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Ein Intermezzo zum 90. Geburtstag von Adolf Muschg

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Ein Schweizer Romancier, ein europäischer Intellektueller, ein feinsinnig-scharfer Gegenwartsbeobachter, ein Wahlverwandter Goethes, ein west-östlicher Weltliterat – diese Zuschreibungen treffen wohl nur auf Adolf Muschg zu, der am 13. Mai 2024 seinen 90. Geburtstag feiern konnte. Es ist ein Glücksfall, dass wir uns am 8. Mai, wenige Tage vor dem Geburtstag treffen. In Muschgs Erzählung Der 13. Mai aus dem Prosaband Leib und Leben von 1982 erschießt ein international renommierter Strafrechtslehrer am 13. Mai, als ihm das Ehrendoktorat seiner Fakultät verliehen wird, den Dekan beim Vortragen der Laudatio. Ein hinreichender Grund, den Autor und Jubilar nicht am 13. Mai mit einer Laudatio zu belästigen. Aber ein kleines, persönliches Schlaglicht vorab darf es schon sein. Das ist gar nicht so einfach. Wo anfangen, wo enden angesichts der vielen, vielen Bücher, der klugen, mutigen Einlassungen zur Kunst, zur Politik, zur Literatur?

Ich greife eine Rede heraus, die Adolf Muschg 2004, vor zwanzig Jahren, anlässlich des 150. Geburtstags des Grimm’schen Wörterbuchs gehalten hat und die mir als Literaturwissenschaftler sehr am Herzen liegt: „Die Alchemie der Wörter“. Damit bin ich zugleich außer Gefahr, erschossen zu werden: Ich spreche über eine Laudatio, die Adolf Muschg selbst verfasst hat. Für ihn sei das Grimm’sche Wörterbuch ein verwunschener Steinbruch, ein historisches Monument, ein Zauberberg der Wörter, so Muschg in seiner Laudatio. Das Jubiläum dieses Sprachprojekts im Jahr 2004 nimmt er zum Anlass, grundsätzlich über die Magie der Wörter zu sprechen, über jene Zauberwörter etwa, die jeder sprachempfindliche Mensch als Kind sammelt und erprobt. Seine persönlichen Zauberwörter des Kindesalters lauteten, so lesen wir, Tamangur (nach einer Alp im Graubündner Nationalpark), aber auch deutsche oder eingedeutschte Zauberwörter wie Horizont und Firmament – „das ich damals ‚Firnament‘ schrieb“, so Muschg, „ein Fehler, an dem ich im stillen festhalte“. Neben diesen drei dreisilbrigen Zauberwörtern gab es für den Knaben einsilbige wie Luv und Lee, zweisilbige wie Ursprung und schillernde Ortsnamen wie Valparaiso, Pernambuco, Buenos Aires, Valladolid.


Unlösbare Fragen

Was sagt dieser Aufruf früher Zauberwörter über den Jubilar Adolf Muschg? Als Schriftsteller vertraut er zweifellos noch immer der Magie der Wörter. Und er liebt einige Wörter ganz besonders, gerade weil sie ihm immer schon magisch erschienen. Betrachten wir einmal diese Wörter: Tamangur, Horizont, Firmament, Luv und Lee, Ursprung. Vom klanglichen Reiz der Ortsnamen einmal abgesehen, sind es in der Mehrheit Raumordnungswörter, Orientierungswörter, räumlich und zeitlich, horizontal und vertikal, ganz grundsätzlich oder auch ganz konkret. Lässt sich eine kleine Poetik unseres Jubilars daraus ablesen? Als Orientierungswörter spannen sie den Raum seiner Bücher auf, die ihre Figuren immer wieder vor heikle Situationen, im Grunde unlösbare Fragen stellen. In Muschgs Geschichten geht es offensichtlich um die Suche nach verborgenen, verdrängten Ursprüngen, nach Flucht- oder Zielpunkten am Horizont, um Lebensorientierung, ob nun mithilfe der Sterne oder der Windrichtungen. Am sinnfälligsten wird das in Muschgs Nach- und Neuerzählung des Parzival-Stoffs Der rote Ritter. Eine Geschichte von Parzivâl von 1993. In seinen Bamberger Poetikvorträgen kam er 2003 darauf zu sprechen: „Natürlich weiß Parzivâl keinen Ausweg, hat keine Lösung zu bieten, von Erlösung ganz zu schweigen. Er ist sozusagen nur ein Verstärker des Fragens – und macht sich dabei die alte Lebensweisheit zunutze, daß es auf Fragen ohnehin nie eine Antwort gibt als größere Fragen.“

