Die Sahnetorte im Gesicht von Sahra Wagenknecht auf dem jüngsten Parteitag der Linken entbehrte nicht der Paradoxie. Denn hier wurde mit populistischen Mitteln gegen populistische Tendenzen in der eigenen Partei protestiert.
Linke Ultras wehrten sich gegen eine vermeintliche Abkehr von der „Willkommenskultur“. Schon vor der ersten Flüchtlingswelle hatte sich Wagenknecht dagegen ausgesprochen, jugendliche Arbeitssuchende aus Spanien und Griechenland anzuwerben. Deutsche Arbeitslose zuerst! Die Aufnahme von Flüchtlingen dürfe nicht zulasten der Deutschen gehen. Und nach der Kölner Silvesternacht kommentierte sie die Überfälle: Wer das Gastrecht missbrauche, verwirke es. Damit war sie in den eigenen Reihen unter Populismus-Verdacht geraten.
Auch der frühere Vorsitzende der Partei Die Linke, Oskar Lafontaine, forderte von seinen Genossen eine Kurskorrektur in der Flüchtlingspolitik. Der Ruf nach offenen Grenzen „für alle“ im Parteiprogramm sei vertretbar gewesen, „solange wir die Flüchtlingsströme nicht hatten“, sagte der frühere SPD-Vorsitzende dem Spiegel. Gefragt, ob er wie der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer eine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen fordere, antwortete er: „Für alles gibt es leider Ausgabenobergrenzen: für Kranke, für Polizisten, für Arbeitslose, für Rentner, für Schulen. Daher kann eine Partei, die ernst genommen werden will, nicht sagen: aber für die Aufnahme von Flüchtlingen nicht.“ Lafontaine griff die beiden aktuellen Vorsitzenden seiner Partei, Katja Kipping und Bernd Riexinger, direkt an: „Wenn unsere beiden Parteivorsitzenden sagen, alle Flüchtlinge, die wollen, sollen nach Deutschland kommen, ist das gut gemeint. Aber Arbeiter, Arbeitslose und Rentner wissen, dass das zu ihren Lasten geht, solange die Kanzlerin keine Reichensteuer einführt und an der schwarzen Null festhält.“ Im Gespräch mit dem Tagesspiegel wurde Lafontaine noch deutlicher: Viele Bürger fragten sich, „wenn Geld für die Integration von Flüchtlingen da ist, warum war es dann vorher für unsere Anliegen nicht da.“
Oskar Lafontaine hatte schon immer einen Zug ins Populistische. Als Provinzfürst von der Saar brüstete er sich zu Zeiten seiner Bonner Visiten stets damit, der „Laienspielschar“, will sagen den Eliten und Experten in der Hauptstadt „da oben“, mal ordentlich den Marsch blasen zu wollen. Es war die Pose des populistischen Führers. Unvergessen, wie er seinem Herausforderer bei der Landtagswahl 1990, Klaus Töpfer, mangelnde Amtseignung wegen Dialektferne vorhielt. Berühmt-berüchtigt ebenso seine Rede von den „Fremdarbeitern“ vor Hartz-IV-Empfängern. Sein Flüchtlingspopulismus läuft inzwischen nach dem gleichen Muster wie sein Wiedervereinigungspopulismus anno 1990. Denn als SPD-Kanzlerkandidat handelte er die deutsche Einheit primär als „soziale Frage“ ab. Schon damals schürte er Sozialneid mit dem bösen Satz, für die DDR werde alles und für die eigenen Leute kaum etwas getan. Mit Blick auf die jüngsten schlechten Landtagswahlergebnisse der Linken fügte Lafontaine hinzu, ihre Kernwähler hätten den Eindruck gehabt, „dass auch die Linke nicht ausreichend die sozialen Fragen beantwortet, die mit der Aufnahme so vieler Flüchtlinge verbunden sind“.
