Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges beginnen die Deutschen zu ahnen, dass die Demokratie, der sie nach der Katastrophe des 20. Jahrhunderts ihr Ansehen in der Welt und auch ihren Wohlstand verdanken, keine Selbstverständlichkeit ist. Vielmehr ist diese politische Ordnung heute unterschiedlichen Gefährdungen ausgesetzt. Sie hat sich den Herausforderungen des Populismus ebenso zu stellen wie totalitären Versuchungen oder postfaktischen Manipulationsbestrebungen. Zur Abwehr dieser Gefährdungen und zur Ertüchtigung der Demokratie kann die Politikwissenschaft einen wesentlichen Beitrag leisten, falls sie sich als Demokratiewissenschaft begreift. Am Anfang einer so verstandenen Politikwissenschaft steht Karl Dietrich Bracher, der im September 2016 im Alter von 94 Jahren in Bonn starb. Er gehörte zu den Gründern der zeithistorischen Politikwissenschaft und übernahm 1959 die Gründungsprofessur für Politikwissenschaften und Zeitgeschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Dort hat er das Seminar für Politische Wissenschaft aufgebaut, das sich bald zum Magneten für politisch und politikwissenschaftlich interessierte Studierende entwickelte. Auch Lehrbeauftragte aus dem politischen Bonn, der damaligen Bundeshauptstadt, zog das Seminar in großer Zahl an.
Bracher, 1922 in Stuttgart geboren, hatte nach seinem Kriegsdienst in Nordafrika und der Kriegsgefangenenlager-Universität in Kansas (USA) Alte Geschichte in Tübingen studiert und dort schon 1948 mit einer Arbeit über das politische Denken in der frühen römischen Kaiserzeit promoviert. 1955 legte er sein erstes Meisterwerk vor: ''Die Auflösung der Weimarer Republik'', eine Studie zum Problem des Machtzerfalls in der Demokratie. Mit dieser Habilitationsschrift erwarb er die Lehrbefähigung für Politikwissenschaft und Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin. Die strukturelle Analyse der Politikwissenschaft verband er mit den Methoden der historischen Forschung und konnte so zeigen, wie sich der demokratische Minimalkonsens schrittweise verflüchtigte und zu einem Machtvakuum führte, in das die Nationalsozialisten hatten eindringen können. Schon für dieses Werk, das jede monokausale Entstehungserzählung des „Dritten Reiches“ zurückwies, erntete er großen Beifall. Golo Mann charakterisierte diese Meisterleistung mit der Bemerkung: Aus dem Stand habe ein junger Historiker nicht nur eine in jeder Hinsicht überzeugende Verendensgeschichte von Weimar vorgelegt, sondern zugleich eine Fallstudie zu der Frage, wie und woran Demokratien krank werden und zugrunde gehen können.
Bracher hatte fünf Jahre zuvor seine groß angelegte Geschichte über Die nationalsozialistische Machtergreifung (1950) veröffentlicht, in der er die Stufen der Machtusurpation der Nationalsozialisten erläutert. Es folgte ein ebenfalls bis heute unerreichtes Opus magnum: Die deutsche Diktatur (1959). Alle diese Meisterwerke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und immer wieder aufgelegt. Daneben publizierte Bracher regelmäßig Essays zur Zeitgeschichte, in denen er sich mit den aktuellen Bedrohungen von Freiheit und Demokratie auseinandersetzte. Dort entwickelte er auch seine Totalitarismustheorie, die auf die Gemeinsamkeiten totalitärer Systeme abzielt, ohne deren Unterschiede auszublenden. Brachers Totalitarismuskonzept ist das Widerlager seines Verständnisses von der „schwierigen Freiheit“, die sich immer wieder totalitärer Versuchungen perfektionistischer und simplizistischer Art erwehren muss.
Das bis 2001 mit zahlreichen Büchern in die Tiefe und Breite vorangetriebene Œuvre Brachers förderte das Ansehen des Faches Politikwissenschaften. In zahlreichen wissenschaftlichen Gremien und Vereinigungen brachte er seine Erkenntnisse und Erfahrungen ein. Er wurde Herausgeber politikwissenschaftlicher und zeithistorischer Zeitschriften und Publikationsreihen. Er war an der Gründung des Institutes für Zeitgeschichte in München beteiligt wie beim Aufbau des Hauses der Geschichte in Bonn.
