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Energiepolitische Kooperationen mit den Visegrád­-Staaten

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Großbritannien hat in den vergangenen Jahren seine Kohleverstromung stark gekappt und dadurch seine Kohlendioxid-(CO2)-Emissionen um 40,8 Prozent gesenkt. Dies ist überproportional im Vergleich zur Europäischen Union (−23,5 Prozent). Mit dem Brexit verlieren Deutschland und die EU nicht nur einen Partner in der Energiepolitik, sondern auch einen wichtigen Mittler bei der politischen Konsenssuche divergierender Interessen der EU-Mitgliedstaaten. Jetzt gilt es, strategische Schlussfolgerungen für neue Interessenallianzen aus dem Brexit für Deutschlands EU-Politik zu ziehen. Eine engere Kooperation mit den Visegrád-Staaten ist eine Option.

Die deutsch-französische Achse muss dabei weiterhin Motor der europäischen Integration sein, auch wenn die jeweiligen Interessen in der Wirtschafts- und Energiepolitik oftmals gegenläufig sind. Frankreich und viele südliche EU-Mitgliedstaaten wollen den Stabilitäts- und Wachstumspakt aufweichen und sind zu einer größeren Schuldenpolitik in der Europäischen Union grundsätzlich bereit. Deutschland hält hingegen aus guten Gründen an den bestehenden Vereinbarungen fest.

Der deutsch-französische Motor allein reicht jedoch nicht aus. Die Wiederbelebung der deutsch-französischen Beziehungen und die Entwicklung einer gemeinsamen „strategischen Kultur“ gestalten sich nicht nur bei der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik schwierig. Auch bei der Wirtschafts- und Energiepolitik gibt es divergierende Meinungen. Der Brexit hat somit direkte Auswirkungen auf die sensitive Interessenbalance innerhalb der Europäischen Union, was die Suche nach neuen Partnern erfordert. Eine Option ist die Stärkung der energiepolitischen Kooperation mit Polen und den weiteren Visegrád-Staaten Tschechien, Slowakei und Ungarn. Auch für diese haben sich mit der Verkündung des European Green Deal (EGD) der Europäischen Kommission die notwendigen Weichenstellungen in ihrer Energiepolitik verändert. Bis 2030 sollen die CO2-Emissionen jetzt um 55 Prozent (bisher 40 Prozent) gegenüber 1990 reduziert werden. Dies erfordert nicht nur für das Energiesystem, sondern auch für das Wirtschafts- und Finanzsystem eine grundlegende systemische Transformation.

Deutschland hat ein grundsätzliches Interesse an einer ambitionierten Klimapolitik der Europäischen Union. Um die Energiewende nicht zu gefährden, muss es seine Kooperationen mit den Nachbarstaaten ohne den Mittler Großbritannien verstärken. Zugleich könnte nach den Kontroversen um den Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 politisches Vertrauen in Warschau, Brüssel und anderen EU-Hauptstädten zurückgewonnen und die gemeinsame EU-Energiepolitik gestärkt werden.

 

Ausbau der Energie-Infrastruktur

 

Der Ausbau des Energiebinnenmarktes ist die zentrale Voraussetzung für die künftige EU-Energiesicherheit und Wettbewerbsfähigkeit. Mehr gemeinsame Strom- und Gasinterkonnektoren, das heißt Übergabepunkte und Leitungen über Ländergrenzen hinweg, haben bereits in den letzten Jahren eine Diversifizierung an Transportrouten und Versorgungsquellen der Mitgliedstaaten ermöglicht. Insbesondere in Osteuropa wurde so die Versorgungssicherheit gestärkt. In Verbindung mit der Sektorkopplung, also der Verzahnung von Strom, Wärme und Mobilität, würde der weitere Ausbau transnationaler Strom- und Gasinterkonnektoren nicht nur noch größere Effizienz und höheres Energieeinsparpotenzial, sondern aufgrund gemeinsamer Projekte auch mehr Planungs- und Investitionssicherheit für private Investoren eröffnen. Grenzüberschreitende Ausschreibungen bei Erneuerbaren Energien würden die Effizienz und Flexibilität steigern sowie größere Stromspeicheroptionen zwischen den Mitgliedstaaten ermöglichen.

Deutschland konnte durch den seit Jahren vorangetriebenen Kohleausstieg viel Erfahrung hinsichtlich des Strukturwandels sammeln. Ein Erfahrungsaustausch insbesondere mit Polen wäre hilfreich, da dort Stromerzeugung (78 Prozent) und Primärenergiebedarf (50 Prozent) noch immer auf Kohle basieren. Denkbar wären auch gemeinsame innovative Forschungsprojekte für die Weiternutzung außer Dienst gestellter Kohlekraftwerke als Energie- und Stromspeicher.