Stammtischkeulen und populistisches Fahrwasser
Aber auch in der SPD sind populistische Spurenelemente zu erkennen. Gleich zu Beginn seiner Kanzlerschaft schwang Lafontaine-Rivale Gerhard Schröder die Stammtischkeule: In Brüssel „werde deutsches Steuergeld verbraten“. Damit hatte der rot-grüne Regent den skeptischen Ruf weg, es bestenfalls zu einem „Vernunft-Europäer“ zu bringen. Er räumte dies später als Fehler ein. Seine europakritischen Äußerungen seien zu Recht kritisiert worden. „Das Motiv war ein Stück weit, es mal mit Populismus zu versuchen“, gestand der rot-grüne Kanzler in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung (25. November 2012).
Vom „deutschen Weg“ war – sehr zum Verdruss seines Außenministers Joschka Fischer – in Schröders umstrittener Rede von Goslar während des niedersächsischen Landtagswahlkampfs 2003 die Rede. Nicht die Entscheidung, sich dem Krieg im Irak zu entziehen, fiel unter Populismus-Verdacht, sondern die Begründung, die er gar nicht nötig gehabt hätte, da ohnehin eine erdrückende Mehrheit der Bevölkerung gegen eine deutsche militärische Beteiligung im Irak war.
Später sollte Schröder der Opposition entgegenhalten, die Zustimmung zu seiner Agenda 2010 komme einer „patriotischen Tat“ gleich. Sozialwissenschaftler im kommunitaristischen Umfeld dachten daraufhin über die Kategorie eines „Sozialpatriotismus“ nach, um damit in harten globalisierten Zeiten die Bereitstellung heimischer Arbeits- und Ausbildungsplätze durch Unternehmer als Beweis ihrer Heimatliebe deklarieren zu können. „Sozialpatriotismus“ – welch eine populistisch vorbelastete Kategorie! –, die sich der SPD-Ehrenvorsitzende Willy Brandt gegenüber Peter Glotz einmal ausdrücklich verbat, nachdem dieser als Chefredakteur der Neuen Gesellschaft / Frankfurter Hefte 1990 jene älteren Sozialdemokraten, für die die Deutsche Einheit immer noch eine Herzensangelegenheit war, als „Sozialpatrioten“ bezeichnet hatte.
Am Ende der rot-grünen Regentschaft sollte auch SPD-Chef Franz Müntefering ins populistische Fahrwasser geraten, als er mit der Keule der „vaterlandslosen Gesellen“ auf Hedgefonds losging, die gegen Länder spekulieren und keiner demokratischen Kontrolle unterworfen sind. Doch solche Attacken muteten ein wenig scheinheilig an, da es die rot-grüne Regierung war, die mit ihren steuerpolitischen Entscheidungen von 2002 die frühere „Deutschland AG“ weitgehend auflösten, „in der Banken, Politik und Gewerkschaften die deutschen Konzerne vor ausländischem Einfluss“1 geschützt hatten.
„Zeitalter des Narzissmus“
Wo Konservative aus Furcht vor einer misslingenden Integration Kulturängste verspüren, überfiel Sigmar Gabriel angesichts der Flüchtlingskrise die Furcht vor aufkommendem Sozialneid deutscher Arbeitnehmer – nach dem bekannten Muster: „Für die Flüchtlinge macht ihr alles, für uns macht ihr nichts.“
Die hier aufgeführten Beispiele offenbaren sicher noch keine latente Tendenz, allenfalls eine Versuchung in der Not, die umso erstaunlicher ist, als die SPD trotz aller traditionell bodenständigen und volkstümlichen Präferenzen als klassische Partei des Konsenses und des sozialen Ausgleichs immer das Gegenteil einer populistischen Vereinigung war. Allen Populismen widerstanden zu haben, darin liegt gewiss auch eines ihrer historischen Verdienste. Von Pierre Poujade in der Vierten Französischen Republik über den widerborstigen dänischen Steuerrebellen Mogens Glistrup bis zum Kärntner Aufmischer Jörg Haider haben populistische Klassiker in Europa nach 1945 den „Aufstand der Anständigen“ gegen die korrupten Eliten „da oben“ zu inszenieren versucht. Populismus geriet zum Gegenteil des Konzeptes der Volksparteien. Versuchen diese, unterschiedliche Interessen rational abzufiltern, konsensuell zu bündeln und damit auch zu entschärfen, so betreibt der Populist das gegenteilige Geschäft: Er schnürt auf, „entbündelt“ also, verschärft dadurch Gegensätze, macht sie virulent.2