Brachers internationale Geltung dokumentiert sich durch zahlreiche Gastvorlesungen, zum Beispiel in Stanford, Princeton, Oxford, Tel Aviv, Washington D. C., Seattle sowie in Schweden und Japan, durch viele Ehrendoktorate und Mitgliedschaften in wissenschaftlichen Akademien und durch die Verleihung des Ordens Pour le Mérite. Trotz mehrerer ehrenvoller Rufe, zum Beispiel nach Harvard, blieb Bracher seinem Bonner Lehrstuhl treu. Entscheidend war dabei für ihn die günstige Arbeitsatmosphäre in der damaligen Bundeshauptstadt mit ihrem Netzwerk zwischen Wissenschaft und politischer Praxis. Bracher wurde ein oft gebetener Gesprächspartner Bonner Spitzenpolitiker und -publizisten, darunter der Bundeskanzler Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl, die über Parteigrenzen hinweg seine intellektuelle Souveränität und unabhängige Urteilskraft schätzten. Dass Brachers Bücher weit über sein Fach hinaus eine starke Resonanz erfuhren, verdanken sie keineswegs allein der großen Spannbreite ihrer Themen, sondern auch der komplexen, gleichwohl transparenten Darstellung. Bracher war ein Verächter jeder monokausalen Betrachtungsweise; die Mehrdimensionalität seines thematischen Zugriffs sicherte ihm eine Wirklichkeitsnähe, wie sie in wissenschaftlichen Schriften selten ist.
Karl Dietrich Bracher beherrschte die große wie die kleine Form. Es gelang ihm immer, seine Leserschaft durch neue und überraschende Gedanken, Verbindungen und Tatsachenverknüpfungen zu fesseln. Dabei entwickelte er einen unverwechselbaren Stil, mit dem er die Komplexität seiner Erörterungen in ein ungewöhnlich hohes Maß an Verständlichkeit umsetzte. Diese sprachliche Brillanz hat dafür gesorgt, dass er sowohl dem PEN als auch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zugewählt wurde.
In zahlreichen Nachrufen wurde zu Recht auf den Anteil seiner Frau Dorothee am Gesamtwerk Karl Dietrich Brachers hingewiesen. Sie hat nicht nur dessen Zustandekommen gefördert, sondern auch die antitotalitäre Grundausrichtung mitbestimmt. Auch das für Bracher wichtige Thema des Widerstandes gegen das totalitäre NS-Regime erklärt sich aus der Herkunftsfamilie seiner Frau. Die Familie Schleicher gehörte zum innersten Kern des Widerstandes gegen Hitler. Der Vater wurde von den Nazis ermordet, ihr Onkel Dietrich Bonhoeffer wurde zum Märtyrer des christlichen Widerstands gegen die Diktatur. Mit großer Zivilcourage hat Dorothee Schleicher ihren, vom Regime bedrohten und eingekerkerten Angehörigen beigestanden.
Karl Dietrich Bracher gehörte zu den herausragenden Intellektuellen unseres Landes. Sein Œuvre hat die vielfältigen Ursachen für die katastrophalen Entwicklungen der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schonungslos offengelegt und so die Politik dazu bewogen, Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Deutschland hat aus seiner Geschichte gelernt. Wenn unser Land in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts weltweit über ein hohes Ansehen verfügt und sich den aktuellen Herausforderungen mit gelassenem Selbstbewusstsein stellen kann, so ist das auch Gelehrten wie Karl Dietrich Bracher zu verdanken, die eine kritische Vernunft als Voraussetzung dazu verstehen, die demokratische Substanz auch für die Zukunft zu bewahren.
Der Tod von Karl Dietrich Bracher hat der Politischen Meinung, ihren Herausgebern und ihrer Redaktion einen wichtigen Ratgeber genommen. Er hat in unserer Zeitschrift viele Beiträge publiziert. Der erste erschien im Jahre 1957 und beschäftigte sich mit dem Zerfall der Weimarer Republik. Er hat jahrzehntelang als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der Politischen Meinung immer hochwillkommene Hinweise auf Autoren und Themen gegeben. Wir werden ihn und seinen Rat schmerzlich vermissen.
Wolfgang Bergsdorf, 2000 bis 2007 Präsident der Universität Erfurt, 2008 bis 2015 Präsident der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaften, Mitherausgeber dieser Zeitschrift.