Vor wenigen Wochen hat der Deutsche Bundestag entschieden, im Rahmen des Bundeswehreinsatzes gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ bis zu 1.200 deutsche Soldaten zu entsenden. Mit seiner Beteiligung an dieser gefährlichen Mission im internationalen Kampf gegen den Terrorismus bringt unser Land einmal mehr zum Ausdruck, wofür es steht – und wofür es bereit ist, auch militärisch einzustehen. Die Parlamentsentscheidung zur Beteiligung am Syrien Einsatz fiel, kurz nachdem vor dem Reichstagsgebäude der 60. Geburtstag der Bundeswehr gefeiert wurde. Grund genug, um die Rolle von Armee und Parlament im Kontext der Frage nach dem deutschen Selbstverständnis und vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Krisen in Europa und in der Welt zu betrachten.
Unter all den herausragenden Jubiläen des vergangenen Jahres – vom Ende des Zweiten Weltkriegs vor siebzig Jahren bis zum 25. Jahrestag der Deutschen Einheit – blieb weitgehend unbeachtet, dass vor 25 Jahren die Charta von Paris feierlich unterzeichnet wurde. Darin hatten sich 1990 alle 34 Mitgliedstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) verpflichtet, unter ihnen auch die wenig später aufgelöste Sowjetunion, „die Demokratie als einzige Regierungsform unserer Nationen aufzubauen, zu festigen und zu stärken“ sowie Streitfälle friedlich beizulegen.
„Wenn es irgendein Datum gibt, das für das definitive Ende der zweiten Nachweltkriegszeit des 20. Jahrhunderts steht“, sagt der Historiker und diesjährige Leipziger Buchpreisträger zur Europäischen Verständigung Heinrich August Winkler, „dann ist es der Tag der Unterzeichnung der Charta von Paris, der 21. November 1990.“ Damals machte, ausgelöst durch die friedlichen Revolutionen in ganz Mittel- und Osteuropa, die These vom „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) Furore. Die in den „Weltgeist“ gesetzten Hoffnungen erwiesen sich jedoch als voreilig und allzu treuherzig. Heute wissen wir besser, dass das postulierte „Zeitalter der Vernunft“ weltweit von neuen Herrschaftsansprüchen bedroht wird. Und auch in Europa haben wir erfahren müssen, dass die für universell erklärten Ideen und Werte der westlichen Demokratie keineswegs unangefochten sind. Nicht nur Heinrich August Winkler sieht Europa deshalb, insbesondere mit Blick auf das Vorgehen Russlands gegen die Ukraine, vor einer tiefen Zäsur – und mit ihr die Gültigkeit der Prinzipien der Charta von Paris radikal infrage gestellt.
Historischer Ausnahmezustand: Frieden
Man kann einer Generation, die in ihrem Leben bislang nur diese europäische Friedensordnung kennengelernt hat, nicht vorwerfen, wenn sie dem naheliegenden Irrtum unterliegt, diese für den Normalzustand der europäischen Geschichte zu halten. Sie ist es nicht. Wir haben vielmehr nach 1990 lange in einem Ausnahmezustand gelebt. Nach zahlreichen Krisen innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft assoziieren viele mit dem Begriff Europa inzwischen nicht mehr Stabilität und Zukunft, sondern nur noch Krise; die Europäische Union scheint ihnen als eine Gemeinschaft im Dauerkrisenmanagement. Das ist keine völlig falsche Wahrnehmung, aber sie reflektiert nicht hinreichend, dass diese Europäische Gemeinschaft historisch von Beginn an nichts anderes war als das Produkt einer tiefen Krisenerfahrung, der größten, in die Europa und seine Staaten je geraten waren.
