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Von kirchlicher Zensur zu theologischer Orientierung - das "Handbuch Theologie und Populärer Film"

Thomas Bohrmann, Werner Veith, Stephan Zöller (Hrsg.): Handbuch Theologie und Populärer Film, Band 3, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2012, 377 Seiten, 39,90 Euro.

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Schauplatz der Handlung: ein verschlafenes Dorf im Sizilien der 1950er-Jahre. Der Pfarrer des Ortes lässt sich im Kino die neuesten Filme vorführen. Und immer, wenn eine leidenschaftliche Liebesszene über die Leinwand flimmert, läutet er ein Glöcklein als Signal für den Filmvorführer: Moralisch verwerflich! Diese Szene muss aus dem Streifen herausgeschnitten werden!

Zu sehen ist diese Szene in dem Film „Nuovo Cinema Paradiso“, den der italienische Regisseur Giuseppe Tornatore 1988 gedreht hat. Der gezeigte Vorgang hat für ihn tief symbolische Bedeutung. Er soll Zuschauern von heute signalisieren: Das waren noch Zeiten – und wenige Jahrzehnte sind sie erst her –, als katholische Pfarrer noch Filmzensur spielen konnten, als die Kirche noch als Wächterin von Sitte und Moral einem Massenmedium wie dem Film gegenüber auftreten konnte mit der Macht, das „Unsittliche“ zu verbieten. Peter Hasenberg, seit 1989 Vorsitzender der Katholischen Filmkommission für Deutschland, Mitherausgeber der Zeitschrift FILMDIENST und Mitglied im Projektleiterkreis der Forschungsgruppe „Film und Theologie“, hat in seinem Beitrag nicht zufällig auf die eingangs geschilderte Szene aufmerksam gemacht und aus ihr für die Anfänge der kirchlichen Filmkritik gefolgert: „Für das Verhältnis von Kirche und Film kristallisierten sich sehr schnell zwei Grundeinstellungen heraus, die bis heute in der Medienarbeit zu finden sind: Die eine Position betont die Risiken, die andere die Chancen des neuen Mediums. Die Kirche äußert sich in der Funktion des Wächters und Mahners zu Medienentwicklungen.

Die Haltung der katholischen Kirche, vor allem der Amtskirche, gegenüber dem Film in den Anfangsjahren entsprach dem weitverbreiteten bürgerlichen Standpunkt. Kino wurde vor allem als Bedrohung für die Jugend gesehen. Die Argumente der Diskussion waren nicht neu: Das Massenmedium Film bot noch einmal in verschärfter Form all die Probleme, die sich mit der sogenannten Schmutz- und Schundliteratur schon ergeben hatten.“ Kurz: „Kirche und Kino erschienen anfangs wie zwei unvereinbare ‚Welten‘.“

Und man erinnert sich in der Tat noch lebhaft an die von den Kirchen mitgetragene Moralkampagne gegen angebliche „Skandalfilme“ wie „Die Sünderin“ (mit der jungen Hildegard Knef) von 1951 oder „Das Schweigen“ von 1963, das den schwedischen Regisseur Ingmar Bergman weltberühmt machen sollte.

Peter Hasenbergs Beitrag „Mehr als Skandalfilme [...] Geschichte und Ziele der katholischen Filmarbeit in Deutschland“ findet sich in dem 2012 erschienenen Band Handbuch Theologie und Populärer Film. Damit liegt jetzt der dritte und letzte Band dieses „Handbuchs“ vor. Die drei Herausgeber, allesamt katholische Theologen mit einem Schwerpunkt in Sozialethik, Thomas Bohrmann (München), Werner Veith (zuletzt Augsburg) und Stephan Zöller (München), hatten schon 2002 den ersten und 2009 den zweiten Band publiziert. Und schon die drei Stichworte im Titel „Handbuch“, „Theologie“ und „populärer“ Film signalisieren, wie weit man mittlerweile von den Anfängen kirchenamtlichen Misstrauens gegenüber dem Medium Film entfernt ist.

 

Nicht zensieren, sondern zum Diskurs befähigen

Drei Entwicklungen haben diese Entspannung begünstigt: Zum einen ist in gut einhundert Jahren – beschleunigt durch technologische Entwicklungen ungeahnten Ausmaßes (Stichwort: „Internet“) – der Film zu einem festen Bestandteil der Wirklichkeitswahrnehmung von mehreren Hundert Millionen Menschen geworden. Das medial vermittelte Sehen mit seinen Chancen (Aufklärung und Bereicherung) und Risiken (Verführung und Manipulation) hat sich derart behauptet, dass es aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken ist. Sich dem zu verweigern, wäre wirklichkeitsfremd. Darauf nur kirchlich verengt und moralinsauer zu reagieren, ginge an der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbei. Gerade der „populäre Film“ – auf den die Herausgeber sich ohne jeden Anflug kulturpessimistischer Verachtung für das nur „Populäre“ konzentrieren, Filme also mit international größter Wirkung bei einem „Massenpublikum“ – spiegelt Zeitströmungen wider, die gedeutet werden wollen und müssen. Angesichts dieser für hochkomplexe Informationsgesellschaften wie die unsrige typischen Entwicklungen brauchen Menschen nicht kirchenamtliche Stimmungsmache gegen einen verflachten Massenkonsum oder Entrüstung über skandalisierte Einzelfilme, sondern Orientierung und sachliche Auseinandersetzung mit dem ganzen Spektrum „Film“. Kurz: Die Menschen brauchen theologisch fundierte Diskursfähigkeit. Als zusammenfassendes und die Entwicklungen aufarbeitendes „Handbuch“ will auch der verlegte dritte Band zu dieser Diskursfähigkeit beitragen. Das ganze Unternehmen heißt denn auch bewusst nicht „Kirche“, sondern „Theologie“ und „Populärer Film“.

