Gleich werde ich den Motorroller aus der Garage holen und in den Ort fahren, um Brötchen zu holen. Vor der Bäckerei wird mich das mittlerweile bekannte Bild erwarten. Die Kunden stehen in einer Schlange, die über den Bürgersteig bis zum Nachbarhaus reicht, und sie halten großzügigen Abstand. Die Bäckerei ist umgebaut; man geht wie gewohnt hinein, aber hinaus geht es durch den kleinen Wintergarten, der zuvor als Miniaturbistro gedient hat. Über der Theke sind Plexiglasschilde mit schmalen Durchreichen hochgezogen. Am Boden markieren rote Klebestreifen, inzwischen ziemlich abgeschabt, wie man sich zu bewegen und wo genau man zu stehen hat. Ich beobachte verschiedene Interpretationen dieses Reglements. Manche Kunden trauen sich nicht, den Menschen rechts an der Theke zu überholen, wenn der Platz links frei geworden ist, womöglich aus Angst, den Mindestabstand zu unterschreiten. Die Bäckereiverkäuferinnen geben dann mündliche Anweisungen oder lotsen die Kunden mit Handzeichen an den freien Platz. Sie tragen Plexiglasvisiere, die vor ihren Gesichtern schweben, die Kunden samt und sonders Mund- und Nasenschutz. Die Variantenbreite ist eher gering, geschätzt achtzig Prozent benutzen die quadratischen, quer gefältelten Masken aus Papier oder Stoff. Nur eine Minderheit trägt die professionellen FFP2-Masken oder hat sich einen Schal ums Gesicht gewickelt. Ich selbst habe mit der Sturmhaube, die ich unter dem Sturzhelm trage und jetzt nicht abziehe, ein Alleinstellungsmerkmal, von dem ich nicht genau weiß, ob es mir peinlich ist.
Ein Bäckereibesuch im Mai 2020. Ein winziges, ein beinahe verschwindend kleines Beispiel für die Masse der Veränderungen, die in kürzester Zeit, oft von einem Tag auf den anderen, über unseren Alltag gekommen sind. Die Pandemie ist omnipräsent, kaum ein Lebensbereich, der nicht betroffen ist. Ich durfte meine Frau eine Woche lang nicht im Krankenhaus besuchen. Stattdessen spielten wir die Balkonszene aus Romeo und Julia in einer leicht absurden Variante nach, meine Frau am Fenster im sechsten Stock des Krankenhauses, ich selbst inmitten einer Baustelle davor, beide unsere Smartphones ans Ohr gedrückt.
Mittlerweile machen wir wieder unsere täglichen Spaziergänge mit den Hunden. Wenn uns andere Hundehalter begegnen, stupsen die Tiere wie üblich einander die Schnauzen zwischen die Beine, während wir Menschen uns an den jeweiligen Rand des Spazierweges drücken und über die distanzlosen Hunde hinweg etwas distanzierte Konversation machen.
Um acht Uhr abends treffen sich meine Frau und ich vor dem Fernseher. Es hat etwas vom täglichen Gottesdienst; schließlich geht es nicht nur um Fakten und Zahlen, sondern auch um Glaubensbekundungen und um die Erfahrung, dass wir uns in einer Gemeinschaft von Gleichen befinden. Wir sind zwar nicht vor Gott gleich, jedenfalls ist davon nicht die Rede, aber dafür gibt es immer eine Fülle neuer Beweise dafür, dass und wie wir alle von den Folgen der Pandemie betroffen sind. Und stets wird unser aller gemeinsame Hoffnung artikuliert, die Hoffnung auf die aktuelle Form der Erlösung, mag sie „Lockerung“ oder, in ihrer höchsten Stufe, „Impfstoff“ heißen.
Dabei bilden wir eine vergleichsweise kleine und überschaubare Gemeinschaft, auch wenn sie achtzig Millionen umfasst. Denn von der großen Welt um uns herum erfahren wir um acht Uhr abends nur noch sehr wenig, auch wenn es dort schaurig zugeht. Dafür ist kein Platz mehr in der Nachrichtensendung, so beschäftigt sind wir mit unserem kleinen Leben unter der Kuratel des Virus.
