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Francis Fukuyamas „Ende der Geschichte“

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Menschliches Handeln setzt Planung und damit Vorhersagen und Annahmen über die Zukunft voraus. Wer nicht damit rechnet, den nächsten Sommer zu erleben, kauft kein Schlauchboot mehr. Gleichzeitig wohnt solchen Annahmen eine hohe Fehlerwahrscheinlichkeit inne, denn über die Zukunft hat der Mensch weit weniger Kontrolle als über die Gegenwart.

Im Nachhinein fällt es leicht, die Fehler früherer Zukunftsannahmen zu benennen. Die Vorhersagen bedeutender Entwicklungen laufen dabei stets Gefahr, dem Verdikt unglaublicher Dummheit anheimzufallen. Dieses Schicksal erfuhr auch eine Prognose von Franz Beckenbauer, als er im Einheits- und Weltmeistertaumel von 1990 prophezeite, dass die deutsche Fußballnationalmannschaft auf Jahre unschlagbar sein werde.

Eine weit größere Hybris wird seit Jahrzehnten einem Mann ganz anderen Kalibers unterstellt: Francis Fukuyama. Der in Stanford lehrende Politikwissenschaftler hatte 1989 in seinem Aufsatz „The End of History“ (Francis Fukuyama: „The End of History?“, in: The National Interest, 16, 1989, S. 3–18) die These vom bevorstehenden weltweiten Sieg der liberalen Demokratie vertreten und diese in seinem gleichnamigen Buch weiter ausgearbeitet (Francis Fukuyama: The End of History and the Last Man, New York 1992). Bis heute gilt diese Prognose bestenfalls als überoptimistische These eines von den Ereignissen in Ostmittel- und Osteuropa von 1988 bis 1991 zum Träumen verleiteten Utopisten. Der Spott, der seither über Fukuyama ausgegossen wird, speist sich dabei vor allem aus zwei Quellen: Ablehnung und Unkenntnis.

Kritik aus allen Richtungen

Fukuyamas an Hegel angelehnte Vorstellung einer ideengeschichtlichen Weiterentwicklung der menschlichen Gesellschaft zum Besseren stieß den meisten Konservativen sauer auf. Denn Fortschritt und erst recht historische Gesetzmäßigkeiten sind üblicherweise keine Kategorien konservativen Denkens. Vielen erschien die Prognose vom Ende der Geschichte als eine historische Dialektik des westlichen Gutmenschen. Beinahe triumphierend trotzig nannte der amerikanische Neokonservative Robert Kagan sein 2009 erschienenes Buch The Return of History.

Der umgekehrte Vorwurf erscholl von der linken Seite des politischen Spektrums, das Fukuyama einen Mangel an Utopie unterstellte. Der Historiker Ulrich Herbert sprach von einem „richtigen, aber problematischen Befund“, weil er bedeute, „dass hinfort die großen Probleme der Menschheit nicht mehr mit der stimulierenden Hoffnung auf die totale Alternative, auf den Systemumsturz, auf die Errichtung einer ganz anderen und besseren Gesellschaft angegangen werden konnten“. Trotz des Scheiterns der meisten sozialistischen Staaten und des Umstands, dass die Länder mit dem höchsten Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, der höchsten Lebenserwartung, der besten Gesundheitsversorgung, den leistungsfähigsten Sozialsystemen und sogar der gleichmäßigsten Einkommensverteilung marktwirtschaftlich organisiert sind, lebt die Sehnsucht nach einem anderen Wirtschafts-und Gesellschaftssystem fort. Dass nun Fukuyama den endgültigen und weltweiten Triumph der kapitalistisch-liberalen Ordnung vorhersagte, empfanden viele Linke als Affront. Mit Freude wiesen die Gegner Fukuyamas auf Ereignisse hin, die dessen These zu widerlegen schienen: Angefangen mit dem Golfkrieg 1990/91 über den Zerfall Jugoslawiens und die Terroranschläge vom 11. September 2001 bis zum Aufstieg der neuen autokratischen Regime in Russland und anderswo – überall zeigte sich, dass die Welt weiterhin von Kriegen, Umsturzversuchen und Revolutionen beherrscht wurde und nicht vom ewigen Frieden in Demokratie und Marktwirtschaft.

