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Die langen Geburtswehen der 68er in der Bundesrepublik und den USA

Michael Frey: Vor Achtundsechzig. Der Kalte Krieg und die Neue Linke in der Bundesrepublik und in den USA, Wallstein Verlag, Göttingen 2020, 471 Seiten, 42,00 Euro.

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Zu den „blinden Flecken der 68er-Bewegung“ – so der Titel einer Studie des RAF- und 68er-Chronisten Wolfgang Kraushaar – gehört ihre Vorgeschichte. Auf sie muss blicken, wer „die erste globale Rebellion“ (Kraushaar) verstehen will. Eine der frühen und widerständigsten Deutungen in Deutschland ist die „einer studentischen Bewegung“ (S. 23), die sich gegen die Heuchelei ihrer NS-belasteten (Groß-)Eltern und das piefig-miefige Klima der frühen Bundesrepublik aufgelehnt hat. Diese Lesart der 68er geht nicht komplett fehl, ist jedoch missverständlich: einerseits, weil sich die Erzählung einer homogenen studentischen Protestgeneration schon vor einiger Zeit als „nachträgliche publizistische Konstruktion“ (S. 23) entpuppte; andererseits, weil die Nabelschau Parallelen zu anderen Gesellschaften kaschierte: Nicht nur Deutschland hatte „sein 68“. Es gab stattdessen über fünfzig – in Europa, Asien, Afrika, Nord- und Lateinamerika! Der lange Schatten des Nationalsozialismus kann darum allenfalls ein Faktor sein, um das 68er-Geschehen zu begreifen. Doch warum gab es so viele parallele Entwicklungen? Sind jeweils nationale (zufällig gleichzeitig ablaufende) politische Disruptionen, Generationenkonflikte, die „stille Revolution“ oder „Ansteckungseffekte“ verantwortlich zu machen?

Michael Freys an der Friedrich-Schiller-Universität Jena entstandene Dissertationsschrift versteht sich als „Beitrag zur Frage nach der Entstehung dieser parallelen Protestzusammenhänge am Beispiel der amerikanischen und der bundesdeutschen Protestbewegungen“ (S. 11). Dabei weist er sowohl die Deutung einer „Eruption“ (der Titel Vor Achtundsechzig deutet die lange Vorgeschichte an) als auch die einer rein kulturell bedingten Parallelität zurück.

 

Tonarten des Protestsounds

 

Ausgangspunkt seiner Parallelgeschichte ist die Annahme einer nachhaltigen Sozialisation der Gesellschaft durch den Kalten Krieg, dessen Frühphase von „antikommunistischem Ausgrenzungsmechanismen“ geprägt war (S. 75) – McCarthy lässt grüßen. Linke, die sich „gegen Stalinisten und Kalte Krieger“ (S. 78) gleichermaßen wendeten, hatten es schwer: Zwischentöne bleiben ungehört oder ernten Argwohn, wo Freund-Feind-Denken grassiert. Einen Ausweg habe die „Entstehung der Dritten Welt“ (S. 80) zwischen 1954 und 1956 geboten. Die Blockmentalität innerhalb des Westens erodierte. Bestrebungen eines „Third Camp“ beziehungsweise eines „Dritten Weges“ seien als Frühtriebe einer reifenden Neuen Linken zu begreifen.

Bei Freys Suche nach Parallelen zwischen Deutschland und den USA geraten jedoch die Unterschiede manchmal unter die Räder: Zeigte sich etwa die US-Bewegung mit ihrem Fokus auf eine pazifistische Alternative zu Warschauer-Pakt- und NATO-Staaten stark von der internationalen Politik getrieben, „war der bundesdeutsche ‚Dritte Weg‘ zunächst nichts anderes als eine Form linkssozialistischer Wiedervereinigungshoffnungen“ (S. 135). Dass Frey die zwei unterschiedlichen Tonarten des Protestsounds überhört, überrascht umso mehr, als er in großer historischer Tiefe schürft, beginnend bei Marx’ Deutung der französischen Militärdiktatur als „Bonapartismus“ (S. 119). Der Autor lokalisiert hier die Wurzeln des Narrativs vom Dritten Weg.