 

Produktive Auseinandersetzung

Ein Zweites kommt hinzu. In den großen christlichen Kirchen hat sich seit den 1980er-Jahren eine Filmkritik durchgesetzt, bei der theologischer und zugleich filmästhetischer Sachverstand eine fruchtbare Synthese eingegangen sind. Man respektiert damit zunächst einmal die ästhetischen Eigengesetzlichkeiten des Films als Kunstwerk mit seinen eigenen Möglichkeiten der Erschließung und Deutung von Wirklichkeit. Einem solchen hochartifiziellen und zugleich wirkungsstarken Medium gegenüber ist in erster Linie Verstehen angesagt: Hintergrundinformationen zu Entstehung und Machart eines Films, zu Personal vor und hinter den Kameras, zum verfilmten Stoff und seiner visuellen Bearbeitung. Hatte kirchliche verengte Kritik beim Medium Film vor allem Selbstbestätigung des Glaubens gesucht: von pathetischen Bibelfilmen („Die 10 Gebote“) über harmlos-humorvolle Priesterfilme („Pater Brown“) bis zu kitschigen Heiligenfilmen („Das Lied von Bernadette“), sucht theologisch fundierte, diskursfähige Filmkritik heute die Herausforderung für den christlichen „Glauben“ als einem lebendigen Suchprozess. Gerade das „Fremde“, „Sperrige“ und „Rätselhafte“, das also, was Christliches oder Kirchliches nicht sofort bestätigt, kann zu einer produktiven Herausforderung werden.

Dieser Wandel der Filmkritik schlägt sich im dritten Band in einem eigenen Teil nieder: „Kirchliche Filmarbeit“ (Teil B). In schöner ökumenischer Ausgewogenheit werden die Leser gleichermaßen informiert über kompetente katholische und evangelische Filmarbeit, und zwar in allen drei deutschsprachigen Ländern: Deutschland, Österreich und der Schweiz. Wer somit als Leser/-in zum Beispiel die bundesdeutsche Perspektive aufbrechen und sich informieren lassen will über „die Wege des Films in der evangelisch-reformierten Schweiz“, lese den hochinformativen Beitrag von Christine Stark unter dem schönen Titel „Vom Einbruch der Bilder in ein wortzentriertes Milieu. Über große Rollen und kleine Kabel“. Er beginnt mit dem selbstbewussten Satz: „Die Schweiz mag klein sein, in der kirchlichen Filmarbeit ist sie groß.“

 

„Avatar“, „Herr der Ringe“ und „Jurassic Park“

Eine dritte Entwicklung kommt hinzu. Seit den 1980er-Jahren hat sich eine Filmforschung auf wissenschaftlichem Niveau etabliert, die auch der Deutung von religiösen oder religiös relevanten Filmen zugutekommt. Teil A des „Handbuchs“ („Perspektiven und Positionen“) trägt dem Rechnung. Eine solche Forschung geht an Filme mit einem sachgemäßen Methodenpluralismus heran und verbindet bei der Analyse von religiösen Themen medien- und religionswissenschaftliche Aspekte. Dabei wird in den einzelnen Beiträgen viel an begrifflichen Unterscheidungen und Kategorisierungen investiert, um der Fülle von „Religionsbezügen“ in unterschiedlichsten Filmen gerecht zu werden, zumal man auch mit dem Faktum rechnen muss, dass solche Religionsbezüge „keineswegs immer einen spezifisch religiösen Sinn haben müssen“. So unterscheidet Thomas Hausmanniger – kulturwissenschaftliche Zugänge zum Film aufnehmend – zwischen affirmativen, neutralen, inversiven und kritischen Bezügen zur Religion. Harald Schroeter-Wittke differenziert zwischen „impliziter und expliziter Religion“ mit dem Ziel, zu klären, inwiefern religiöse Themen im populären Film auch ein legitimes Unterhaltungsbedürfnis der Menschen befriedigen können. Andere Beiträge reflektieren das pädagogische Potenzial des Gegenwartskinos und fragen danach, inwieweit der populäre Film sogar „religiöse Bildung“ (Ingo Reuter) zu leisten imstande ist. Immerhin ist der große Spielfilm wie kaum ein anderes Massenmedium Spiegel unserer pluralen Gesellschaften, ist das moderne Kino wie kaum ein anderer Raum buchstäblich Projektionsfläche von gesellschaftlichen Befindlichkeiten und so Seismograf von Emotionen, Erschütterungen, Ängsten und Hoffnungen, nachzulesen in dem instruktiven Beitrag von Jennifer Milana „Soziologische Annäherungen an den populären Spielfilm“, der die These eindrucksvoll belegt: „Die Glaubensverfasstheit einer Gesellschaft zeigt sich unter anderem auch an Filmen, die in dieser Gesellschaft breiten Raum erfahren.“

