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Die Elbphilharmonie als architektonische Vision

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Es war ein höchst passendes Zusammentreffen, das aber, wie mir scheint, niemandem aufgefallen ist: Am Tag der rauschenden Eröffnung der Hamburger Elbphilharmonie gingen auch die Nachrufe auf Altbundespräsident Roman Herzog durch die Zeitungen, und natürlich wurde vor allem ein Satz von ihm zitiert, nämlich der, dass „ein Ruck durch Deutschland“ gehen müsse. Wie ein solcher Ruck aussehen könnte, das zeigten zugleich die zahllosen Bilder der jetzt schon ikonischen Silhouette des neuen Konzertsaals.

Aber ich habe nicht gesehen, dass irgendwo eins und eins zusammengezählt worden wäre.

Das Erste, was mir auffiel, war, dass ich unbedingt hinwollte zu der Eröffnung. Ich habe prägende Jahre meines Lebens in Hamburg verbracht und in den Sommern ab 1978 im Hafen gearbeitet, der damals noch ein völlig anderer Hafen war als heute. Ein Hafen der Stückgutfrachter, die von Menschen entladen werden mussten, und Tausende unständig beschäftigter Schauermänner, das Subproletariat der Hamburger Arbeiterschaft, fanden sich im Morgengrauen im Hafenarbeitsamt in der Admiralitätsstraße ein, um auf die Frachter und Kais verteilt zu werden. Auch ich habe damals an diesem Speicher gearbeitet, der heute den Sockel der Elbphilharmonie bildet. Um die Ecke war der Kohlehafen, wo man dank der Schmutzzulage mehr Geld pro Schicht verdienen konnte als anderswo.

Aber nicht aufgrund dieser Erinnerungen wollte ich zur Eröffnung. Sondern weil ich das Gebäude hatte wachsen sehen während meiner seltenen Besuche in der Stadt und weil ich für meinen letzten Roman ein anderes ikonisches Bauwerk Hamburgs, nämlich das Chilehaus, besucht und genauestens betrachtet hatte und spürte, dass hier ein modernes Gegenstück im Entstehen war, ein Ort, der Menschen in die Stadt locken kann, und mehr noch: ein Ort, der ein kollektives Bewusstsein, ein Gemeinschaftsgefühl stiftet, das im Idealfall in die ganze Welt ausstrahlt.

Gebaute Zukunftshoffnung

Es gibt Bauwerke, die aufgrund der ihnen innewohnenden Qualitäten, aber auch dank einer günstigen Zeitkonstellation, zu weithin leuchtenden Symbolen von Schönheit oder Dynamik oder Zukunftshoffnung werden, die den Ortsansässigen in einer Art analogen Kraftübertragung Wagemut und Optimismus schenken und auf die Ortsfremden wie ein Magnet wirken: Dort, wo dieses Symbol sich befindet, dort will, ja dort muss man sein, um an dem Geist zu partizipieren, der sich hier abstrakt und doch konkret manifestiert.

Ob es sich dabei um ein Haus oder ein Kunstwerk oder ein Produkt technologischer Innovationskraft handelt, ist weniger entscheidend als der Punkt, dass es sich in jedem Fall um eine öffentliche, für die Öffentlichkeit geschaffene und ihr zugängliche Schöpfung handeln muss und nie um etwas Privates, nur einem persönlichen Nutzen und Frommen Dienendes.