Doch diese Kritik basiert auf einer fundamentalen Verkürzung von Fukuyamas Aussagen. Der plakative Titel seines Buches, von dem offensichtlich viele meinen, er entbinde von der Notwendigkeit der Lektüre, verführt zu Missverständnissen. Wer das Buch tatsächlich liest, stellt fest, dass Fukuyama mit „Geschichte“ nicht die simple Abfolge von Ereignissen meint, sondern die ideengeschichtliche Fortentwicklung gesellschaftlicher Ordnungen im Sinne Hegels. Demnach folgt die Geschichte einer zwar an Rückschritten reichen, aber stetigen Weiterentwicklung. Ihren Endpunkt habe sie mit dem demokratischen und liberalen Rechtsstaat erreicht. Zu dieser Schlussfolgerung gelangt Fukuyama aufgrund zweier Beobachtungen:

Erstens sei die Idee des demokratischen Rechtsstaats spätestens mit der Französischen Revolution in der Welt gewesen und habe seither keine wesentliche Weiterentwicklung erfahren.

Zweitens sei mit dem Zusammenbruch des Sozialismus der letzte bestehende Konkurrent der liberalen Demokratie verschwunden. Zwar existierten weiterhin viele nicht-demokratische Staaten, diese formulierten jedoch nur selten eine kohärente Ideologie. Selbst wenn sie es täten, leiteten sie keinen Anspruch auf weltweite Gültigkeit ab.

Der Sieg der Demokratie mit marktwirtschaftlicher Ordnung ist für Fukuyama nicht das Ergebnis eines historischen Zufalls, sondern Ausdruck einer systemischen Überlegenheit. Der Kapitalismus habe sich als leistungsstärkstes Wirtschaftssystem erwiesen. Für sein Gedeihen seien jedoch weitgehende Freiheitsrechte (Berufs-, Gewerbe- und Vertragsfreiheit), Partizipation und eine verantwortliche Regierung notwendig. Dies alles sei in einer Demokratie am besten gewährleistet.

Fukuyama versus Huntington

Fukuyamas Thesen fußen auf der Vorstellung, dass der Mensch in erster Linie um Anerkennung (thymos) kämpfe. Diese sei die Treibfeder menschlichen Strebens nach Erfolg und damit auch entscheidender Treibsatz der Politik. Daher können politische Systeme nicht dauerhaft stabil sein, in denen Herrschaft im Sinne eines Herr-Knecht-Verhältnisses organisiert ist, also einem kleinen, herrschenden Teil der Bevölkerung ein Übermaß an thymos zusteht, der großen Mehrheit aber nur ein geringer Anteil. Die Demokratie ermöglicht theoretisch jedem den Aufstieg in die Regierung, begrenzt die Macht der Exekutive und macht sie zudem von der Zustimmung der Regierten abhängig. Sie sei damit das politische System, das das thymos-Bedürfnis der Regierten und Regierenden am ehesten in ein Gleichgewicht bringe. Eine bessere Regierungsform hält Fukuyama daher für unmöglich. Aufgrund dieser Überlegenheit sei eine allmähliche Entwicklung aller Staaten zur Demokratie logisch, schlussfolgert Fukuyama. Das schließt aber Rückschläge wie Militärputsche, Kriege oder Diktaturen nicht aus. Nur sind dies in Fukuyamas Diktion „Ereignisse“ und keine „Geschichte“. Über die Sinnhaftigkeit der Terminologie mag man streiten, nicht aber über die der Unterscheidung.

Einer der vehementesten Kritiker Fukuyamas war sein akademischer Lehrer Samuel Huntington, der mit Clash of Civilizations einen Gegenentwurf formulierte (The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996). Mit dem Werk seines Schülers teilt Huntingtons Buch das Schicksal, wenig gelesen, dafür umso häufiger zitiert zu werden. Statt universellem Streben nach Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Marktwirtschaft werde die Welt von Konflikten der einzelnen Kulturkreise gegeneinander beherrscht sein, so Huntington. Bis jetzt spricht wenig für diese Annahme. In Südostasien ist von einem Zusammenrücken Japans, der beiden Koreas und Chinas gegen die Hegemonie der USA wenig zu erkennen. Wäre die Ostukraine tatsächlich so prorussisch und antiwestlich, wie Huntington annahm, hätten sich die von Putin gesteuerten Aufstandsbewegungen nicht in Donezk und Luhansk festgelaufen, sondern das gesamte Gebiet in Aufruhr versetzt.