Dennoch betont Populismus-Forscher Jan-Werner Müller: „Man sollte den Catch-all-parties nicht allzu viele Tränen nachweinen.“3 Der Preis des Vorgehens der Massenparteien, für möglichst viele Bürgerinnen und Bürger eine Verbindung zum demokratischen System herzustellen, sei viel zu hoch gewesen. In den 1950er- und 1960er-Jahren seien politische Parteien wie „Parallel-Lebenswelten“ aufgezogen worden, mit der Konsequenz, dass die Lagerpolarisierung in Wahlkämpfen oftmals einem geistigen Bürgerkrieg geglichen habe. Populismus ist Druck von unten, um illegitime Macht zu kontrollieren. Ausgehend von diesem Verständnis, stellt Jan-Werner Müller die Frage, ob in globalisierten Zeiten nicht doch vielleicht Platz wäre für einen „legitimen Populismus, für einen Populismus von links“. Dies ist auch die Position der belgischen Politikprofessorin Chantal Mouffe4, vehemente Kritikerin einer bloß konsens- und allzu dialogorientierten Vorstellung von Demokratie, mit der die antagonistische Struktur alles Politischen und die ihr stets innewohnenden Interessengegensätze ignoriert würden.
Nach Chantal Mouffe bleibt es die vorrangige Aufgabe demokratischer Ordnungen, dass Parteien, die in jeder Artikulation von Interessen miteinander rivalisieren, eine „Wir-oder-sie“-Unterscheidung auf pluralistische Weise öffentlich machen. Demokratie baut ihrer Natur nach stets auf Polarisierung und kollektive Identifikation. Man würde der demokratischen Willensbildung einen Bärendienst erweisen, gäbe man die Begriffe rechts und links auf. Verdränge man das Politische, so suche es sich einen anderen Schauplatz. Deshalb ist es nach Mouffe dringend geboten, es von links den Rechtspopulisten gleichzutun – wenn auch unter anderen normativen Vorzeichen. Der rassistische Populismus von rechts sei zwar abzulehnen, nicht aber die dahinterstehende Forderung nach „dem Entwurf eines Volkes“.
Zur Begründung eines linken Populismus wird derzeit auch ein Klassiker ausgegraben: der 1994 verstorbene Christopher Lasch mit seinem Werk Das Zeitalter des Narzissmus (1980). Joe Paul Kroll mutmaßte jüngst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4. Mai 2016), dass unter Berufung auf Lasch gerade eine Front aufgemacht würde: die Mehrheit der „anständigen“ einfachen Leute gegen den liberalen Individualismus und eine dünkelhafte Linke, die mit „narzisstischen“ Forderungen – wie derjenigen nach einem „Veggieday“ über „Gender Mainstreaming“ bis zu einem „Bleiberecht für alle“ – Wohlfühlpolitik am Volk vorbei betrieben.
Ultramoderner Webpopulismus
Selten wurde nach dem Ende des Faschismus so viel vulgäre Verachtung gegen die repräsentative Demokratie zu mobilisieren versucht. „Vaffanculo, vaffanculo! …“, skandierten Sprechchöre aus der „Fünf-Sterne-Bewegung“ (MoVimento 5 Stelle) des italienischen Politclowns Beppe Grillo, zu Deutsch: „Leck mich am Arsch!“ Es ist die Geste der Totalverweigerung. Der Rechtshistoriker Jacques de Saint Victor5 nennt diese moralische Empörung „Antipolitik“ – nicht zu verwechseln mit jenem Begriff, der um den Epochenbruch 1990 herum unter osteuropäischen Dissidenten kursierte.