Mit all dem erzähle ich niemandem etwas Neues. Aber ich brauche diese wenig originelle Ouvertüre, um eine spezielle Frage vorzubereiten, die mich seit Wochen bewegt. Im Januar habe ich einen Roman zu schreiben begonnen, dessen Thema mir schon seit einiger Zeit durch den Kopf geht. Hauptfigur soll ein Mann Anfang sechzig sein, dessen Berufsleben (erfolgreich, aber unspektakulär) zu Ende geht und der nicht weiß, wie er den letzten Abschnitt seines Lebens gestalten soll. Er fühlt sich immer noch so, wie er sich mit dreißig gefühlt hat; mit Vorstellungen wie „Reife“, „Erfahrung“, „Gelassenheit des Alters“ et cetera kann er nichts anfangen. Ihm fehlt das Konzept, das Bild für die kommenden Jahre. Geradezu kopflos stolpert er in seine Sechzigerjahre, so wie er mit vierzehn ins Erwachsensein gestolpert ist. Nur fehlt ihm jetzt, was ihn damals tröstete, als mit vierzehn und auch noch mit dreißig der Horizont des Lebens noch nicht im Blick und nur der Himmel die Grenze war. Damals half die Vorstellung von der eigenen Unsterblichkeit über die Verwirrung; jetzt trübt die Gewissheit der Sterblichkeit zusätzlich die Gegenwart. Es gibt noch ein weiteres, die Handlung vorantreibendes Ereignis im Leben des besagten Mannes, von dem ich hier nichts verraten will. Nur so viel: Es passiert ihm etwas Skurriles und Rätselhaftes; und es ist nicht zuletzt dieses Handlungselement, das mich in den ersten Wochen der Arbeit immer wieder zu der Geschichte hinzog und dafür sorgte, dass ich mit dem Schreiben einigermaßen gut vorankam, obwohl ich mich gleichzeitig mit der Redaktion meines dritten, ziemlich umfangreichen Kinderbuches befassen musste.
Und jetzt wird es problematisch. Ich hatte die Handlung des Romans in keiner bestimmten Zeit angesiedelt, er sollte in einer nicht genauer bestimmten Gegenwart spielen sowie in der Vergangenheit des Protagonisten. Ich wollte, wenn ich das so sagen darf, ein sozialpsychologisches Phänomen schildern, und dazu brauchte es keine dominante Tagesaktualität. Doch dann kam Corona. Am Freitag, dem 13. März, wurde der allgemeine Lockdown angekündigt, kurz darauf trat er in Kraft. Das öffentliche Leben wurde umgebaut, wenn nicht gar abgestellt, Menschen wurden voneinander separiert. Nähe, bislang überwiegend eine soziale Metapher für Solidarität, Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft, verwandelte sich in eine Metapher für Ansteckung, Krankheit und Tod. Gleichzeitig wurde die Differenzierung und Individualisierung der Menschen, ein Zeichen unserer Zeit, geradezu aufgehoben. Nicht mehr alle gegen alle, sondern alle gegen Corona. Als gäbe es wieder den einen Feind, die klare Trennung zwischen gut und böse, richtig und falsch. Dieser Zustand herrscht jetzt, da ich diesen Text schreibe, seit fast elf Wochen; und wenngleich permanent von sogenannten Lockerungen der Corona-Maßnahmen die Rede ist, steht doch bereits fest, dass sich die akuten Veränderungen von Staat und Gesellschaft nicht allesamt werden rückgängig machen lassen. Und nun die Frage: Was bedeutet das für mich? Natürlich auch den schmerzlichen Rückgang meiner Einkünfte durch den Ausfall praktisch sämtlicher Veranstaltungen. Aber was bedeutet es für meinen Roman? Was kann, was muss ich jetzt tun, wenn ich weiter daran schreiben will?