Ein solcher Erfahrungsaustausch ist auch deshalb notwendig, weil die vorgesehenen einhundert Milliarden Euro des „Fonds für einen gerechten Übergang“ nur für die soziale Abfederung und den regionalen Strukturwandel vorgesehen sind. Die notwendigen alternativen Kapazitäten der Energieerzeugung sind damit weder finanziert noch gebaut. Zudem sind in Polen mehr als 100.000 Jobs direkt von einem Kohleausstieg und mehr als 400.000 indirekt betroffen. In Schlesien könnte sogar jeder zweite Arbeitsplatz betroffen sein. Dabei steht Polen keine vergleichbare Finanzkraft zur Verfügung, um einen Ausstieg nach dem deutschen Modell auch nur ansatzweise zu finanzieren.

Für die EU-weite Energietransformation will die Kommission bis 2030 rund eine Billion Euro vor allem durch Kreditvergaben bereitstellen. Ärmeren Mitgliedstaaten könnte dies noch höhere Staatsschulden bescheren. Zudem sind aus Sicht der Kommission jährlich mindestens 260 Milliarden Euro – in Summe 2,6 Billionen Euro – bis 2030 notwendig. Die interne Prognose von bis zu drei Billionen Euro ist angesichts des stets unterschätzten Finanzbedarfs der deutschen Energiewende deutlich realistischer.

Die systemische Energietransformation und der regionale Strukturwandel in den Visegrád-Staaten werden durch die Neuausrichtung der Automobilindustrie auf Elektromobilität beeinflusst. Eine verstärkte Kooperation kommt somit nicht nur den Visegrád-Staaten zugute, sondern wird auf deutscher Seite auch mehr Einblicke und Empathie für die schwierigen und unterschiedlichen Transformationsprozesse zur Folge haben. Auf dieser Basis können dann adäquate wirtschaftspolitische Unterstützungsmaßnahmen und Technologietransfers bereitgestellt werden sowie neue gemeinsame bi- und multilaterale Energieprojekte entstehen.

 

Perspektive Kernenergie?

 

Frankreich hält – wie auch die Visegrád-Staaten – an der Kernenergie fest und sieht insbesondere mit Blick auf die Dekarbonisierung und die Abstützung der Stromerzeugung keine realistische Alternative, um diese bis 2050 vollständig zu ersetzen. Kaum überraschend war deshalb auch das Angebot Emmanuel Macrons für eine Kooperation hinsichtlich der polnischen Pläne zum Neubau von Kernkraftwerken. Dennoch stehen weltweit Fragezeichen hinter der Kernenergie, da deren ökonomische Profitabilität zunehmend fragwürdig wird. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund des dramatischen Preisverfalls bei Solarenergie und Windkraftanlagen. Enorme Fortschritte konnten bezüglich der Produktionskosten durch Lernkurven- und Größendegressionseffekte erreicht werden. Darüber hinaus wurden die Preise durch die verschärfte internationale Konkurrenz gedrückt.

Seit dem 16. Juni 2017 ist das Gesetz zur Neuordnung der Verantwortung in der kerntechnischen Entsorgung mit Erteilung der beihilferechtlichen Genehmigung der Europäischen Kommission in Kraft. Kurz danach unterzeichneten die damalige Bundesministerin Brigitte Zypries und die Vorstände der Energieversorgungsunternehmen einen öffentlich-rechtlichen Vertrag mit dem Ziel, für beide Seiten langfristige Rechtssicherheit zu schaffen und zahlreiche rechtliche Streitfälle beizulegen.

Danach verblieb in der Kernenergie die Verantwortung für die gesamte Abwicklung von der Stilllegung über den Rückbau bis zur fachgerechten Verpackung der radioaktiven Abfälle bei den Betreibern der Kernkraftwerke. Für die Durchführung und Finanzierung der Zwischen- und Endlagerung der radioaktiven Abfälle ist der Bund zuständig. Entsprechend dem Verursacherprinzip haben die Kernkraftwerkbetreiber hierfür die finanziellen Mittel in Höhe von insgesamt rund 24,1 Milliarden Euro dem Bund zur Verfügung gestellt und an die Stiftung „Fonds zur Finanzierung der kerntechnischen Entsorgung“ übertragen. Auch hierbei könnte ein Erfahrungsaustausch Deutschlands mit den Visegrád-Staaten im gemeinsamen Interesse sein. Dafür braucht es jedoch mehr Verständnis statt ideologische Grundsatzdebatten. Die Perspektiven der Kernfusion müssen insofern offengehalten und entsprechend zukunftsfähig gestaltet werden, zumal Deutschland am internationalen Forschungsprojekt ITER (International Thermonuclear Experimental Reactor) nach wie vor beteiligt ist.

Unterschiedliche energiewirtschaftliche Voraussetzungen erfordern auch unterschiedliche Lösungswege bei der Dekarbonisierung. Somit kann das Modell der deutschen Energiewende keineswegs die Blaupause für alle anderen EU-Staaten oder die Welt sein. Stattdessen könnten sie gerade von den äußerst kostspieligen Fehlern Deutschlands bei der Energiewende lernen und diese vermeiden.