Die 5 Stelle, die gerade bei der römischen Bürgermeisterwahl wieder einen aufsehenerregenden Erfolg erzielt haben, stellen gleichsam die Avantgarde der fortschrittlichen Variante eines neuen Linkspopulismus dar. De Saint Victor tituliert diese Spielart als „ultramodernen Webpopulismus“, der mit den Parteien eines europakritischen Rechtspopulismus nichts zu tun hat und mehr sein will als nur eine Rebellion gegen das Versagen der Eliten im Rahmen der weltweiten „Empört-Euch!“-Bewegung.
Dank der Partizipationsmöglichkeiten im Netz baue sich hier ein modernes „egalitaristisches“ Gegenprojekt auf, getragen von der wiederbelebten Illusion einer „direkten Demokratie“. Während traditionell argumentierende Linkspopulisten mit ihren Sozialneidkampagnen für die Zukurzgekommenen alle weltweiten Probleme auf die soziale Frage herunterzubrechen versuchen, glaubt der Anti-Establishment-Protest des Webpopulismus, ohne eine Fixierung auf soziale Themen auskommen zu können. Doch der hübschen Idee, „per staatsbürgerlichem Mausklick“ die Mauer zwischen Bürger und Institutionen einreißen zu wollen, halten Kritiker warnend entgegen, man könne ein Parlament nicht in ein Glashaus verwandeln. Der Tempel der Transparenz werde in Wahrheit zur Falle.
Ängste ernst nehmen
Die Grenzen zwischen linkem und rechtem Populismus verschwimmen immer häufiger. Wer etwa das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP bekämpft beziehungsweise der Ausweitung des Freihandels die Vernichtung von Arbeitsplätzen und die Ruinierung unserer Städte anlastet, bewegt sich ebenso auf der Linie der Agenda des linken Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn wie auf der des bizarren US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump. Zudem war die Versuchung von links nie gering zu veranschlagen, gegen die brutalen Tendenzen einer alles verschlingenden Globalisierung das Nationale wieder aufzuwärmen.
In Sachsen-Anhalt hat die Alternative für Deutschland (AfD) der Partei Die Linke Direktwahlkreise abgejagt, ebenso der SPD in deren Traditionsbezirk Mannheim-Nord in Baden-Württemberg. Damit kündigt sich auch in Deutschland ein Trend an, der seit Längerem bereits in Frankreich oder Österreich sichtbar wird: In einstigen Arbeiterhochburgen wird der Front National oder die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) gewählt. So konnte der rechtspopulistische FPÖ-Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer im einst tiefroten Wien-Simmering jüngst über fünfzig Prozent der Stimmen im zweiten Wahlgang holen. Und in Frankreich tendieren die verbliebenen Stammwähler der Sozialistischen Partei in solchen Wahlbezirken dramatisch gegen null.
Lässt sich angesichts solcher Erosionsprozesse das Heulen mit den Wölfen aufseiten der linken Parteien noch aufhalten? Während Bündnis 90 / Die Grünen es sich zusehends zur Strategie machen, konsequent die konträre Position zur AfD in Migrations- und Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens abzubilden, ohne mit Einbrüchen aufseiten ihrer Wählerschaft rechnen zu müssen, rät Populismus-Forscher Jan-Werner Müller dringend von einem linken Populismus als Gegengift gegen die rechtspopulistische Protestbewegung ab. Um die Ängste der Wähler ernst zu nehmen, bedürfe es weder kruder Anleihen bei den Volksverhetzern noch ihrer moralischen Diskreditierung durch Ausgrenzungsmanöver.
Norbert Seitz, geboren 1950 in Wiesbaden, Hörfunkautor beim Deutschlandfunk und Lehrbeauftragter an der Humboldt-Universität zu Berlin.
1 Max Höfer: „Kennt der Kapitalismus (k)ein Vaterland?“, in: Die Politische Meinung, Nr. 536, Januar/Februar 2016, S. 80–84.
2 Vgl. Helmut Dubiel (Hrsg.): Populismus und Aufklärung, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1986.
3 Jan-Werner Müller: „Schatten der Repräsentation: Der Aufstieg des Populismus“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 4/16.
4 Chantal Mouffe: Für einen linken Populismus, www.ipg-journal.de, 30.03.2015.
5 Jacques de Saint Victor: Die Antipolitischen, Hamburger Edition, 2015.