Asset-Herausgeber

Die öffentliche Debatte nach den Kölner Ereignissen erfordert Deeskalation

Asset-Herausgeber

„Wir dürfen uns nicht hochschaukeln“, pflegte einer meiner Brüder zu sagen, wenn es unter uns Geschwistern wieder mal heiß herging und es ein Zorngewitter der elterlichen Ordnungsmacht zu vermeiden galt. Diese Mahnung ist mir beim Medienkonsum der letzten Monate, besonders aber in den Anfangstagen des neuen Jahres, zur häufigen Begleiterin geworden. Situationskontrolle und Deeskalation heißt sie ins Politische übersetzt – und beides tut in Deutschland not.

Das Jahr 2016 begann fraglos turbulent: Schließung des Münchner Hauptbahnhofs wegen Terrorgefahr in der Silvesternacht; Gewalt gegen Frauen in Köln. Am 2. Januar hob mit jedem neu bekannt werdenden Detail von der Domplatte und zugleich steigender Undurchsichtigkeit der Vorfälle ein Kommentarcrescendo an, bei dem nicht zuletzt der Widerspruch zwischen dem häufig gebrauchten Wort „ratlos“ und dem Schwall öffentlicher Redsamkeit zu denken gab. Die ersten Flüge der Bundeswehr über Syrien waren gerade zu registrieren, als bei einem Anschlag in Istanbul zehn Deutsche den Tod fanden. Es ist weiter höchst fraglich, ob dazwischen ein direkter Zusammenhang besteht. Dennoch überdenkt jetzt mancher seine Urlaubsplanung. Auch Pegida war noch da, und in Köln und Leipzig übte der rechte Mob den Rückfall ins Faustrecht.

 

Im Kern gesund und bei Kräften

Was ist los in Deutschland? Das fragen nicht nur Freunde im Ausland. Wer allein diese Geschehnisse der ersten Januartage zum Maßstab nimmt, dem mag es unwohl werden. Gleichzeitig rät nicht nur die Alltagsklugheit dazu, sich nicht hochschaukeln zu lassen. Man tut gut daran, mit Erich Kästner nach dem Verbleib des Positiven zu fragen, bevor sich die politischen Pathologen an ihr sinnvolles Werk begeben. Wer den Blick auch auf das Positive weitet, der wird den Patienten Deutschland nicht als so kränklich empfinden können, wie er manchem nach den verstörenden Bildern des Jahresanfangs erscheinen mag: Noch nie hatten in Deutschland so viele Menschen Arbeit wie heute. Die Nachfrage nach Beschäftigten kletterte auf Rekordniveau. Selten gab es in deutschen Betrieben und Behörden so viele freie Stellen. Auch die Nachricht, dass der Bund 2015 einen Überschuss von dreizehn Milliarden Euro erzielte, verhallte nahezu unbemerkt. Erstaunlich ist aber, dass weder die schwindelerregende Kauflaune der Deutschen zu den Festtagen noch die pompöse Pyrotechnik, mit der das neue Jahr allerorten begrüßt wurde, die mediale Untergangsstimmung aufzuhellen imstande waren. Zum Gesamtbild Deutschlands im Januar 2016 gehört: Der Patient ist im Kern gesund und bei robuster Kraft.

Der eingebildete Kranke hat – bei allen unübersehbaren Schwierigkeiten – in den vergangenen Monaten auch bei der Aufnahme von nahezu einer Million Flüchtlingen Erstaunliches geleistet. Das verdient nicht nur Dank und Anerkennung, sondern ist ein gar nicht hoch genug einzuschätzendes Zeichen dafür, dass engagiertes Zupacken, wenn es darauf ankommt, nicht das Problem ist. Die Bundesrepublik Deutschland verfügt zweifellos über ein hohes Maß an Gemeinsinn. Vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge über Polizei und Grenzschutz, Landesbehörden und Kommunalverwaltungen bis zu den vielen – nein, sehr vielen – ehrenamtlichen Helfern aus der Zivilgesellschaft, ja bis hin zu Fünf-Euro-Spendern, haben die Deutschen angepackt und in unglaublichem Umfang Not und Nöte gewendet. Die Politik ist gut beraten, bei allfälliger Abstattung von Dank und Anerkennung durchblicken zu lassen, dass alle Helfer aus Staat und Zivilgesellschaft nur „supererogatorisch“ Kohlen aus dem Feuer holen. Normallage kann und soll das auch nicht werden.

