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Griechenlands „Regimewechsel“

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Oft hat der Syriza-Vorsitzende Alexis Tsipras ihn ausgerufen: den erneuten Regimewechsel für Griechenland. So wie er ihn aus der Opposition lautstark gefordert hatte, erwarteten viele im Land, dass er von seiner Regierungsbank aus tatsächlich klare Veränderungen vornehmen würde. Der Begriff der Μεταπολίτευση (Metapolitefsi) hat als „Wechsel des Regimes“ eine zentrale Position in der neueren griechischen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg: Als Metapolitefsi wird die Rückkehr Griechenlands zur Demokratie im Anschluss an den Sturz der Militärjunta, die von 1967 bis 1974 herrschte, sowie die darauffolgende, für das Land sehr wichtige Epoche bezeichnet – mit allen Errungenschaften der Zeit, aber auch all jenen Problemen, die zur tiefen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krise des Landes beigetragen haben. Es ist nun die linksrechtspopulistische Regierung aus Syriza und den „Unabhängigen Griechen“ (Anexartiti Ellines, ANEL), die sich immer wieder eines erneuten Kurswechsels und des Endes dieser für das moderne Griechenland prägenden Epoche rühmt. Doch scheint sich nach dem ersten Regierungshalbjahr dieser neuen Koalition vielmehr eine Fortsetzung der alten Politik mit neuen Gesichtern herauszukristallisieren.

 

Politische Stabilität als Selbstzweck

Mit der parlamentarischen Demokratie ab 1974 wollte man sich in Griechenland von den instabilen Verhältnissen der Zeit vor der Obristendiktatur abwenden und führte mit der um fünfzig Parlamentssitze verstärkten Mehrheitswahl ein für fast vierzig Jahre stilprägendes System ein. So schuf man mit dem Dikomatismos, der Zweiparteienherrschaft, ein Regime von zwei dominierenden, abwechselnd regierenden politischen Bewegungen, flankiert von den oft als Protestparteien wirksamen Kleinparteien am linken Rand – die ideale Grundlage für das sich etablierende Klientelsystem. Seine Wurzeln reichen bis weit in die Vergangenheit zurück, doch wahre Blüte trieb dieses politische Beziehungsgeflecht erst mit der sozialdemokratischen PASOK sowie der konservativen Nea Dimokratia im modernen Griechenland – als sie das Land auf den Weg in die Europäische Gemeinschaft (EG) führten. Diese politische Situation ermöglichte Andreas Papandreou ab 1981, von einer zunächst antieuropäischen Warte kommend („EWG und NATO – dasselbe Syndikat!“), den Zugang zu scheinbar unerschöpflichen, unkontrollierten Ressourcen, die in das national etablierte Klientelsystem umgelenkt werden konnten. Das griechische Wahlgesetz mit seiner personalisierten Kandidatenwahl begünstigte Beziehungen direkter Abhängigkeit zwischen Wählern und Mandatsträgern, klar in Sektoren der öffentlichen Beschäftigung und der staatlich kontrollierten Privatwirtschaft aufgeteilt, in denen sich Politiker unmittelbar um ihre Wähler und deren Partikularinteressen kümmerten. Gleichzeitig waren diese Wählergruppen so gut organisiert, dass sich für Politiker mit Machtinstinkt ein Konflikt mit ihnen nicht empfahl. Auch die kleinen Parteien der Linken (unter anderem Syriza) dienten immer diesen Wählergruppen: Massive Proteste – oft auch gewalttätig – gegen Veränderungen und Modernisierungen im Bildungs- oder Rentensystem sowie gegen Privatisierungen blockierten jeglichen Reformwillen. Zaghafte Reformversuche fanden unter PASOK-Ministerpräsident Konstantinos Simitis statt, sie mündeten jedoch vor allem in eine Anpassung des griechischen Konsumverhaltens, ohne wichtige Strukturveränderungen der Wirtschaft herbeizuführen. Diese war für den wachsenden internationalen Wettbewerb vollkommen unvorbereitet und bleibt es in vielen Bereichen bis heute. Mit dem Beginn der Krise trocknete der Klientelmechanismus finanziell aus. Das etablierte Parteiensystem begann zu taumeln und ermöglichte den Aufstieg marginaler Protestparteien zur Regierungsmehrheit – das war die Stunde von Syriza und ANEL.

 

Populismus in Zeiten der Sparpolitik

Der öffentlich besonders von Syriza propagierte Bruch mit den alten Strukturen ging allerdings mit sehr bekannten Mechanismen einher, den für die Gemeinschaft kostspieligen Status quo ante wiederherzustellen: Beispielhaft steht dafür die Wiedereröffnung des wegen seiner Qualität und Effizienz umstrittenen staatlichen Rundfunksenders ERT, eine der ersten – und bisher wenigen – Aktionen des Regierungshandelns der neuen Koalition. Höhepunkt des neuen Populismus war das Anfang Juli durchgeführte Referendum. In ihm schwang die illusionäre Idee mit, man könne die Reformpolitik einseitig per Volksabstimmung beenden. Die politische Bedeutung des unter zweifelhaften Umständen durchgeführten Votums schwand hingegen binnen einer Woche mit dem in Brüssel vereinbarten Auftakt zum dritten Programm für Griechenland. Was von der Volksabstimmung bleibt, ist ein vermeintlich durch das deutliche „Oxi“ gestärkter Ministerpräsident Tsipras, der das Mandat vor allem dazu nutzen will, die Reihen in der eigenen Partei zu schließen. Dieser Machtkampf in der Partei ist auch Ausdruck des Kampfes um die alten Strukturen des griechischen Parteiensystems, das von politisch einflussreichen Wählergruppen wie Beamten und Gewerkschaften abhängig ist – auch unter der neuen Regierung.