In der Inkubationszeit um die Jahrzehntewende habe sich eine „Frühe Neue Linke“ (S. 167) etabliert – ein Wust aus Verbänden, Bewegungen und Zeitschriften, deren Gemeinsamkeit wohl bloß darin bestand, dass sie kein Teil der traditionellen Linken mehr sein wollten. Exemplarisch anhand der „Achtundfünfziger-Studentenbewegung“ und der Student Peace Union skizziert Frey, wie die Reifung in Gestalt „direkter Aktionen, kreativer Protestmethoden oder zivilen Ungehorsams“ (S. 171) daherkam. Es will jedoch nicht recht zusammenpassen: Einerseits lässt der Autor den Protest der „Greensboro Four“ gegen „Rassensegregation“ (S. 168) im Frühjahr 1960 als „Erweckungsereignis der amerikanischen New Left“ (S. 167) durchgehen – andererseits schenkt er dem Thema in seiner Vor-Geschichte der „New Left“ praktisch keinerlei Aufmerksamkeit. Wenn die (atomare) Abrüstung und der Pazifismus über Jahre identitätsstiftend wirkten, warum verdichtete sich die Geschichte dann bei einem ganz anderen Thema?

Die nächste Entwicklungsetappe habe der Algerienkrieg eingeleitet – jedenfalls in Deutschland. Dabei brauchte es eine gewisse Zeit, bis die hiesige Solidarität Fahrt aufnahm: Nicht das Niederschlagen der Befreiungsbewegung, sondern erst das Votum der Franzosen, Atomwaffentests in der algerischen Wüste durchzuführen (und womöglich Deutschland dabei einzubeziehen, so die Furcht), habe hierzulande größere Reaktionen ausgelöst, zumal in der 1957 von Klaus Rainer Röhl gegründeten Zeitschrift konkret. Am Ende stand eine Neue Linke, die sich – organisatorisch vernetzt, inhaltlich radikalisiert und thematisch reorientiert – mehr und mehr auf das Dritte-Welt-Thema einschoss und der SPD selbstbewusst die Stirn bot.

 

Erste globale Revolution?

 

Was der deutschen Neuen Linken „Algerien“, war der amerikanischen New Left „Kuba“, genauer: der Umgang der Kennedy-Regierung mit dem sozialistischen Land, so Frey. Überraschend ist an diesem Verlauf weniger die Institutionalisierung (im soziologischen Sinne) einer Neuen Linken infolge verstetigter Interaktion und Organisation dies- wie jenseits des Atlantiks. Was überrascht: In Deutschland ebenso wie in den USA setzte dasselbe Thema – die „Dritte Welt“ – diese Institutionalisierung in Gang. Woran lag das? Warum entfalteten nicht andere Themen das gleiche Potenzial wie „Algerien“ und „Kuba“ (sowie später: „Vietnam“)? So entsteht der Eindruck historischer Zwangsläufigkeiten. Den Zwist im linken Lager, genauer: die Abnabelung der Neuen von der gemäßigten Linken in ihrer Aufgabe des Antikommunismus, kartographiert die Studie wiederum überzeugend. Michael Frey ist eine detaillierte Biographie über die „Jugend“ zweier Protestbewegungen gelungen. Er entlarvt viele vermeintliche „Geburtsstunden“, „Kristallisationspunkte“ und „führende Köpfe“ als das, was sie sind: selektive Rekonstruktionen (zum Teil von früheren Protagonisten), die dem Rückschaufehler aufsitzen. Die 68er haben eine lange Vorgeschichte – und viele Väter und Mütter, die weit vor 1968 ein stabiles Netzwerk, eine eigene Identität und Themenfelder aufbauten. Zugleich: Zeichnet Frey die jeweils nationalen Formationsprozesse akribisch nach, kommen bei ihm die transnationalen Interaktionen manchmal über das Anekdotische nicht hinaus.

Ohne sich in Determinismus zu verrennen: Wer nach den – langen – Wurzeln nicht nur der 68er, sondern auch des „Deutschen Herbstes“ gräbt, kommt an den „beendeten Diskursblockaden“ der Neuen Linken nicht vorbei, die jedoch vielfach schon recht früh in neuem Dogmatismus (zumal gegenüber der gemäßigten Linken) mündeten. Michael Freys Studie leistet einen wichtigen Beitrag zur Frühphase der „ersten globalen Rebellion“. Dass diese einer Revolutionslogik folgte, kann nun niemand mehr behaupten.

 

Tom Mannewitz, geboren 1987 in Wurzen, Professur für politischen Extremismus und politische Ideengeschichte, Hochschule des Bundes, Berlin.

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