Wie sehr das zutrifft, zeigt der dritte und letzte Teil des Handbuchs: zehn umfassende Analysen zu elf kommerziell höchst erfolgreichen Kinoproduktionen, deren Massenerfolg nicht selten Anlass war, sie „seriell“ fortzusetzen. Angefangen von „Avatar“ über die „Herr der Ringe“ und die „Jurassic Park“-Trilogie reicht das Spektrum der exemplarischen Studien bis zu den „Star Wars“-, „Star Trek“- und „Terminator“-Produktionen und der vierteiligen „Shrek“-Serie. Abgerundet wird das Ganze durch ein Kapitel über die Verfilmung des Dan Brown-Bestsellers „The Da Vinci Code“ im Jahre 2006 durch Ron Howard. Diese Kapitel kommen erfreulicherweise auch denjenigen entgegen, die weder die entsprechenden literarischen Vorlagen gelesen noch die Filme je gesehen haben. Denn präzise werden zunächst die zum Teil verwirrenden, über mehrere Teile sich hinziehenden Handlungsstränge rekonstruiert, wird das Nötigste gesagt zur Regie, zu den Figuren und ihren Darstellern, aber auch zur Einbettung in die jeweilige Zeitgeschichte, bevor Bezüge zur Welt der Religionen (im weitesten Sinn) gezeigt, analysiert und eingeordnet werden. Und diese Religionsbezüge sind vielfältig, ob es wie bei der „Herr der Ringe“-Trilogie um den „existenziellen Kampf Gut gegen Böse“, in den „Star Wars“-Produktionen um das Spiel mit dem mythischen Motiv des „göttlichen Kindes“ geht, „das die Rettung der Menschen und das Heilwerden der Welt bewirkt“, oder in den „Jurassic Park“-Streifen um das durch den technologischen Machbarkeitswahn erzeugte gestörte Verhältnis des Menschen zur Natur, die um ihrer selbst willen geachtet und respektiert werden will.

 

Nicht berieseln, sondern bereichern

All diese Analysen haben einen hohen Informations- und zugleich einen hohen Unterhaltungswert, wobei der Beitrag von Matthias Wörther ein besonderes intellektuelles Vergnügen bereitet. Zu den Filmen „The Da Vinci Code“ und „Angels And Demons“ ist hier ein brillant geschriebener „Kurz-Index“ zusammengestellt, der die Machart und das geistige Profil solcher Filme auf Stichworte bringt. Sie reichen von „Abendmahl“ und „Apokalypse“ bis zu „Verschwörungstheorien“, „Wissenschaft“ und „Zeichen“. Das „Handbuch“ wird überdies abgerundet durch eine für alle drei Bände gültige umfassende Bibliografie, durch eine Liste von Internetadressen, eine Filmografie und ein Gesamtregister der einzelnen besprochenen Filme.

So löst dieses „Handbuch“ ein, was Peter Hasenberg stellvertretend für die katholische Filmarbeit als Anspruch erhoben hat: „Katholische Filmarbeit bietet heute zahlreiche Angebote von Orientierung zur Bewertung des Filmangebotes in seiner ganzen Breite. Der Ansatz einer vollständigen Erfassung hat zur Folge, dass neben allen Filmen, die in den Kinocharts Erfolge verbuchen, gerade auch solche Bereiche im Blick bleiben, die von der Filmkritik in der Tagespresse und anderen Filmzeitschriften kaum noch oder gar nicht mehr berücksichtigt werden: Filmkunst jenseits des Mainstream, kleine Dokumentarfilme mit großem Engagement, Kinderfilme mit Anspruch, ausländische Produktionen aus Ländern, die kaum Berücksichtigung finden. Dabei finden auch Filme mit religiös relevanten Themen besondere Aufmerksamkeit [...] Wenn also die katholische Filmarbeit das Glöckchen läutet, wie es der Pfarrer in ‚Nuovo Cinema Paradiso‘ tut, geht es nicht um Zensur, sondern darum, die Aufmerksamkeit zu wecken für Filme, die den Zuschauer nicht einfach berieseln, sondern bereichern.“


Karl-Josef Kuschel, geboren 1948 in Oberhausen, lehrt Theologie der Kultur und des inter- religiösen Dialogs an der Fakultät für Katholische Theologie der Eberhard Karls Universität Tübingen. Er ist Verfasser des Buches „Weihnachten bei Thomas Mann“ (2008). Zuletzt erschien: „Leben ist Brückenschlagen. Vordenker des interreligiösen Dialogs“ (2011).

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