 

Häutung einer Protestpartei

Syriza steht eine harte Probe bevor: Die Partei muss mit erhöhtem Druck von außen ein Reformprogramm umsetzen, das ihren zu allen Zeiten propagierten, populistischen Wahlversprechen entgegensteht. Die kleinen Oppositionsparteien an den Rändern des politischen Spektrums versprachen noch das Blaue vom Himmel, als die großen Parteien schon längst ihr politisches Handeln mit der Europäischen Union (EU) sowie den anderen internationalen Kreditgebern abstimmen mussten. Der politische Aufstieg der Kleinstparteien beruht in Teilen darauf. Sollte der Syriza die ideologische und strategische Richtungsanpassung gelingen und sie dabei ihren linken Parteiflügel verprellen, könnte die Partei – links vom Zentrum – in die „Fußstapfen“ der früheren PASOK treten.

Gleichwohl dürfte Syriza es nicht als Volkspartei im gemeinhin verstandenen Sinne tun: Dazu hat allen griechischen Parteien der Mitte stets das programmatische und ideologische Gerüst gefehlt. Das trifft auch auf die jetzige Syriza zu. Dabei lässt sich schon jetzt eine Zwischenbilanz ziehen: Die ökonomischen und gesellschaftlichen Kosten der ideologischen und strategischen Wandlungen der Syriza-ANEL-Koalition sind hoch; mangelnde Regierungs- und Koalitionserfahrung mögen sie zusätzlich nach oben getrieben haben.

 

Wahlverwandtschaft mit der Europäischen Union

Politisch prägend für die Beziehungen Griechenlands zur EG und späteren EU war die von der PASOK verfolgte Strategie, Gelder aus Brüssel vor allem für innenpolitische Zwecke zu verwenden; diesen Weg gingen alle späteren Regierungen. Für die griechische Bevölkerung war es ab 2010 eine vollkommen neue Erfahrung, dass Gelder aus Brüssel nur noch mit strikten Reformauflagen der Kreditgeber-Institutionen bewilligt wurden. Die Finanzierung rein konsumtiver Bereiche fand ein jähes Ende – und damit verschwand eines der zentralen Beziehungsmerkmale Griechenlands zur EU als Institution. Trotz seiner emotionalen Identifikation mit Europa hat es Griechenland in all den Jahren nicht vermocht, seinen Platz in der EU über die Finanzierungsfrage hinaus zu definieren. Es steht ein nicht zu unterschätzender Anpassungsprozess an, der viele Jahre in Anspruch nehmen wird: für die Bevölkerung wie die politischen Verantwortungsträger in Griechenland gleichermaßen. Zudem fühlt sich das Land in der Gemeinschaft der europäischen Partner politisch isoliert, insbesondere seit die unglückliche Kommunikation der neuen Regierung nach allen Seiten neue Spitzen erreicht hat.

 

Annäherung an die Realität

Syriza musste erkennen, dass es für Griechenland keine andere Option als den europäischen Weg gibt – selbst wenn dieser nach viel zu viel verlorener Zeit über harte und für diese Partei umso schwierigere Reformen führt. Alle Annäherungsversuche an mögliche russische oder chinesische Unterstützer scheiterten. Dabei muss die Partei mit einer viel schwierigeren Situation zurechtkommen als noch Papandreou Anfang der 1980er-Jahre, da sich die Rahmenbedingungen in Europa vollkommen verändert haben. Das „Programm von Thessaloniki“, das ungeschriebene Wahlprogramm der Syriza, strotzte vor Überzeugungsgewissheit, dass man wieder an die alte Logik der unkontrollierten Ausgaben anknüpfen kann. Die harte Landung in der Realität versucht man den Wählern nun so zu vermitteln, dass man sich zum Hüter der Interessen des griechischen Volkes erklärt: in einem Kampf gegen die EU, die zu Reformen zwingt, von denen weder Syriza noch ANEL überzeugt sind. Während der eigene politische Gestaltungsspielraum in den vergangenen fünf Jahren unter ökonomischen Zwängen immer schmaler wurde, kämpft diese fünfte Regierung in sechs Jahren der Kreditvereinbarungen noch viel mehr als vorher mit der so dringend benötigten Identifikation mit dem schwierigen Reformprozess.

Der vielfach beschworene neue „Regimewechsel“, den sich in der griechischen Bevölkerung immer noch viele mit relevanten Reformen erhoffen, kann nur gelingen, wenn eine wirklich neue politische Kultur in Griechenland Einzug hält: die der Verständigung auf wichtige, staatstragende Veränderungen zur Neuorientierung des griechischen Staatswesens und des Verhältnisses des Staates zu seinen Bürgern – auf dem Boden der Realität.


Susanna Vogt, geboren 1979 in Bonn, Leiterin des Auslandsbüros Griechenland der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Jeroen Kohls, geboren 1985 in Leuven, Projektmanager und Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Auslandsbüro Griechenland der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 

Literaturempfehlung

Stimmungsbild: Einigung in der Griechenland-Krise. Überblick über Reaktionen in Politik und Medien in den Einsatzländern der Auslandsmitarbeiterinnen und Auslandsmitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung: www.kas.de/wf/de/33.42136.

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