Die zwei Weltkriege, die mit maßgeblicher deutscher Beteiligung den Kontinent, und nicht nur diesen, verwüstet und beschädigt hatten, bildeten auch den Erfahrungshintergrund, vor dem vor sechzig Jahren die Bundeswehr gegründet wurde. Am 12. November 1955 erhielten die ersten 101 Freiwilligen ihre Ernennungsurkunden als Soldaten. Die Zeremonie in einer Fahrzeughalle der Ermekeilkaserne in Bonn war denkbar bescheiden, der Leitgedanke des ersten Verteidigungsministers Theodor Blank an die Adresse der entstehenden Streitkräfte hingegen besonders anspruchsvoll – sie sollten nichts weniger, als „aus den Trümmern des Alten wirklich etwas Neues wachsen lassen, das unserer veränderten sozialen, politischen und geistigen Situation gerecht wird“. Gänzlich andere Prinzipien als die der Wehrmacht – Freiheit des Denkens, eigenständiges und unabhängiges Urteil, Förderung des Gemeinsinns – sollten für die neuen Streitkräfte gelten, für den „Staatsbürger in Uniform“, der nach dem Leitbild der „Inneren Führung“ seinen Dienst leistet. Das sind die Grundsätze, für die das Militär in Deutschland bis heute steht. Der Bundeswehrgründung ging eine politisch und gesellschaftlich äußerst emotional geführte Kontroverse um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland voraus. Wer die damaligen Auseinandersetzungen im deutschen Parlament nachschlägt, kann sowohl den Ernst als auch die Leidenschaft dieser Auseinandersetzungen nachvollziehen. Kontrovers diskutiert wurde die Wiederbewaffnung nicht nur im Inland, sondern aus guten Gründen auch in den europäischen Nachbarstaaten. Schließlich fand die europäische Integration ihren Anfang in dem frühen und allzu ehrgeizigen Versuch, eine europäische Verteidigungsgemeinschaft zu gründen – als unmittelbare Reaktion auf Forderungen der USA und Großbritanniens nach einem eigenen Verteidigungsbeitrag der jungen Bundesrepublik. Dieser erste Anlauf zur Vergemeinschaftung des klassischen Souveränitätsrechtes eines Staates, nämlich der Sicherheit, war nicht nur bis zur Vertragsreife gediehen, sondern von sechs Regierungen unterschrieben und im Deutschen Bundestag bereits ratifiziert worden, als er schließlich 1954 in der Assemblée Nationale scheiterte – aus sehr plausiblen Gründen. Denn der Kern dieses Vertrages war die Aufgabe von Souveränität an einer besonders empfindlichen Stelle. Die Geschichte ist darüber längst hinweggegangen, Sicherheitspolitik gehört zwar weiter zu den besonders sensiblen Politikfeldern, Europa hat sich aber grundlegend gewandelt – und damit zugleich die Aufgaben wie die Herausforderungen, von denen die Streitkräfte unmittelbar betroffen sind.
Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee, und das nicht erst seit dem Out of area-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1994. Aber in dieser höchstrichterlichen Grundsatzentscheidung findet sich zum ersten Mal in einem relevanten Rechtsdokument dieser Begriff, der die besondere Verbindung des Bundestages zur Armee und die besondere Abhängigkeit der Armee von parlamentarischen Entscheidungen manifestiert. Ob das dem Grundgesetz zu entnehmen ist oder das Bundesverfassungsgericht es dem Grundgesetz entnommen hat, darüber gibt es unter den Verfassungsjuristen unterschiedliche Einschätzungen. Der langjährige Bundestagsabgeordnete und Rechtspolitiker Dieter Wiefelspütz hat das so kommentiert: „Die Erfindung des konstitutiven Parlamentsvorbehalts ist ein verfassungspolitischer Geniestreich.“ In Deutschland entscheidet der Bundestag darüber, ob überhaupt und wenn ja wie viele Soldaten an welchem Platz der Welt welchen Auftrag wahrzunehmen haben. Keine einzige dieser Fragen kann in Deutschland von der Regierung abschließend beantwortet werden. Umgekehrt kann das Parlament ohne Antrag der Bundesregierung auch keinen Militäreinsatz veranlassen. Es ist gewiss nicht nur ein formaler Unterschied, ob Beschlüsse, die buchstäblich über Leben und Tod entscheiden können, allein von einer Regierung getroffen werden oder die breite demokratische Legitimation eines Parlaments und damit der Vertretung des Volkes haben, in der alle relevanten politischen Gruppierungen mit ihren jeweiligen Lebenserfahrungen und Einschätzungen zu Wort kommen.
Der Stellenwert der Streitkräfte und der Sicherheitspolitik im Deutschen Bundestag lässt sich daran erkennen, dass der Verteidigungsausschuss zu den wenigen Ausschüssen mit Verfassungsrang gehört. Auch das Amt des Wehrbeauftragten zeigt, wie wichtig das Thema für die Legislative ist. Die Bundeswehr war allein seit 1990, also in den letzten 25 Jahren, Gegenstand von mehr als 400 parlamentarischen Anträgen, 110 Gesetzesvorlagen und nicht weniger als 39 Regierungserklärungen. Während in Staaten Mittel- und Osteuropas zuletzt Rechte von Parlamenten bei Einsatzentscheidungen eher geschwächt wurden, haben Frankreich und Spanien neuerdings ebenfalls Regelungen zu einem Parlamentsvorbehalt eingeführt. Trotzdem bleibt der Parlamentsvorbehalt unter den weltweiten Demokratien nicht der Regelfall, sondern ist noch immer die Ausnahme. Mit Blick auf die verfassungsrechtlichen und tatsächlichen Einflussmöglichkeiten des Parlaments in Bezug auf Militäreinsätze gibt es kein Land, das die deutsche Regelung überbieten würde.