Zwei Beispiele, um zu illustrieren, was ich meine: Als 1889 in Paris der Eiffelturm eröffnet wurde, damals das höchste Bauwerk der Welt, waren Ratlosigkeit und Kritik zunächst groß. Was sollte das, wozu brauchte man das? Lange Jahre wurde der Eiffelturm sogar als Werbebanner für Citroën zweckentfremdet. Und doch ist es ganz sicher, dass es der Eiffelturm war, der Paris zur Welthauptstadt des Fin de Siècle und des beginnenden 20. Jahrhunderts machte. Und zwar vor allem wegen der Dynamik, die er symbolisierte in der Spannung mit seiner Umgebung, der teils Haussmann‘schen, teils noch mittelalterlichen Stadt aus goldenem, schimmerndem Kalkstein, diesem Symbol von Kontinuität, Dauer und großer Vergangenheit. Aus diesem Stadtamalgam auf seinen Hügeln ragte und strebte die supermoderne Eisenkonstruktion sinn- und zweckfrei in die Höhe, nichts beweisend als sich selbst und die Fähigkeit und den Willen, sie zu errichten, aber als Leuchtturm wirkend, dessen Signale Menschen aus der ganzen Welt in die Stadt lockten – hier, morsten diese Signale, hier wächst die Zukunft aus dem Humus der Tradition hinauf in den Himmel.

Von der Barbareninsel zum Sehnsuchtsort

Das zweite Beispiel ist das Opernhaus in Sydney, dessen futuristische Formen in meiner Kindheit Begeisterung erweckten. Vielleicht tue ich Australien Unrecht, aber ich meine mich zu erinnern, dass erst das Bild dieses Gebäudes an dieser fotogenen Stelle, im Hafen der Stadt, das ganze Land im öffentlichen internationalen Bewusstsein von einer Barbareninsel und ehemaligen Strafkolonie am Ende der Welt zu dem Synonym entspannter Modernität und Internationalität und dem Sehnsuchtsziel für junge Menschen aus aller Welt machte, das es heute ist.

Die Frage, die sich im Hinblick auf Hamburgs Elbphilharmonie dabei nun stellt, lautet: Waren die von mir erwähnten und andere Beispiele nur die Folgen einer ohnehin in den jeweiligen Ländern herrschenden Hoffnungs- und Modernitätsdynamik, sozusagen die bauliche Verstofflichung eines herrschenden Zeitgeists? Oder waren es Pionierleistungen, initiiert und durchgesetzt von einzelnen Visionären, die die Dynamik erst entfachten, deren Vorausbeispiel sie selbst waren, und die den gesellschaftlichen Optimismus, den sie symbolisierten, erst nach sich zogen?

Zur Beantwortung dieser Frage muss ich hinaus aus Deutschland. Wenn dann das Flugzeug die Wolkendecke durchbrochen, seinen Weg durchs sonnige Blau einige Hundert oder auch 10.000 Kilometer zurückgelegt hat und ich gelandet bin, ob in London oder in Kuala Lumpur, dann empfinde ich jedes Mal eine berauschende und ansteckende Kraftströmung und Lust auf Zukunft, die in Deutschland, wird mir dann klar, vollkommen fehlt.

Luft des Anything Goes

So bin ich mir zum Beispiel überhaupt nicht sicher, dass Theresa Mays Beschwörung der Zukunft ihres Landes als von den europäischen Schlangen befreiter Laokoon nicht genau diese Dynamik entfachen und tatsächlich die besten jungen Köpfe aus aller Welt nach London ziehen wird, dessen Bild seit den Olympischen Spielen 2012 das ehrwürdige Westminster immer durch den Focus des London Eye einfängt, des gigantischen Riesenrades, und so auf packende Weise Tradition und Aufbruch zusammenfasst. Die besten jungen Köpfe aus aller Welt, das ist auch ein Weg, die Migrationsströme zu kanalisieren. Aber London ist noch gar nichts, verglichen mit der prickelnden Luft des Anything Goes, dem Erfindungsgeist, der von keinerlei Bedenken getrübten Begeisterung, mit der in den Schwellenländern, den Tigerstaaten und Dritte-Welt-Megalopolen wie Kuala Lumpur das technisch Mögliche und das noch nie Dagewesene einfach in Angriff genommen wird. Bei jedem Besuch neue grandiose Hochhäuser, neue, revolutionäre Verkehrssysteme, neue Großprojekte zur Verschönerung, Sanierung, Modernisierung der Kapitale, des gemeinsamen Lebensraums.

