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Lehren aus der Corona-­Pandemie für die Kirchen

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Ein zentrales Versprechen der Pandemiepolitik war der Schutz der Alten, schrieb der Spiegel zum Jahresende.1 Aber „nun sterben sie trotzdem“. Auch und gerade die Kirchen hätten diejenigen allein gelassen, die sie am meisten gebraucht hätten – die Pflegebedürftigen, Kranken und Sterbenden –, meinten auch kirchenverbundene Journalisten und Politikerinnen wie Christine Lieberknecht oder Heribert Prantl.2 Nach anfänglichem Widerspruch – schließlich hatten die Einrichtungen das Menschenmögliche getan, ihre Bewohnerinnen und Bewohner trotz fehlender Schutzanzüge und Tests zu schützen – schlossen sich Bischöfe an: „Ordnungspolitik, die totalitär wird, darf keine Option sein für einen demokratischen Staat. Wir dürfen Sterbende nicht wieder allein lassen“, so die niedersächsischen Bischöfe in einer ökumenischen Stellungnahme. Auch die Kirche habe sich in einer Schockstarre befunden.3 Ebenso wie sie spricht die Schriftstellerin Thea Dorn dem Staat das Recht ab, einer Tochter zu verbieten, bei ihrer sterbenden Mutter zu sein. Das sei zutiefst unmenschlich, meint die Protagonistin in ihrem Roman Trost.4 Man denkt an Kreon und Antigone.

 

Seelsorge und soziale Distanz

 

Tatsächlich nahmen viele Angehörige die Dinge selbst in die Hand. Sie machten Musik vor der Tür, zogen Körbe mit Obst an Seilen auf den Balkon, schickten Tablets und Kameras. Ehepartner zogen selbst ins Pflegeheim, Töchter holten die Mutter ins eigene Haus. So viele Ideen, Kreativität und Bereitschaft, das Risiko zu teilen! Ich bewundere das – auch wenn ich überzeugt bin, dass wir als Gesellschaft andere Lösungen hätten finden müssen. Es gab eine Fülle guter Vorschläge der Fachgesellschaften, wie bezahlte freie Betten oder einen Teilumzug in ein leerstehendes Hotel.5 Sie wurden nicht gehört. Die entscheidende Frage, wie man Menschen schützen kann, ohne sie abzuschotten, hat die Verantwortlichen während des gesamten Pandemiejahres bewegt. Denn „was nützt es, wenn Menschen überleben, aber den sozialen Tod gestorben sind?“, fragte Peter Dabrock, der frühere Vorsitzende des Deutschen Ethikrates.6 Bei vielen, die über Wochen allein auf ihrem Zimmer bleiben mussten – ohne Besuche, Begegnungen und Gemeinschaft in der vertrauten Runde –, verschlechterte sich die gesundheitliche Verfassung erheblich.

„Es gab bisher noch keine Situation, in der ich derart als Seelsorgerin gefragt war“, schreibt Pfarrerin Katharina Scholl, die im Frühjahr 2020 in einer abgeschotteten Pflegeeinrichtung als Aushilfe arbeitete: „Seit Neuestem gehören für mich auch Handmassagen bei Bettlägerigen zum pastoralen Dienst. Wenn ich Frau H. die Hände eincreme, massiere, sehe, wie sie das genießt, dann hab ich das Gefühl, als ahnte ich jetzt langsam, wie es sich anfühlt, wenn man das Evangelium in den Händen hält.“7 „Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn“, heißt es auch im Brief des Jakobus 5,14 – und damit sind wir nah dran an den Herausforderungen dieser Pandemie. Sie trifft die Kirche im Kern – bis hin zu den Sakramenten, die samt und sonders auch leiblich sind. Wie gestalten wir Gemeinschaft in sozialer Distanz? Wie feiern wir Gottesdienst, wenn wir uns nicht in Kirchen versammeln können? Immerhin konnten einige Ältere nun an den Streaming-Gottesdiensten der eigenen Gemeinde teilnehmen.

Im letzten Jahr schien es, als seien die Erfahrungen aus dreißig Jahren Hospizbewegung vergessen: Die Angst vor den letzten Tagen auf einer Intensivstation, vor Apparatemedizin und Einsamkeit im Sterben griff um sich. Das Versprechen, auch diese letzte Zeit mit anderen gestalten zu können, konnte nicht erfüllt werden; der Wunsch nach Selbstbestimmung geriet in Spannung zu den Schutzmaßnahmen für die Schwächsten. Einrichtungsleitungen und Pflegende kamen in ethische Zerreißproben. Und als ob das alles nicht genug wäre, wurde in den letzten Wochen auch noch das vom Bundesverfassungsgericht gestärkte „Recht auf assistierten Suizid“ diskutiert. Als sei mit Corona ein Schutzwall gebrochen, war plötzlich für alle spürbar, dass das Leben nicht garantiert schmerzfrei, das Wachstum nicht garantiert, nicht alles planbar ist. Die Erschütterung, die damit verbunden war, hat viele herausgefordert. Trost in der Trauer ist gefragt – nicht nur für Thea Dorn, die auch als Nicht-Gläubige den Finger in die offene Wunde legt.

