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Die Situation der Flüchtlinge auf Lesbos

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Auf Einladung der Evangelischen Kirche von Westfalen und der Evangelischen Kirche im Rheinland habe ich mich Anfang Juni mit Politikerinnen und Politikern aller Fraktionen des Landtags Nordrhein Westfalen auf den Weg zu den Flüchtlingen gemacht, um Informationen aus erster Hand zu bekommen und mir ein unmittelbares, eigenes Bild zu verschaffen.

Unser Ziel war es, die Erfahrungen vor Ort in die Beurteilung künftiger Entscheidungen zur Flüchtlingspolitik einfließen zu lassen. Während einige von uns nach Süditalien reisten, gehörte ich der Gruppe an, die sich in Athen mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) und auf der griechischen Insel Lesbos mit Flüchtlingen, Hilfsorganisationen, der Polizei und der Küstenwache getroffen hat.

Schon meine ersten Eindrücke auf Lesbos waren erschütternd. Den dortigen Strand teilen sich Touristen und Flüchtlinge: Während die einen am Tag ihren Urlaub genießen, kommen die Flüchtlinge ausgezehrt nach oft wochenlanger Reise meist in der Nacht an. Manchmal gibt es auch ein Zusammentreffen von Touristen und Flüchtlingen, das für Erstaunen auf beiden Seiten sorgt.

2014 erreichten über 43.000 Flüchtlinge Griechenland auf dem Seeweg, was einer Steigerungsrate von 280 Prozent im Vergleich zum Vorjahr entspricht. Bis Mai dieses Jahres haben bereits über 48.000 Menschen Griechenland erreicht, in Italien waren es im gleichen Zeitraum 52.000 Personen. Die Route über Griechenland entwickelt sich derzeit zum Hauptflucht weg nach Europa. Die meisten Flüchtlinge stammen aus Syrien und dem Irak, Afghanistan, Somalia und Eritrea.

 

Die Tortur geht weiter

Lesbos hat etwa 86.000 Einwohner und liegt in der nördlichen Ägäis. Allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres sind über 20.000 Bootsflüchtlinge angekommen. Wenn sie es bis zur Insel geschafft haben, brechen sie zunächst in Jubel aus oder tanzen mit letzter Kraft auf den steinigen Felsen der Küste. Viele weinen auch, weil sie glauben, nun endlich in Sicherheit zu sein. Doch ihre Tortur geht weiter: Je nachdem, wo sie an Land gegangen sind, wartet ein über sechzig Kilometer langer Fußmarsch zum Erstaufnahmelager auf sie. Bei größter Hitze und ohne Versorgung mit Wasser und Nahrung ist dies selbst für gesunde Menschen kaum zu bewältigen, geschweige denn für ausgemergelte Körper, allein reisende Kinder, Kranke und Ältere.

Wer sich zu diesem Zeitpunkt der Flüchtlinge annimmt und sie beispielsweise mit dem eigenen Auto zu einer Anlaufstelle bringt, um ihnen den zwei bis dreitägigen Fußmarsch zu ersparen, macht sich nach geltendem Recht strafbar. Trotzdem ist die Solidarität der griechischen Zivilgesellschaft sehr groß, und auch Touristen wollen helfen.

Viele Flüchtlinge brechen auf dem Weg ins Erstaufnahmelager zusammen. Für die, die es dorthin schaffen, zeichnet sich ein Schreckensbild ab: Eigentlich sollten die Flüchtlinge hier nur wenige Tage bleiben, mit dem Nötigsten versorgt, untersucht und behördlich registriert werden. Doch die Realität zeigt, dass sich dieser Zwischenstopp über viele Monate hinziehen kann. Das Lage r ist mit bis zu viermal so vielen Flüchtlingen belegt, wie es eigentlich aufnehmen kann.

Auf Lesbos fehlt es den Flüchtlingen daher an allem: Sie haben weder eine Unterkunft noch ein Zelt, das ihnen Schutz vor Hitze oder Regen gibt. Sie müssen ohne sanitäre Einrichtungen und medizinische Versorgung auskommen. Es gibt weder ausreichend frisches Trinkwasser noch genügend Polizisten und Beamte, die sich um die Registrierung und die geordnete Weiterversorgung der Flüchtlinge kümmern. Die desolate Situation der vielen traumatisierten Menschen in den Lagern wirkt sich auf die ohnehin schon angespannte Atmosphäre aus.

 

„Wir wollen ja helfen …“

Sowohl die Kommunen als auch die nationalen und internationalen Hilfsorganisationen geben zwar ihr Bestes, doch sie sind durch die gewaltige Zahl der Flüchtlinge schlichtweg überlastet. Der Polizeidirektor von Moria und der Chef der Küstenwache vermitteln mir glaubhaft, dass sie das Leid der Flüchtlinge nicht unberührt lässt: „Wir wollen ja helfen und tun dies auch bis zur Erschöpfung, aber wir haben von Behördenseite einfach zu wenig Leute“, sagen beide unabhängig voneinander.