Nur Demokratie ist weltweit „sexy“

Als Kronzeuge für Huntington und gegen Fukuyama wird meist auf den politischen Islam verwiesen, der dem universellen Anspruch der westlichen Werte entgegentritt. Bei genauem Hinsehen greift auch dieses Argument nicht. Zum einen sind die meisten militärischen und terroristischen Auseinandersetzungen des Islamismus nicht gegen westliche, sondern gegen muslimische Gesellschaften gerichtet. Der konfessionelle Unterschied zwischen Schia und Sunna scheint ein stärkerer Treibsatz zu sein als eine gesamtislamische Ablehnung des Westens. Die in der „Arabellion“ geäußerte Wut über korrupte und volksvergessene Herrscher und der Wunsch nach verantwortungsvollen Regierungen spricht eher für als gegen Fukuyamas Großthese. Das gilt auch für das weitere Schicksal islamistischer Regierungen, die mit dem „Arabischen Frühling“ an die Macht gekommen sind. Während die Muslimbrüder in Ägypten mit ihrem gewaltsamen Vorgehen gegen ihre Gegner schnell die Sympathien in der Bevölkerung verspielten, konnte sich die Ennahda-Bewegung in Tunesien an der Macht halten, gerade weil sie der radikalen Spielart des Islamismus abschwor und sich zum Aufbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verpflichtete.

Trotz aller Resilienz der autoritären Regime in Russland oder China zeigt deren Suche nach einem ideologischen Überbau den Druck, den universalen Anspruch der liberalen Demokratie abzuwehren. Weder das Amalgam aus Nationalismus und angeblich traditionell-christlichen Werten, mit dem der erkennbar nicht nach den Lehren der orthodoxen Kirche lebende Putin seinen zynischen Nihilismus der Macht bemäntelt, noch das jüngste Update des Maoismus, das Xi Jinping auf dem vergangenen Kongress der Kommunistischen Partei Chinas verkündete, präsentieren einen konzisen politischen Gegenentwurf – erst recht nicht mit globaler Attraktivität. Im Gegenteil: Beide Regime beschränken sich darauf, dem „westlichen Modell“ seine Allgemeingültigkeit abzusprechen, indem sie die angebliche Besonderheit des eigenen Landes postulieren. Doch Zustimmung erkaufen sich diese Regime mit wirtschaftlichen Wohltaten; Unzufriedenheit versuchen sie, mit Nationalismus zu begegnen; als Antwort auf Opposition steht ihnen nur Repression zur Verfügung. Ein Konzept, wie sich der thymos der Herrscher mit dem der Beherrschten in Einklang bringen lässt, hat bislang kein autokratischer Staat hervorgebracht. Ob sich Diktatur und Marktwirtschaft tatsächlich dauerhaft vereinbaren lassen, wie unter Verweis auf China behauptet wird, muss sich zeigen. Die massiven Korruptionsprobleme, die das Land plagen, sprechen dafür, dass eine leistungsfähige Wirtschaft dauerhaft nicht ohne eine Regierung möglich ist, die in der Verantwortung der Bevölkerung steht.

Nicht alternativ-, aber konkurrenzlos

Theoretisch ist der demokratische, liberale Rechtsstaat mit marktwirtschaftlicher Ordnung also weiterhin konkurrenzlos. Dennoch hat er seit Erscheinen von Fukuyamas Werk an Boden verloren. Seit 1992 ist die Zahl der Demokratien in der Welt zurückgegangen. Selbst in demokratischen Musterländern wie Großbritannien, Frankreich oder den USA gerät die liberale Ordnung unter dem Druck von Populisten und Nationalisten in Bedrängnis. Woran liegt das? Zwei Gründe lassen sich erkennen: Leistungsverlust und Hybris. Auch die liberale Demokratie ist nicht der Notwendigkeit enthoben, ihre Fähigkeit zur Problemlösung ständig unter Beweis zu stellen. Wo sie dies versäumt, wie etwa in den USA, können Populisten wie Trump Erfolg haben. Zudem haben die Ereignisse der vergangenen dreißig Jahre gezeigt, dass der liberalen Demokratie zwar kein ebenbürtiger Gegner erwachsen ist, dass aber die Erwartung ihrer flächendeckenden Durchsetzung in kurzer Zeit – was Fukuyama so übrigens nicht formuliert hatte – nicht gerechtfertigt war. Die Optimisten haben die Voraussetzungen für funktionsfähige Demokratien vernachlässigt; das zeigen die Beispiele im Nahen Osten vom Irak bis Libyen.

Bescheidenheit ist angesagt – gepaart mit der Zuversicht, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Marktwirtschaft weltweit wenn nicht alternativlos, so doch auf längere Sicht konkurrenzlos sind. Etwas weniger bescheiden, aber inhaltlich überzeugend formulierte Fukuyama es selbst: „History is still going our way“!

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Alexander Brakel, geboren 1976 in Bonn, Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Jerusalem, Israel.

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