In einer Welt voller Unsicherheiten und rascher Veränderungen sind feste Bezugspunkte von besonderer Bedeutung. Und zukunftsorientierter Wandel verlangt zunächst Gewissheit über den eigenen Standort. Deswegen habe ich im April 2018 den neuen Traditionserlass in Kraft gesetzt, den dritten in der über sechzigjährigen Geschichte der Bundeswehr. Der erste Erlass stammte aus dem Jahr 1965, der bisherige von 1982. Damals war Deutschland noch geteilt, die Blockkonfrontation zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt bestimmte die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik. Die Bundeswehr war eine Armee der allgemeinen Wehrpflicht mit dem zentralen Auftrag der Landesund Bündnisverteidigung. Der alte Traditionserlass konnte auch noch nicht die Armee der Einheit und die Armee im Einsatz berücksichtigen. Er kannte weder den Kampf gegen den internationalen Terrorismus noch hybride Bedrohungen oder Konflikte im Cyber- und Informationsraum. Deswegen war es überfällig, dass sich die eine gemeinsame Bundeswehr unseres vereinten demokratischen Deutschlands ihrer Geschichte und ihrer Tradition neu versichert; dass sie sich wieder grundlegend mit Fragen beschäftigt wie: Woher kommen wir? Was macht uns aus? Was gibt unserem Handeln Sinn? Was können wir aus der Geschichte lernen? Wo sind die Fundamente, auf die wir unsere Zukunft bauen?
Gerade weil sich die Herausforderungen heute so schnell verändern, braucht unsere Bundeswehr ein gemeinsames Verständnis ihrer sinnstiftenden Tradition. Die Streitkräfte und die zivile Bundeswehrverwaltung müssen wissen, woher sie kommen, um in der Gegenwart verantwortlich handeln und mit klarem Kompass in die Zukunft gehen zu können. Deswegen muss sich die Bundeswehr immer wieder selbst vergewissern, auf welcher wertorientierten Basis sie steht.
Politische, gesellschaftliche und technische Entwicklungen üben permanenten Veränderungsdruck aus. Damit die Bundeswehr ihren Auftrag erfüllen kann, muss sie sich ständig weiterentwickeln. Dabei schließen Bewahren und Verändern einander nicht aus; vielmehr gehört beides zusammen. Es gilt, die richtige Balance zu halten zwischen der Bereitschaft, nötige Veränderungen zu wagen, und dem Willen, das zu bewahren, was als Maßstab und Richtschnur an künftige Generationen weitergegeben werden soll.
Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft
Der neue Traditionserlass betont deshalb auch die wachsende Bedeutung von historischer Bildung für die zivilen wie für die militärischen Angehörigen der Bundeswehr. Denn sie sollen Geschichte verstehen, statt sie nur zu kennen. Historische Bildung ist das Ergebnis einer kritisch-prüfenden Betrachtung vergangener Entwicklungen und Ereignisse. Sie gibt geistige Orientierungspunkte, die zielgerichtetes und wertegebundenes Denken und Handeln in einer sich rasch ändernden Welt ermöglichen. Sie vermittelt Kompetenz zur kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, schärft die Urteilsfähigkeit. Sie fördert das Verständnis für historische und politische Zusammenhänge, für gesellschaftliche Strukturen und Prozesse, auch in anderen Kulturen. Sie lehrt, angeeignetes Wissen fundiert auf neue Herausforderungen anzuwenden. All diese Fähigkeiten werden besonders von unseren Soldatinnen und Soldaten im Einsatz gefordert. Auch deswegen wollen wir der Vermittlung historischer Zusammenhänge an den Schulen und Bildungseinrichtungen der Bundeswehr sowie im täglichen Dienst künftig noch mehr Zeit einräumen.
Historische Bildung in der Bundeswehr ist eine wesentliche Voraussetzung für ein werteorientiertes Verständnis und die angemessene Pflege von Traditionsgut. Sie ist auch eine wichtige Bedingung für die Verwirklichung des Leitbildes vom Staatsbürger in Uniform. Gerade weil heute die Kenntnis der eigenen Geschichte nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, muss ihr in der Bundeswehr ein besonderer Platz zukommen. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte hilft zugleich, die Identität der heutigen Bundeswehr zu bestimmen. Damit leistet historische Bildung einen wichtigen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung unserer Frauen und Männer in der Bundeswehr. Sie fördert die Identifikation mit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, mit der Rolle und den Aufgaben der Bundeswehr sowie die Auseinandersetzung mit dem eigenen Berufsbild.
Stärker als bei anderen sozialen Gruppen beruhen die innere Stabilität und der Zusammenhalt der militärischen Gemeinschaft, aber auch der zivilen Beschäftigten der Bundeswehr auf überlieferten Werten und Vorbildern. Tradition ermöglicht deren Bewahrung, Pflege und Weitergabe. Als geistige Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft gibt sie Orientierung für das Handeln und Führen in der Gegenwart. Tradition, verstanden als eine bewusste, wertegebundene Auswahl aus der Geschichte, ist ein wesentlicher Teil des Selbstverständnisses unserer Soldatinnen und Soldaten. Sie verbindet sie mit denen, die vor ihnen waren, und sie gewährleistet, dass prägende Erkenntnisse und Vorbilder fortwirken. Tradition gleicht so einem Kompass auf dem Weg in die Zukunft. Damit die Kompassnadel aber verlässlich die Richtung zeigt, braucht es Klarheit über ein gemeinsames Verständnis von Tradition und Handlungssicherheit in der praktischen Traditionspflege. Für beides schafft der neue Traditionserlass die Voraussetzung.