 

Keine starken Impulsgeber

 

Das Virus habe endgültig deutlich gemacht, wie nutzlos die Kirchen mittlerweile geworden seien, meinte Gerhard Wegner, ehemals Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche Deutschlands, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.8 Religiös Hilfreiches zur Bewältigung der Krise sei von ihnen nicht zu hören gewesen. Gleich zu Beginn der Pandemie hätten es die Bischöfe auf den Punkt gebracht: Gott habe mit COVID-19 nichts zu tun – und damit hätten sich die Kirchen selbst aus den Debatten geschossen. Neben theologischen Auseinandersetzungen gab es aber symbolische Akte. Ich denke an den leeren Petersplatz, auf dem der Papst auf dem Höhepunkt der Krise vor dem historischen Pestkreuz betete. Leer – und zugleich gefüllt mit Sehnsucht und Leid. „Könnte es sein, dass in der erlittenen Abwesenheit Gottes neu aufgeht, wie nahe er uns ist – aber nicht als ‚Stück‘ Welt, nicht als Gegenstand unserer Erfahrung oder bloß unseres Wünschens“, fragte Gotthard Fuchs: „Nicht als Nothelfer, sondern als das Gegenüber, das unsere Leere teilt?“9

Unsere Leere, aber auch unsere Hilflosigkeit und Ratlosigkeit. Denn Erklärungen gab es ja durchaus – nicht nur von Bischöfen. Erklärungen, die die Wachstumsgesellschaft herausfordern und unseren Umgang mit Globalisierung und Klimawandel, mit der Zerstörung der Lebenswelt thematisieren. Es geht um Sozialethik, aber auch um Bewältigung. Allerdings haben die Kirchen auch hier kein Monopol mehr: Längst ist ja, wenn es um die Auseinandersetzung mit Sterblichkeit geht, eine Vielzahl von Texten, Ritualen und Initiativen aus der Zivilgesellschaft neben die kirchlichen Traditionen getreten. Die Kirchen sind nicht mehr die starken Impulsgeber, die Prantl und Lieberknecht in ihnen sehen – umso mehr kommt es darauf an, dass sie die ausgesprochenen und unausgesprochenen Fragen wahrnehmen und aufnehmen.

Ich denke an die Trauer um die Toten, die lange Zeit nur in der Statistik auftauchten: Während an der Copacabana Luftballons in den Himmel stiegen und der New Yorker Namen und Lebensgeschichten druckte, gab es in Deutschland lange Zeit keine Initiative für öffentliche Trauer – bis Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit seinem Vorschlag an die Öffentlichkeit ging. Und wieder war es die Zivilgesellschaft, die den Corona-Toten ein Gesicht gab und in Köln oder Berlin jeden Freitagabend Kerzen auf Rathaustreppen oder Plätzen anzündete.10 Es hat ein paar Wochen gedauert, bis die Kirchen den Bundespräsidenten unterstützten und unter dem Hashtag #lichtfenster gemeinsam aufriefen, Kerzen in die Fenster zu stellen.

 

„Care-Arbeit ist systemrelevant“

 

Nah bei den Menschen sein, das heißt auch, das Ohr am Puls der Zivilgesellschaft zu haben. Nah dran zu sein an der neuen Wahrnehmung unserer Sterblichkeit, der Achtsamkeit für die Verwundbaren, der Sorge um die Zukunft der Kinder – all den Themen, in denen das Herzblut Jesu fließt. Kann es sein, dass die Kirchen sich selbst daran hindern? Mit überalterten, sozialpatriarchalen Bildern vom Alter, von Menschen mit Behinderung oder von Familien: viel Fürsorge, wenig Empowerment? Auch bei den Kindern aus sozial benachteiligten Familien hat Corona zu massiven Ausgrenzungen geführt. Frauen wurden mit der Vereinbarkeit von Beruf und Sorgearbeit bis an die Grenzen gefordert, pflegende Angehörige allein gelassen, Alleinerziehende sahen ihre Unterstützungsstrukturen brechen. „Das alles hat in bisher kaum gekannter Schärfe gezeigt, dass nicht nur Wirtschaftszweige und Banken ‚systemrelevant‘ sind, sondern auch ‚Care-Arbeit‘“, schreibt Beate Hofmann, die Bischöfin von Kurhessen-Waldeck.11 Das Geflecht, das die Gemeinschaft in Familie und Nachbarschaft zusammenhält, ist – ganz im Sinne der Subsidiarität – auf die praktische und seelsorgliche Unterstützung und die politische Solidarität der Kirchen angewiesen.