 

Gemeinsame Politik statt teure Alleingänge

 

Bereits vor der Verkündung des European Green Deal haben die Visegrád-Staaten den Ausbau der Erneuerbaren Energien forciert. Dieser sollte – auch mit deutscher Unterstützung – weiter vorangetrieben werden. Bei einer länderübergreifenden Ausschreibung gemeinsamer Projekte für Erneuerbare Energien würde dies für alle Seiten neue Optionen mit einer höheren Effizienz und wirtschaftlichen Profitabilität bedeuten. Allerdings kommt es auch in Polen trotz einer geringeren Bevölkerungsdichte und größerer Nutzflächen für Windkraftanlagen zur Kollision von Ausbauplänen und gesellschaftlicher Akzeptanz. Aufgrund des Widerstandes an Land setzt die polnische Regierung derzeit vor allem auf den Ausbau von Windkraftanlagen in Küstengewässern und der Ostsee. Dies wird aber für die Erfüllung der Zielvorgaben des European Green Deal nicht ausreichen.

Zudem ergibt ein ausschließlich nationaler Ausbau der Erneuerbaren Energien aus ökonomischer Sicht keinen Sinn. Das gilt insbesondere, wenn nationale geografische Bedingungen nicht berücksichtigt werden. Auch die gemeinsamen europaweiten Stromnetze und der Aufbau eines gemeinsamen Energiebinnenmarktes erfordern eine gemeinsame Politik beim Ausbau statt teurer nationaler Alleingänge. Dies verspricht unter Berücksichtigung der Ausweitung des EU-Emissionshandels und einer Sektorkopplung mehr Synergieeffekte, Einsparpotenziale und verbesserte Energieeffizienz.

Zugleich hält Deutschland aus prinzipiell ideologischen und parteipolitischen Gründen an der finanziellen Nicht-Unterstützung der Kernenergie fest, während die Kommission nach 2030 darüber hinaus sukzessive aus der Nutzung von Erdgas aussteigen und es durch CO2-neutrales „grünes Gas“ ersetzen will. Als „grüne Gase“ werden gasförmige Energieträger bezeichnet, bei deren Verbrennung nicht mehr CO2 freigesetzt wird, als zuvor der Atmosphäre entnommen wurde. Polen, Deutschland und andere EU-Mitgliedstaaten werden jedoch in den nächsten Jahren auf den Neubau von Gaskraftwerken angewiesen sein. Denn ein gleichzeitiger Ausstieg aus Kohle, Kernenergie und Erdgas ist weder wirtschaftlich tragbar, noch könnte damit die Grundlaststabilität für die fluktuierende Stromerzeugung aus Wind- und Sonnenenergie gewährleistet werden.

 

Eine europäische Wasserstoffstrategie

 

Neuinvestitionen in Gaskraftwerke und andere Gasinfrastrukturen wären keine Fehlinvestition in unrentable „stranded assets“. Sie könnten für erneuerbare Gase sowie für den Ausbau einer Wasserstoffwirtschaft langfristig genutzt werden. Das Regelwerk des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfaches, das die technischen Regeln und DIN-Normen für alle Aktivitäten in der Gas- und Wasserwirtschaft festlegt, ermöglicht bereits grundsätzlich Beimischungen von knapp zehn Prozent Wasserstoff in das vorhandene Gasnetz. Auch höhere Beimischungen sind perspektivisch möglich.

Die Bundesregierung hat im Juni 2020 die Nationale Wasserstoffstrategie vorgestellt. Klar ist: Deutschland wird künftig auf Wasserstoffimporte angewiesen sein. Auch alle anderen EU-Mitgliedstaaten dürften zumeist grünen Wasserstoff aus Europa sowie unter anderem aus Afrika, dem Mittleren Osten und Australien importieren. Grüner Wasserstoff, der an geeigneten Standorten mit hoher Sonneneinstrahlung im Ausland mit Solarstrom hergestellt wird, hat bei der Herstellung deutlich weniger Effizienzverluste als bei einer Produktion in Deutschland. Eine künftige europäische Wasserstoffstrategie könnte eine zentrale Rolle bei der Dekarbonisierung spielen. Auch dies eröffnet neue Möglichkeiten für eine stärkere energiewirtschaftliche Kooperation mit den Visegrád-Staaten und ist eine Chance, weniger nationale Alleingänge in der Energiepolitik zu betreiben.

Ungeachtet der derzeitigen Blockadepolitik Polens und Ungarns beim EU-Haushalt ist eine verstärkte Kooperation Deutschlands mit den Visegrád-Staaten aufgrund übergeordneter energie- und außenpolitischer Interessen unabdingbar. Nach dem Brexit gilt es, mehr als je zuvor auf die Zusammenarbeit mit den östlichen EU-Nachbarstaaten zu setzen. Die genannten Vorschläge würden sowohl Deutschland als auch den Visegrád-Staaten zugutekommen sowie neue energiewirtschaftliche und klimapolitische Kooperationsfelder eröffnen. Vor allem aber würde dies auch die gemeinsame integrierte Energie- und Klimapolitik der Europäischen Union stärken und neue strategische Perspektiven für die Zukunft Europas schaffen.

 

Joachim Pfeiffer, geboren 1966 in Mutlangen, Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, seit 2014 wirtschafts- und energiepolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag.

Frank Umbach, geboren 1963 in Kassel, Forschungsdirektor am „European Cluster for Climate, Energy and Resource Security (EUCERS)/Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (CASSIS) “, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

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