Gemach, gemach! wird man mir jetzt zurufen. Übertreibst du es nicht ein wenig mit deiner Begeisterung fürs Neue? Wir können dir all die Opportunitätskosten aufzählen, die Umweltschäden, die Ressourcenvernichtung, die damit verbunden ist, wo das Geld doch auch, statt für Prestigeprojekte rausgeschmissen zu werden, all den Armen und Arbeitslosen zugutekommen könnte, die es in diesen Ländern zuhauf gibt.

Das, scheint mir, ist eine typisch deutsche Argumentation, ist der Grund, warum unser Land, wenn man ins Flugzeug steigt und davonfliegt, von oben aussieht wie ein gestrandeter Wal. Ein gigantischer Haufen totes Fett, kolossal und erbärmlich zugleich und keiner eigenen Bewegung mehr fähig. Ein Land der ständigen Bedenken, der Kleinmütigkeit, der Partikularinteressen, des Modernitäts- und damit Zukunftshasses, befangen in Neiddebatten, einer Morgenthau-Mentalität und Regulierungswut, die stärkste Volkswirtschaft des Kontinents, die sich selbst nur als ein monströses Sozialtransferwerk sehen mag, ein mutloses, ein vor der Zeit vergreistes, ein gestriges Land.

Dabei ist, betrachtet man die Deutschen als Individuen, alles in bester Ordnung: brillante junge Studenten, weltoffen und innovativ, die begabtesten Wissenschaftler und Techniker, ein unverringertes Reservoir an Genialität – nur bündelt und ballt es sich nicht zu einer kollektiven, einer gesellschaftlichen Dynamik. Das Kennedy‘sche „Frag nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst“ scheint vollkommen zu fehlen. Aus all den partikularen Ehrgeizen folgt eben nicht das –, und jetzt sind wir wieder am Anfang – was Roman Herzog 1997 gefordert hat: Ein Ruck müsse durch Deutschland gehen.

Gläserne Symphonie

Das ist keine Kritik an den Deutschen, es ist eine Kritik an ihrer Führungselite, denn wie der Herr, so ’s G’scherr. Schuldentilgung und Rentensicherung, Gendertoiletten und Mindestlohn – gut und schön, aber wo ist die politische Vision, die nicht darauf aus ist, die Mutlosen abzusichern, sondern den Mutigen Flügel zu verleihen? Wo ist der Elan, einen New Deal zu konzipieren, an dem teilzuhaben, zu partizipieren eine ganze Nation elektrisieren könnte, im positiven Sinne wieder kämpferischer und wettbewerbsfreudiger zu werden?

Die architektonische Vision der Elbphilharmonie, diese aus dem Backstein des alten Industriehafens emporwachsende, emporstrebende gläserne Symphonie mit ihren hokusaisch anmutenden Wellenzinnen, dieser vom Staat, von der Stadt und von einem mäzenatischen Bürgertum gemeinsam finanzierte Ort für alle ist ein Sinnbild, nein, nur ein Hoffnungsschimmer für das, was möglich sein könnte in diesem Land, wenn die Trägheit und Zukunftsmüdigkeit überwunden würde. Ein Ort, den die Bürger der Stadt und Interessierte aus den ganzen Welt aufsuchen, weil sie spüren, ja, hier ist ein Kraftzentrum entstanden, hier will ich auch sein und mitmachen, um noch mehr und Größeres, Gemeinsames zu schaffen.

Wie schön, dachte ich auf dem rund um die Philharmonie laufenden Balkon mit Blick auf die Hafencity, wie schön, wenn hier jetzt auch noch die Anlagen für die übernächsten Olympischen Spiele entstünden! Aber der Senat hat die Bevölkerung gefragt, ob ihr Steuergeld für dergleichen ausgegeben werden sollte, und die Bevölkerung hat Nein gesagt. Genauso, wie sie – und das muss am Schluss leider auch erwähnt werden – Nein gesagt hätte zur teuren Elbphilharmonie, wenn man sie denn gefragt hätte.

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Michael Kleeberg, geboren 1959 in Stuttgart, Schriftsteller, Essayist und literarischer Übersetzer, Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2016.

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