Welche der frühen Zauberwörter ganz wörtlich an welchen Stellen in das literarische Werk Adolf Muschgs eingewandert sind, habe ich nicht mit letzter Gründlichkeit überprüft. Das schillerndste von allen, das Zauberwort Tamangur (das jeder Nicht-Schweizer eher der Region um Valparaiso zugeordnet hätte als dem Kanton Graubünden), warte in der literarischen, für ihn geltenden Wirklichkeit immer noch auf seine Anwendung, schrieb Muschg in seiner Festrede von 2004. Als Familienname für eine Romanfigur sei es ihm bisher immer zu schade gewesen. Vier Jahre später, in dem Roman Kinderhochzeit, taucht es dann allerdings auf.

 

Einspruch des Orthographieprogramms

Das Zauberwort Firmament, oder vielmehr Firnament, ist mir in der Erzählung Das gefangene Lächeln von 2004 entgegengesprungen. Dort trägt der Erzähler gelassen „Firnament“ in ein selbstgemachtes Kreuzworträtsel ein, als erstes, als „anderes Wort für Sternenhimmel“, als neues Lieblingswort: „gletscherkalt und sternenklar“. Das Orthographieprogramm und sein Gegenüber erheben Einspruch. Er aber beharrt auf seiner Schreibung: „Bald sechzig Jahre lang habe ich Firnament geschrieben. Jetzt bring mir nur nichts Neues bei.“ Warum auch? Echte Zauberwörter lassen sich nicht korrigieren und in korrekte Schreibweisen überführen. Ihnen kommt etwas Widerständiges zu. Innerhalb der Erzählung Das gefangene Lächeln wird durch das Wort „Firnament“ nichts unmittelbar verzaubert, verwandelt, verändert. Aber, das möchte ich festhalten, Adolf Muschgs Romanen und Erzählungen kommt insgesamt eine solche Wirkung zu: eine Veränderung, eine Verrückung, mitunter eine Verstörung unserer Weltwahrnehmung. Das gilt nicht weniger für seine Essays und Reden. Vernünftige Drohreden hat er eine Sammlung genannt – so könnten sie alle heißen. In Sachen Europa etwa hat Adolf Muschg immer wieder die Anerkennung der Vielfalt und die Zusammengehörigkeit in dieser Anerkennung des Andern eingefordert: Der literarischen Selbstbefragung korrespondiert die politische Selbstbefragung des Europäers Adolf Muschg.

Mit anderen Worten: Seine Romane, seine Erzählungen, seine Reden sind eben das, was Muschg in seiner Grimm-Laudatio ganz grundsätzlich den Wörtern zuspricht. Kein Luxus, sondern ein Grundlebensmittel der Kultur, Speicher eines beweglichen Gedächtnisses. Sie erproben immer wieder aufs Neue, was in der Sprache möglich, was nur mit Wörtern möglich ist. Vielen Dank dafür!


Friedhelm Marx, Inhaber des Lehrstuhls für Neue deutsche Literaturwissenschaft, Otto-Friedrich-Universität Bamberg, korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, Vertrauensdozent und seit 2024 Vorsitzender der Jury zur Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung.


Leicht bearbeitete Fassung einer vom Autor am 8. Mai 2024 im Rahmen einer Abendveranstaltung zum 90. Geburtstag von Adolf Muschg in der Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin, gehaltenen Rede.

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