Der freiheitlich-demokratischen Ordnung verpflichtet
Zwei Aspekte lagen uns bei der Erarbeitung dieses Regelwerks besonders am Herzen. Erstens wollten wir die deutsche Militärgeschichte in ihrer gesamten Breite in den Blick nehmen, aus ihr schöpfen und bewahren, was daraus für uns heute vorbildlich und sinnstiftend ist. Denn natürlich gab es herausragende soldatische Persönlichkeiten und außergewöhnliches soldatisches Handeln zu allen Zeiten unserer Geschichte – Handeln, das auf Werten gründete, die wir heute als Fundament unseres Grundgesetzes betrachten. Solches Handeln stiftet für uns deswegen auch heute noch Sinn.
Genau dieser Wertebezug schließt die Aufnahme der Wehrmacht als Institution in unseren Traditionskanon grundsätzlich aus. Der verbrecherische NS-Staat kann Tradition nicht begründen. Für die Streitkräfte eines demokratischen Rechtsstaates ist die Wehrmacht als Institution nicht traditionswürdig. Dieser Maßstab unserer Werte gilt auch für die Nationale Volksarmee (NVA) der DDR. In ihrem eigenen Selbstverständnis war sie Hauptwaffenträger einer sozialistischen Diktatur. Sie war fest in die Staatsideologie der DDR eingebunden und wesentlicher Garant für die Sicherung ihres politisch-gesellschaftlichen Systems.
Die eigene Geschichte wichtiger nehmen
Gleichwohl können einzelne Angehörige der Wehrmacht und der NVA traditionswürdige Vorbilder für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sein. Es kommt auf die einzelne Person an; und wir müssen immer sorgfältig abwägen. Dazu gehört auch die Frage nach persönlicher Schuld.
Die Aufnahme in unser Traditionsgut muss zudem eine Leistung zur Bedingung machen, die vorbildlich und sinnstiftend in die Gegenwart wirkt; etwa die Beteiligung am militärischen Widerstand gegen das NS-Regime, besondere Verdienste um den Aufbau der Bundeswehr, die Auflehnung gegen die SED-Herrschaft oder besondere Verdienste um die Deutsche Einheit. Militärische Exzellenz allein genügt nicht. Sie mag als Beispiel für Lehre und Ausbildung dienen. Tradition aber ist etwas anderes: Grundlage und Maßstab für das Traditionsverständnis und die Traditionspflege in der Bundeswehr, die freiheitlich-demokratischen Zielsetzungen verpflichtet ist, kann nur ein soldatisches Selbstverständnis sein, das auf den universellen Normen und Werten unseres Grundgesetzes ruht.
Die Bundeswehr ist die Armee einer gereiften, weltweit geachteten Demokratie. Diese Erkenntnis war der zweite Aspekt, der uns bei der Überarbeitung des Traditionserlasses geleitet hat: die eigene Geschichte als zentraler Bezugspunkt. Viele Generationen haben die Bundeswehr seit ihrer Aufstellung geprägt und sie zum Garanten unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung gemacht. Diese über sechzigjährige reiche Geschichte stellt die Bundeswehr nun viel stärker in den Mittelpunkt ihrer Erinnerungskultur. Es ist eine Geschichte, auf die alle ihre Angehörigen stolz sein können; genauso wie unsere Bürgerinnen und Bürger. Sie erzählt von Streitkräften in einer wehrhaften Demokratie, die sich im Kalten Krieg ebenso bewährt haben, wie sie nach 1990 die Wiedervereinigung unseres Landes vom ersten Tag an vorgelebt haben. Sie erzählt von Soldatinnen und Soldaten, die sich im Einsatz und auch im Gefecht bewährt haben; die lernen mussten, mit Tod und Verwundung umzugehen. Diese Armee ist für die Menschen in Deutschland da, wenn sie gebraucht wird. Sie steht im siebten Jahrzehnt für das Recht und die Freiheit unseres Landes ein.
Geschichtskenntnis und Traditionsbewusstsein sind in einer modernen Armee unverzichtbar. Beides ist untrennbar verbunden mit der Frage nach dem Sinn des Dienstes unserer Soldatinnen und Soldaten, seinen ethischen Grundlagen und seiner geschichtlichen Verankerung.
Weder Dogma noch Handlungsrezept
Die Tradition der Bundeswehr ist deswegen hoch relevant für das konkrete Handeln im Alltag wie im Einsatz. Tradition darf jedoch weder Dogma noch Handlungsrezept sein. Sie ist vielmehr Ausdruck des historischen Selbstverständnisses der Bundeswehr, das ihre Identität prägt und ihr die Richtung weist.
Vom Schweizer Historiker Jacob Burckhardt stammt das berühmte Bonmot, Geschichte mache nicht klug für ein anderes Mal, sondern weise für immer. Dementsprechend bietet die geistige Auseinandersetzung mit der Geschichte den Angehörigen der Bundeswehr nicht Ausbildung, sondern Bildung, nicht Handlungsanweisung, sondern Horizonte.
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Ursula von der Leyen, geboren 1958 in Ixelles/Elsene, Bezirk Brüssel (Belgien), 2005 bis 2009 Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2009 bis 2013 Bundesministerin für Arbeit und Soziales, seit 2013 Bundesministerin der Verteidigung.