Die Aufgaben und Strukturen unserer Armee haben sich seit ihrer Gründung tief greifend verändert. Wie nur wenige andere Institutionen stand sie vor der beinahe permanenten Aufgabe, ihren Auftrag den politischen Rahmenbedingungen anzupassen und immer wieder weiterzuentwickeln, eben „aus den Trümmern des Alten Neues wachsen zu lassen“. Den wohl größten Einschnitt stellte in diesem Zusammenhang die Wiedervereinigung vor 25 Jahren dar, nach der die Bundeswehr in einem außergewöhnlichen Kraftakt zur „Armee der Einheit“ wuchs.
Deutsche Truppenkontingente im Auslandseinsatz
Derzeit befinden sich die Streitkräfte nach der Aussetzung der Wehrpflicht inmitten der größten Reform seit ihrer Gründung, um zukunftsfähig zu bleiben. Gerade die Auslandseinsätze haben nicht nur neue Aufgaben für unsere Soldatinnen und Soldaten mit sich gebracht, sondern stellen auch die Bundeswehr insgesamt vor neue Herausforderungen. Seit 1992 befindet sich die Bundeswehr ununterbrochen in Auslandseinsätzen und stellt in der NATO-wie in der Europäischen Union inzwischen mit die größten Truppenkontingente.
Mehr als 380.000 Soldatinnen und Soldaten sind bisher an Auslandseinsätzen beteiligt gewesen, viele davon mehrfach. 116 Soldatinnen und Soldaten haben dabei ihr Leben verloren.
An diesem militärischen Engagement, das den Gründungsvätern der Bundeswehr vor sechzig Jahren so wohl undenkbar erschienen wäre, lässt sich erkennen, wie sich die Rolle des wiedervereinigten Deutschland in der Welt verändert hat. Deutschland ist als eine der stärksten Volkswirtschaften abhängig vom globalisierten Austausch von Menschen, Gütern, Ideen und Informationen. Es braucht das stabile und vitale Umfeld, das dies alles ermöglicht: ein starkes, geeintes Europa und eine freie, auf Völkerrecht und Menschenrechte gestützte Weltordnung.
Freiheit ist ein Zustand, der nur so lange Bestand hat, wie diejenigen, die ihn für eine Errungenschaft halten, dafür zu kämpfen bereit sind. Deutschland muss deshalb bereit sein, auch in der Zukunft noch mehr Verantwortung zu übernehmen, in und für Europa und in der Welt. Das erwarten die europäischen, das erwarten die transatlantischen Partner. Die bemerkenswerte Umkehrung alter Ängste vor und die Veränderung von Erwartungen an Deutschland hat ausgerechnet ein Pole, der frühere Außenminister und Parlamentspräsident Radosław Sikorski, 2011 so auf den Punkt gebracht: „Ich fürchte die deutsche Macht weniger als die deutsche Untätigkeit. Sie sind Europas unverzichtbare Nation geworden. Sie dürfen bei der Führung nicht versagen. Nicht dominieren, sondern bei Reformen führen.“
Das Grundgesetz öffnet die Bundesrepublik Deutschland für den europäischen Integrationsprozess und verpflichtet es auch dem Ziel, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen“. Das ist es, wofür unser Land einsteht. Das Bekenntnis des Grundgesetzes darf man dabei nicht nur als Legitimation eines weiteren europäischen Integrationsprozesses werten, es muss als historisch begründete, politisch bewusste Selbstverpflichtung unseres Landes für eine gemeinsame Zukunft mit allen unseren Nachbarn wie auch Partnern in Europa und der Welt verstanden werden. Deutschland vermag seine Verantwortung nur als Teil einer Europäischen Union wahrzunehmen, die geeint und handlungsfähig ist. Der deutsche Beitrag zu einer gemeinsamen europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik gehört hier dazu. Das Parlament kann sich dabei auf die Bundeswehr verlassen wie die Soldatinnen und Soldaten auf ihr Parlament.
Norbert Lammert, geboren 1948 in Bochum, Sozialwissenschaftler, von 1998 bis 2002 kulturund medienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, seit Oktober 2005 Präsident des Deutschen Bundestages.
Dieser Beitrag greift die Rede des Autors anlässlich des 60. Geburtstages der Bundeswehr am 11. November 2015 vor dem Reichstagsgebäude auf.