Ein trauriges Bild zeigt sich auch am Hafen von Lesbos: Hunderte Menschen schlafen hier unter freiem Himmel und wissen nicht, was am nächsten Morgen mit ihnen passieren wird. Und so stehen sie dann in langen Schlangen, freiwillig und ungeduldig darauf wartend, dass sie in das Erstaufnahmelager gebracht werden, das eigentlich mehr einem Gefängnis gleicht. Dort haben sie zumindest theoretisch die Chance darauf, registriert zu werden und ein Formular zu erhalten, das ihnen für sechs Monate den Aufenthalt in der EU sichert.

Hier an der Außengrenze der EU, wo viele Touristen auch aus Deutschland die „schönste Zeit des Jahres“ verbringen, kann ich mich des erschütternden Eindrucks nicht erwehren, dass die Würde des Menschen praktisch begrenzt ist: Ein Paradies aus „All-you-can-eat-Buffets“ und einer großzügigen Rundumversorgung für die Gäste am Strand befindet sich nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt von ausgelaugten, fast ohnmächtigen Körpern, die mit nichts als der Hoffnung auf ein besseres Leben kommend in Europa gestrandet sind – in einem versagenden Europa!

Noch härter formulierte es der Erzbischof von Athen, Hieronymos II., der gleichzeitig das Oberhaupt der autokephalen orthodoxen Kirche von Griechenland ist und sich Zeit für ein Treffen mit unserer Delegation nimmt: „Die Menschen haben Gott vergessen.“ Und sein Credo lautet fast flehentlich: „Die EU muss gemeinsam die Konsequenzen dieser Situation tragen.“ Das Treffen mit Hieronymos II. ist eine von vielen bewegenden Begegnungen an diesem Tag.

Wir selbst, Politikerinnen und Politiker aus Nordrhein-Westfalen, leben in Deutschland im Wohlstand, und es mag uns schon in Unruhe versetzen, wenn sich nur der Akku unseres Telefons dem Ende zuneigt. Viele Menschen in Westeuropa empfinden bereits die kleinste Abweichung in ihrem Alltag als eine mögliche Bedrohung: Die Ungewissheit und das Nicht-Geregelte sind Faktoren, die wir in Deutschland gerne ausmerzen wollen. Vielleicht ist gerade das der Grund dafür, dass das Leid der Flüchtlinge jenseits unserer eigenen Vorstellungskraft liegt und wir es – aus scheinbar sicherer Entfernung – auszublenden versuchen, weil es uns emotional überfordert.

Deutlich wird auf dieser Reise, dass die Regelung für Flüchtlinge , nur in dem EU-Land Asyl beantragen zu können, in dem sie angekommen sind, die südlichen Aufnahmeländer massiv überfordert. Da bei ist das Ziel der Bootsflüchtlinge nicht Griechenland oder Italien, sondern vor allem Deutschland.

 

Appell für eine europäische Solidarität

Die südeuropäischen Länder müssen um gehend mehr Geld und Personal erhalten, damit die Flüchtlinge würdig versorgt werden können. Menschen mit Krankheiten müssen behandelt werden, allein schon, um die Ansteckungsgefahr zu minimieren.

Alle verfügbaren EU-Nothilfefonds und Katastrophenschutzmaßnahmen sollten schnellstens aktiviert werden, um die humanitären Krisen in Griechenland und Italien abzuwenden. Die Kosten der Flüchtlingsversorgung sind dabei solidarisch auf alle EU-Länder zu verteilen, genauso wie die Flüchtlinge selbst. Dieser Appell richtet sich besonders an die jungen EU-Mitgliedsstaaten, die Solidarität nicht nur für sich selbst einfordern, sondern sie auch dort leisten sollten, wo die Not unerträglich ist. Wer sich als Wertegemeinschaft versteht, darf in seinem Anspruch bei den Schwächsten nicht nachlässig werden.

Die Flüchtlinge sollten außerdem bereits in ihrem Heimatland die Möglichkeit erhalten, legal nach Europa einreisen zu können. Einige internationale Fragen müssen dringend gelöst werden: Libyen, von wo aus viele Flüchtlinge ihre waghalsige Überfahrt nach Europa starten, muss stabilisiert werden, und auch die Bekämpfung der Schleuserbanden muss mit stärkerem Nachdruck geschehen.

Unsere Reise zu den Flüchtlingen hat bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern bleibende Eindrücke hinterlassen. Nicht Griechenland und Italien versagen im Umgang mit den Flüchtlingen, sondern Europa. Viel zu viele Menschen sind bereits gestorben. Weiteres Leid zu verhindern, ist unsere humanitäre Verantwortung. Wenige Tage nach unserem Besuch eskalierte die Situation auf der Insel, weil die Flüchtlinge nicht einmal mehr mit Nahrung versorgt werden konnten.


Serap Güler, geboren 1980 in Marl, integrationspolitische Sprecherin der CDU-Fraktion im Landtag Nordrhein-Westfalen und Mitglied im Bundesvorstand der CDU Deutschlands.

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