Ich sehe drei Möglichkeiten. Erstens: Ich siedele den Text ausdrücklich in der Vor-Corona-Zeit an. Das enthebt mich jeder Rücksicht auf die dramatische Veränderung der Zeitläufte. Doch ich weiß: Dabei käme ich mir vor, als würde ich Drückebergerei betreiben. Mehr noch, als würde ich ein Phänomen, das wie kaum ein anderes zuvor in den letzten Jahrzehnten alle Menschen existenziell betrifft, aus meiner Darstellung ausklammern und sie damit unvollständig, ja defizient machen.
Zweitens: Ich lasse den Roman 2022 oder 2023 spielen, das heißt: nach Entdeckung und Verbreitung eines Impfstoffes. Damit hätte ich die Freiheit, eine womöglich in wesentlichen Teilen veränderte Gesellschaft zu schildern, doch würde ich damit (nach meinem Empfinden) zumindest teilweise ins Genre der Science-Fiction-Literatur wechseln, in dem ich mich womöglich recht unwohl fühlen könnte. Ich sehe mich beim Schreiben schon von der dauernden Sorge verfolgt, ob meine Konstruktion einer Nach-Corona-Gesellschaft der Wirklichkeit wird standhalten können. So würde ich womöglich bei der Sorge um die „passenden“ Umstände meine Hauptfigur verlieren.
Drittens: Ich lasse den Roman exakt jetzt spielen. Ich stülpe meiner Figur nicht nur ihre individuelle Lebenskrise, sondern auch die durch Corona hervorgerufene allgemeine Weltund Bewusstseinskrise über den Kopf. Das hieße natürlich auch: Ich nehme billigend in Kauf, meinen Text zumindest partiell von der Pandemie regieren zu lassen, von ihren Launen, ihren Wendungen und ihren Katastrophen.
Kann man verstehen, wie sehr mich diese Frage umtreibt? Die letzten 75 Jahre haben für uns Deutsche mit Ausnahme des Zusammenbruchs der DDR 1989/90 wohl keinen dermaßen tiefen Einschnitt in die Alltagsroutinen gebracht. Unsere zeitgenössische Literatur konnte wesentlich leichter in einem „Irgendwann“ spielen, sich leichter von den politischen und sozialen Umständen freimachen oder fernhalten, als sie das in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts konnte, als Krieg und Gewaltherrschaft alles tingierten. Jetzt aber ist eine Zeit heraufgezogen, in denen Menschen sich nicht einmal die Hand geben dürfen. Jobs gehen zum Teufel, viel geliebte Selbstverständlichkeiten wie Fernreise und Verbrennungsmotor geraten auf den Index – und wie verliebt man sich eigentlich unter beziehungsweise nach Corona?
Ich weiß wirklich nicht, was aus meinem Text werden soll. Ich werde ihn gleich wieder aufrufen und dann womöglich, wie so oft in den letzten Tagen, ein oder zwei Stunden ratlos davor sitzen. Nur eines weiß ich: Der Roman trägt den Arbeitstitel „Nachspielzeit“. Und bei dem wird es bleiben. Der passt, so oder so.
Der Beitrag ist Teil einer Reihe, die im neuen Blog der Politischen Meinung erscheint. Unter dem Motto „Komm! ins Offene, Freund!“ (Friedrich Hölderlin) werden dort Texte zu lesen und zu hören sein, in denen namhafte Schriftstellerinnen und Schriftsteller ihre Erfahrungen und Perspektiven zur COVID-19-Pandemie reflektieren.
Auf seiner Website veröffentlicht Burkhard Spinnen seit Mitte April 2020 regelmäßig an jedem Montag einen „Corona-Brief“, in dem er verschiedene Phänomene der Pandemie in den Blick nimmt (www.burkhardspinnen.de).
Burkhard Spinnen, 1956 in Mönchengladbach, freier Schriftsteller, lebt in Münster.