„Der Sturm legt unsere Verwundbarkeit bloß und deckt jene falschen und unnötigen Gewissheiten auf, auf die wir unsere Projekte, Gewohnheiten und Prioritäten gebaut haben“, so Papst Franziskus.12 „Er macht sichtbar, wie wir die Dinge vernachlässigt haben, die unsere Gemeinschaft nähren, erhalten und stark machen.“ Corona legt aber zugleich offen, wie viel Phantasie und Energie in den Gemeinden verborgen liegt. Die Gottesdienste und Krippenwege auf Straßen und Plätzen, die Telefonandachten und Einkaufshilfen zeigen ein neues Bild von Kirche – mit dem Volk Gottes unterwegs zu den Häusern. „Dich schickt der Himmel“ heißt eines der Projekte, in denen die Kirchen ökumenisch und im Verbund mit Vereinen und Kommunen Einkaufshilfen organisierten. Auch die kleinen Andachten, die in den „Sonntagstüten“ lagen, haben viele angesprochen – nicht nur Kirchenmitglieder.

 

Cornelia Coenen-Marx, geboren 1952 in Rheydt (Mönchengladbach), Pastorin und Autorin, 2004 bis 2015 Oberkirchenrätin der Evangelischen Kirche in Deutschland, seit 2015 Geschäftsführerin der Agentur „Seele und Sorge – Impulse, Workshops, Beratung“, Garbsen-Osterwald.

 

1 Stefan Kuzmany: „Das gebrochene Versprechen“, in: Der Spiegel, Heft 53, 18.12.2020.

2 MDR Thüringen: Lieberknecht wirft Kirchen Versagen in Corona-Krise vor, 19.05.2020, www.mdr.de/thueringen/mitte-west-thueringen/erfurt/lieberknecht-kritisiert-kirchen-100.html [letzter Zugriff: 12.02.2021]. Heribert Prantl: „Was war mit Glaube, Liebe, Hoffnung? Kirchen in der Coronakrise“, in: Süddeutsche Zeitung, 07.08.2020, www.sueddeutsche.de/politik/kirche-corona-kolumne-prantl-1.4992658?reduced=true [letzter Zugriff: 12.02.2021].

3 Hannoversche Allgemeine: Bischöfe warnen vor möglichem Lockdown: Wir dürfen Sterbende nicht allein lassen, 26.10.2020, www.haz.de/Nachrichten/Politik/Niedersachsen/NiedersachsensKirchen-wollen-auch-in-Corona-Zeiten-Sterbende-begleiten [letzter Zugriff: 12.02.2021].

4 Thea Dorn: Trost. Briefe an Max, München 2021.

5 Jasper von Altenbockum: „Wie viel Lockdown muss es sein?“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.02.2021, S. 3.

6 So Peter Dabrock in: Der Spiegel, Heft 34, 17.08.2020, S. 28, www.spiegel.de/panorama/ gesellschaft/corona-und-pflegeheime-wie-kann-man-die-alten-schuetzen-ohne-sie-abzuschottena-00000000-0002-0001-0000-000172492986 [letzter Zugriff: 12.02.2021].

7 Katharina Scholl: „Vom Talar in den Pflegekittel. Als Pfarrerin im Altenheim zur Zeit eines Corona-Ausbruchs“, in: zeitzeichen, 2020, https://zeitzeichen.net/node/8670 [letzter Zugriff: 12.02.2021].

8 Gerhard Wegner: „Jeder stirbt  für  sich allein“,  in:  Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.01.2021, S. 12.

9 Gotthard Fuchs: „Hochfahren. Mystik im Alltag“, in: Christ in der Gegenwart, Nr. 20, 17.05.2020, S. 5.

10 Westfalen-Blatt: Corona-Toten ein Gesicht geben. Bielefelder Flaneure initiieren Gedenkort auf dem Klosterplatz, 29.12.2020, www.westfalen-blatt.de/OWL/Bielefeld/Bielefeld/4337906Bielefelder-Flaneure-initiieren-Gedenkort-auf-dem-Klosterplatz-Corona-Toten-ein-Gesicht-geben [letzter Zugriff: 12.02.2021].

11 Siehe Beate Hofmann in:  „Theologische  Perspektiven  auf  die  Corona-Erfahrung“,  Septemberbrief an die Gemeinden, 2020, www.ekkw.de/aktuell/meldung/aktuell_31090.htm [letzter Zugriff: 12.02.2021].

12 Papst Franziskus in seiner besonderen Andacht in der Zeit der Epidemie, Petersplatz, 27.03.2020, www.vatican.va/content/francesco/de/homilies/2020/documents/papa-francesco_20200327_ omelia-epidemia.html [letzter Zugriff: 12.02.2021].

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