächlichen Welt, indem wir in uns und in unserer Sprache der Menschlichkeit das Wort geben. Denn vielleicht gibt es für uns alle überhaupt keine andere als jene „portable Heimat“, die Heinrich Heine in seinem französischen Exil erlebt und beschrieben hat. Wir alle sind Reisende in unserem Leben. Wirklich wissen können wir das aber nur, wenn wir unsere ethischen Koordinaten mit unserem Mitgefühl verbinden. In meiner Berliner Nachbarschaft hatte ich in den letzten Wochen und Monaten Gelegenheit dazu. Mir sind einige Flüchtlinge aus Syrien begegnet, die sich in der Sprache und im Leben als Suchende erfahren. Es ist anrührend, mit welcher Hingabe sie deutsche Sätze lernen, wie sie sich in sie verlieben, wie sie in jedem neuen Wort eine freundliche Heimat suchen. Eine junge Mutter aus Aleppo hat mich kürzlich mit ihrem ersten deutschen Satz überrascht: „Ich vermisse dich“, sagte sie einmal gleich zur Begrüßung, und ich sah ihre Tochter an, die neun Jahre alt ist, so alt, wie ich damals war, als ich 1983 in einem kalten deutschen Januar meine ersten Sätze in der neuen Sprache übte. Die Freude des Mädchens, sein Lächeln, seine Offenheit erzählten mir in zwei, drei Sekunden mein ganzes bisheriges Leben. Das Kind wird schneller die neue Sprache lernen als seine Eltern. Es wird ihnen die neue Welt in dieser neuen Sprache erklären. Sie sind ihm schon jetzt dankbar. Es weiß nun mehr als sie. Was für eine wunderbare Situation! Endlich sind Erwachsene bereit, von ihren Kindern zu lernen. In der Neunjährigen wird zeitgleich ihre erste Sprache weiterleben, ihre erste Heimat, ihre Herkunft, die Landschaften und Menschen ihres dortigen Lebens. Vielleicht wird das Kind sich später in jemanden aus Köln verlieben und den dortigen Dialekt erlernen, vielleicht wird sie Ärztin oder Malerin werden, vielleicht Sängerin oder Schreinerin, vielleicht Französischlehrerin (denn diese Sprache hat sie schon in Aleppo zu lernen begonnen). Wir wissen es nicht. Noch können wir es nicht wissen. Aber wenn jemand versuchen sollte, diesen kleinen Menschen davon zu überzeugen, dass seine neue Heimat schlecht ist oder gar bevölkert von unfreundlichen Menschen, wird es seine Erfahrung sprechen lassen, das Mädchen wird sagen, aber wir kennen hier schon Menschen, die wir vermissen. Das Gute und das Böse entstehen nicht im luftleeren Raum, sie sind präzise menschliche Erfahrungen. Der Dichter W. H. Auden hat das in einem Gedicht auf den Punkt gebracht: I and the public know / What all schoolchildren learn, / Those to whom evil is done / Do evil in return.
Die Sprache spiegelt
Wir alle können anderen Menschen helfen, an das Leben zu glauben. Wenn wir unsere Verbindung in einem größeren Bild verorten, wenn wir in unserer Vorstellung die Zeit überspringen, so wie ein Kind eine Wasserpfütze überspringt, dann werden wir in hundert, zweihundert, dreihundert Jahren nicht danach fragen, ob Sprache und Nation zueinander gehören, sondern ob wir mit der Sprache unseres Seins ein Haus gebaut haben, in dem jene, die uns nachfolgen, miteinander im Frieden leben können. Die einzige Sprache, in der ich denken, leben, dichten und in diesem Sinne bauen kann, ist die deutsche Sprache. Wer kann sie mir jemals wegnehmen? Sie ist (im doppelten Sinne) meine tragbare Heimat. Eine Sprache, die deutsche Sprache, um Hannah Arendt zu paraphrasieren, wird nicht und kann nicht verrückt werden. Nur Menschen werden verrückt. Warum? Die Sprache spiegelt ihr Inneres.
Marica Bodrožić, geboren 1973 in Dalmatien, Schriftstellerin, lebt in Berlin. Sie wurde 2015 mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet.