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Irritationen. Sprachlosigkeit

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Mittwoch. Angenommen, nachts sind wirklich alle Katzen grau, alle äußerlichen Unterschiede also irrelevant, weil unkenntlich, wieso macht die Nacht deine Transformation, wieso macht deine Anwesenheit seine Abwesenheit derart sichtbar? Bis zu den Spätnachrichten war alles in Ordnung.

 

Freitag. Es sei gewesen, habe ich heute in anderem Zusammenhang gelesen, als habe jemand in einem dunklen Raum die letzte Kerze ausgeblasen. Gemeint war die Einstellung der letzten demokratischen Zeitung 1943. Die Redakteure wurden in den Krieg geschickt oder zu Naziblättern, wo sie Regimegetreues dahinschmieren, Geschrei schreiben mussten. Eigenartigerweise fühlt es sich auch jetzt an, als habe jemand die letzte Kerze gelöscht. Leise. Zu leise. Warum diese eine Zeitung erst dermaßen spät verboten wurde? Lag daran, heißt es, dass Goebbels die gleichgeschaltete Sprache aller anderen Blätter langweilte. Wie, frage ich mich, schüttle und winde mich in unserem Bett, klingt Widerstand? Und Subversion?

 

Samstag. Der Abend zog sich, wir wussten nichts zu reden, das Essen am anderen Ende der Stadt (Flucht aus unserem Viertel) war allenfalls passabel. Diese Nacht ist nicht grau. Sie ist blauschwarz wie ein Meeresgraben. Blauschwarz wie die Tinte, mit der ich dies schreibe. Blauschwarz wie der Stoff deines Anzugs, den du vor Gericht getragen hast. Bei Nacht werden die Konturen dieser Szene schärfer, die Begriffe klarer. Unterlassene Hilfeleistung. Und die Fragen werden gravierender, wie alles bei Nacht bedeutsamer, monströser wird. Auch du. Wir sind nicht in der Lage, die Dunkelheit zu lesen, hat Maggie Nelson geschrieben. Wir können sie nicht lesen. Es ist eine Form des Wahnsinns – wenn auch eine geläufige –, dass wir es versuchen. Fragen, die ich dir gestellt habe. Fahrige Antworten, die du erlogen hast. Worüber man nicht sprechen kann, davon muss man schweigen. Aber Wittgenstein hat anderes gemeint, hörst Du? Ethik. Ästhetik. Religion. Nicht die Ausflucht. Nicht die Feigheit. Du warst nicht im Schock, als du an jenem Abend hier ankamst. Du warst ganz und gar bei dir, als du unsere Haustür geöffnet hast, die Tür zu diesem schäbigen Haus, als das du unseres bezeichnest, weil du findest, wir hätten ein besseres verdient. Du hättest Besseres verdient. Eine Polizistin hat mir erklärt, was geschehen ist. Und warum sie dich nach Hause brachte.

 

Sonntag. Sozialkritisch der „Tatort“. Alles wie immer um zwanzig Uhr fünfzehn, wir sitzen wie Millionen bundesdeutscher Paare auf der Couch. Du hast uns Brote geschmiert. Wie immer. Du kochst auch gern, sorgst für unsere Versorgung. Und jeden Tag hast du ein Brot für einen deiner Schüler in der Tasche, weil immer einer Hunger hat und keiner ihnen Frühstück macht. Brote schmieren oder kaufen in Fernsehserien verdruckste Ehefrauen und energische Sekretärinnen. Ich bin nicht verdruckst, nicht energisch. Ich bin benommen. Wie betäubt. Hellwach. Immer noch läuft sie mir nach: die letzte Kerze. Das kalte Wachs, zu dem wir beide erstarrt sind. Alle Kommissare kaputt. Wracks. Verhaltensauffällig wie die Mörder und Schläger, die sie suchen. Klischee, du Freund und Helfer, so zeichnen und wollen wir dich. Politisch unkorrekt und damit wieder korrekt. Angemessen aufmerksam. Aufgeklärt wachsam. Unser Horizont so begrenzt. Während der Ausstrahlung, natürlich, ein Bier und im Internet schon Tausende Kommentare. Du siehst nicht hin. Nicht auf den Bildschirm. Nicht ins Internet. Nicht in die Welt. Du hattest deinen Tatort. Der Paragraph zur unterlassenen Hilfeleistung heißt 323c und steht im Strafgesetzbuch. Er soll, sagte der Richter, ein Mindestmaß an Solidarpflichten sichern. Du isst ein Käsebrot.

 

Montag. Im Schlaf zitterst du, und ich liege wach im monochromen Silber des Zimmers, das Schlafzimmer heißt, aber seit jenem Abend für mich keines mehr ist, da ich dort nicht mehr schlafen kann, überhaupt nicht mehr, seit du mit dem blutigen Abdruck einer fremden Hand auf deinem hellblauen Baumwollhemd im Flur standest: Siegel des Totschlägers, der dich aus seinem Fluchtweg geschubst hat, zu dessen Komplizen du dich gemacht hast. Ich schlafe nicht, weil ich nicht weiß, was mit dieser Kerze ist. Ich finde die Streichhölzer nicht mehr, finde dich nicht in der grellen Dunkelheit, die du über uns geworfen hast. Heute gab es eine Mahnwache und den Gedenkgottesdienst, über den wir vorher und nachher nicht gesprochen haben. Wir saßen ganz hinten in der Kirche, die Fernsehkameras und Fotografen waren ganz vorne; wir gehen sonst nie dorthin, haben mit Gott nichts am Hut. Auch jetzt nur, weil dein Anwalt meinte … Die anderen Leute so wenig kirchenvertraut wie wir. Wir kannten keinen. Und keiner wusste von der Sache. Nur der Priester. Kam später zu dir und schüttelte dir wortlos die Hand. Seine Solidarpflicht: Vergebung. Oder wusste er am Ende gar nicht, wer du bist? Hätte er dir die Hand geschüttelt, wenn er es gewusst hätte? Weißt du überhaupt noch, wer du bist, zitternd im Schlaf? Wie lange wird es dauern, bis Gerüchte die Runde machen? Was wirst du antworten, wenn dich einer deiner Schüler fragt? Wird es überhaupt jemand ins Wort bringen?

 

Dienstag. Wenn wir die Probleme der Welt verstehen wollen, habe ich gerade gelesen, müssen wir unseren Blick über ein schuldiges Individuum hinaus auf das System richten, so sehr unser Instinkt danach strebt, erst einmal einen Schuldigen zu suchen. Nein, falsch: das System suchen! Also die miteinander in Wechselwirkung stehenden Ursachen. Nicht aufhören nachzudenken, stand (tatsächlich) da, nicht einen Übeltäter suchen, sondern Ursachen, die einander bedingen … Ich überlege, ob ich dich wecken und dir das vorlesen soll. Zu meinem oder zu deinem Trost? Brauchst du den überhaupt? Es gibt nicht den einen Übeltäter. Nicht die eine Situation. Sondern Gemengelagen. Systeme. Und auch dies: Missverständnisse. Tragödien. Unglücke. Jedoch: Wenn es den einen Übeltäter nicht gibt – gibt es auch den einen Helden, die eine Verantwortung nicht? Was bleibt für unsere Rettung? Tragödie!

 

Mittwoch. Nach dem Sport zur Belohnung eine Pizza. Meine Mutter flüsternd im nächsten Raum: eine meiner prägnantesten Erinnerungen an diese Frau. Sie, wispernd im Nebenzimmer. Am Telefon. Mit einer Nachbarin. Mit meiner Großmutter. Was haben sie einander zugeflüstert? Und der Kuckuck in der Küchenuhr klang wie der echte im Wald, den ich Jahre später zum ersten Mal, endlich, in Frankreich hörte. Warum dort? Warum konnte ich in Frankreich einen echten Kuckuck hören, aber nie in Deutschland? Warum freute es mich so sehr, den Kuckuck zu hören, und warum nur denke ich jetzt, genau jetzt, während ich viel zu spät am Abend, genau genommen in der frühen Nacht, eine Pizza in der dunklen Küche esse, an die Stimme meiner Mutter und an ihre scheußliche Kuckucksuhr? Ich kenne die Antwort. Ich will die Antwort nicht. Und ich will nicht in die Dunkelheit des Zimmers, in dem du liegst, ganz ruhig, und schlafatmest. Wie geht das? Wie kannst du? Welche Bilder siehst du, wenn du deine Augen schließt? Ich öffne eine Flasche Rotwein.

 

Freitag: Transformation? Hatte ich wirklich „Transformation“ gemeint?

 

Samstag. Seit Tagen denke ich, dass ich mein liebstes Kinderbuch zur Hand nehmen, noch einmal lesen müsste. Herzensbildung, hat meine Großmutter dazu gesagt. Wer bei diesem Buch keine Taschentücher braucht, hat kein Herz. Ich war so erleichtert, dass ich (ohne Anstrengung, ohne Starren an die Decke) Taschentücher brauchte. Oh, diese Ungerechtigkeit! Oh, diese Grausamkeit! Ich erkannte und betrauerte sie, war nicht verloren. Aber jetzt? Würde ich auch heute noch weinen, wenn ich Oliver Twist wiederläse? Werde ich? Werde ich? Werde ich? Die Leselampe brennt im aschgrauen Licht. Ich fürchte mich vor mir selbst. Fürchte mich vor Gleichgültigkeit.

 

Sonntag. Es war an einem D. vor anderthalb Monaten. Etwa um diese Zeit.

 

Montag. Der Terror ist nicht besiegt, wie alle meinen, weil sie die Nase voll haben vom Terror. Weil es reicht, nach diesen intensiven Jahren mit ihm. Der Terror holt nur Luft. Es gab ihn immer. Seit Menschengedenken. Und nie hat er die eine Ursache. Es gibt nicht den einen Bösewicht. Und nicht den einen Helden, der ihn besiegen wird. Der Terror holt nur Luft, wo, wie lange, das weiß man nicht, aber wir schieben Terrormeldungen in den Nachrichten nach hinten, denn einmal muss ja auch Schluss sein! Nicht wahr? Wir sind jetzt damit durch. Davon hatten wir genug. Alles hat seine Zeit! Aber hörst du mich? Der Terror holt nur Luft. Macht einstweilen im Kleinen weiter. Ich möchte dir das mit all meiner Liebe an den Kopf werfen, aber selbst mit Lautstärke bist du nicht erreichbar. Es war, was du nicht getan hast, auch Terror. Verbreitung von Angst und Schrecken, systematisch oder nicht. So habe ich dich nie gesehen. Als Terroristen. Habe mir nie überlegt, wie fürchterlich Nichtstun sein kann. Hörst du mich? Nein, das tust du nicht, denn dein Körper tut seit langem nichts Unerwartetes, geht in seinem Tunnel jeden Tag einfach nur einen Schritt weiter, und du fühlst keine Schuld, das sehe ich. Du fühlst Zorn, erstickt von Ermattung. Du warst nicht im Schock. Du warst müde. Es war dir egal. Sollen sie sich doch gegenseitig umbringen, hast Du gedacht. Und nichts gemacht.

 

Dienstag. Ein Gewittersturm hat sich über die Stadt gelegt, drückt auf die Dächer, ertränkt die Straßen, zerrt uns aus den Betten. Es sei klüger und erfolgversprechender, habe ich heute gehört, Menschen bei größeren Umwälzungen keine Vorschriften zu machen, sondern ihnen lediglich einen Schubs zu geben. Ein Nudge, also Schubs, sei eine einfache Maßnahme, die es Menschen leicht mache, das Richtige zu tun. Der Satz Die meisten Menschen zahlen pünktlich ihre Steuern auf dem Brief des Finanzamts sorge dafür, dass fünfzehn Prozent aller Steuerzahler plötzlich pünktlich zahlten. Ein Nudge komme ohne Vorschriften, Gesetze und Bestrafung aus, sei immer freiwillig, lasse immer die Wahl. Ein nettes Wort. Und seine Grenze?

 

Mittwoch. Wähle: Wer schubst wen in welche Wahrheit?

 

Freitag. Hinterrücks, hat der Staatsanwalt gesagt. Ein Fleischermesser mit einer zwanzig Zentimeter langen Klinge. Neun Stiche. Warum?, schreit die Mutter in den Saal. Warum?

 

Samstag. Zum Grillen bei Freunden. Das Thema wird vermieden. Aus Rücksicht auf dich. Und mich. Ich fühle mich wie das Roastbeef unter der Haube. Nicht wegen der Fragen, die vermieden werden, sondern wegen der Fragen, die offensichtlich keiner hat. Das Ende von Freundschaft lässt sich nicht formulieren. Es ist. Esse Krautsalat. Beobachte dich. Du bist nicht ausgelassen, nicht niedergeschlagen. Nicht laut, nicht leise. Du bist wie immer. Tust mir Fleisch auf. Lächelst sanft. Reichst mir Ketchup. Ich werde nicht weiterleben können mit dir.

 

Sonntag. Zwanzig Uhr fünfzehn. Du hast Sushi bestellt. Der „Tatort“ startet mit einer Leiche. Du stehst nicht auf. Du läufst nicht weg. Du siehst nicht fort. Nur aus der Verhandlung weiß ich genau, weiß ich minutiös, was an deinem Tatort, dem Bürgersteig vor der Imbissbude, geschehen ist. Ich weiß es von Frau K. aus dem zweiten Stock, die vom Fenster gegenüber alles beobachtet und die Polizei gerufen hat. Weiß es von Emil P., der losgerannt ist, um Hilfe zu holen. Weiß es von Anita S., der Freundin des Opfers, die geschrien und geweint und versucht hat, die Wunden zuzudrücken. Ich sehe, was du in diesem Moment gesehen hast. Ich höre, was du in diesem Moment gehört hast. Ich rieche, was du in diesem Moment gerochen hast. Ich fühle – denke ich und weiß nicht, ob man Gefühle denken kann –, was du in diesem Moment nicht gefühlt hast. Doch unterlassene Hilfeleistung, hat der Rechtsanwalt gesagt, sei eine schwer zu fassende Straftat. Und jenseits aller Empörung ergäbe die aufrichtige eigene Gewissensprüfung nicht immer, dass man selbst eingeschritten wäre. Dass man gehandelt hätte. Dass man geholfen hätte. In deinem Fall jedoch, sagte er … Bei deinem Erfahrungsschatz … Lehrer an einer Schule mit problematischen Kindern … Furcht werde da doch kaum eine Rolle … Ich prüfe und prüfe und prüfe mein Gewissen, denn deines kann ich nicht prüfen, während ich es unablässig tue und dabei nirgendwo ankomme, so wenig, wie du jemals ankommst, weil du im Kreis durch die Vorhölle läufst, routiniert, risikofrei, verkümmert.

 

Montag. Wenn ich dich nun mit deiner Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung alleinlasse, unterlasse ich dann Hilfe? Wann beginnt Unterlassung?

 

Dienstag. Das Verfahren dauert. Termine werden anberaumt. Wochen werden vergehen. Die Zeit wird nichts ändern. Wir werden noch stiller.

 

Donnerstag. Die Nacht laternenhell. An der Ecke ein paar Leute am Kiosk, der an jenem Abend geschlossen war. Ich sitze auf dem Stromkasten, von dem Anita S. erzählt hat, sehe die Abwesenheit ihres Freundes in der Anwesenheit verdorrter Blumensträuße und zerregneter Botschaften, die am Rand des Bürgersteigs liegen. Es ist lau. Irgendwo spielt einer Flöte, spielt und spielt gegen tonlose, gleichmütige Wände an. An einer hängt ein Bild von ihm. In meiner Tasche, ganz oben, liegt die Kerze für den Toten. Streichhölzer habe ich in der Küchenschublade gefunden. Du hast genickt, als ich meinen Koffer gepackt habe, hast genickt, als wolltest du mir beipflichten, dass es richtig sei, zu gehen. Tatsächlich stimmst du mir weder zu noch widersprichst du mir. Du sprichst nicht mehr. Stumpf nimmst du meine Entscheidung entgegen, wie du auch das Urteil des Gerichts annehmen wirst. Was soll ich denn tun?, sagt dein Blick. Du bist eine Festung aus Argumenten, stützt dich ab an einer Wand aus Kausalzusammenhängen und Systemen. Ich habe dein Gesicht in meine Hände genommen, habe dich zum Abschied geküsst und nicht mehr gekannt, hörte meine Mutter im Nebenzimmer wispern, dass ich es hätte sehen können, sehen müssen an dem Tag, als du an der Autopanne auf der Landstraße vorbeigefahren bist, während ich meinte, dass wir helfen sollten. Aber wir waren in Eile. Und bei einem so hübschen Mädchen, sagtest du, würde ein anderer halten, das dauere keine zwei Minuten. Wäre es dunkel gewesen – ich hätte klarer gesehen.

 

Husch Josten, geboren 1969 in Köln, Journalistin und Schriftstellerin, 2019 mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet.

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