 

Fünf Themen für den Pathologen

Dies – und vieles andere – Positive muss dann aber auch dazu führen, sich den Befunden des Pathologen zu stellen. Mit mindestens fünf Themen müssen wir uns befassen: erstens mit einem aus „wutbürgerlichen“ (welch ein Widerspruch in sich!) Protesten einer kleinen, aber umso lautstärkeren Minderheit sprechenden politischen „Resonanzverlust“ (H. Rosa). Er wird gespeist aus der Wahrnehmung und dem Gefühl heraus, nicht gehört und nicht repräsentiert zu werden, in Teilen auch aus einem mehr und mehr zum Fatalismus führenden Empfinden von Perspektivlosigkeit, das nach Kompensation sucht. Wir müssen in aller Offenheit über Ängste reden, vor Terror und Gewalt, vor sozialer Deprivierung, vor sozialem Wandel durch Fremde in der Nachbarschaft, auch durch wirklichen oder propagierten Resonanzverlust.

Vor allem müssen wir über das Vermeiden von Hysterie gründlich nachdenken und offen reden! Barack Obama hat dieses Thema in seiner letzten „State of the Union“ Rede angesichts aufschäumender Angstpsychosen in der amerikanischen Öffentlichkeit nachdrücklich angemahnt (er kann sich solches leisten, da er nicht wiedergewählt werden kann). Es ist bei Weitem nicht allein ein Problem der amerikanischen Gesellschaft. Auch wir in Deutschland müssen uns zu dem Lächerlich , ja Verächtlichmachen von Politik und Politikern in den offenbar immer „beliebter“ werdenden Polit-Comedies verhalten. Wir müssen uns ferner sehr ernst und detailliert mit dem rapiden Absinken von Hemmungen, zum Beispiel in Blogs, mit offen zur Schau gestelltem Hass und durch beides begünstigter, steigender Gewaltbereitschaft auseinandersetzen.

Und wir müssen uns schließlich der Gefahr einer Spirale des „Wir-und-die-Bösen“-Denkens im politischen Raum stellen. Jedes dieser Themen bedarf gründlicher Analyse und unbefangener, faktenorientierter und offener Debatte, die hier nur angemahnt werden können. Die Auseinandersetzung mit diesen Themen ist deshalb unerlässlich, weil jedes einzelne das Zeug dazu hat, zu neuen Angstpsychosen auf der einen und zu einer die Apathie der Zivilcourage vorziehenden „Lass-mich-in-Ruhe“-Haltung auf der anderen Seite beizutragen.

 

Gefangen in der Political Correctness

Nur von einem Hindernis, auf das die offene und unbefangene Debatte in Deutschland gegenwärtig stößt, soll hier die Rede sein – einem Hindernis zudem, das dem Anspruch einer offenen, demokratischen Gesellschaft Hohn spricht: der selbstverschuldeten Gefangenschaft in politischer Korrektheit. Die Debatte über Asyl und Zuwanderung in der Bundesrepublik Deutschland ist seit den 1990er-Jahren ein Musterbeispiel für Tabuisierungen im Namen politischer Korrektheit. Man erinnere sich an konservative Immunisierungen gegen die Forderung, Deutschland möge sich als Einwanderungsland verstehen, vor allem aber an die abkanzelnden Proteststürme, die Friedrich Merz mit dem Stichwort der „Leitkultur“ auslöste, und man führe sich vor Augen, dass die Vorstellung einer „multikulturellen Gesellschaft“ zum verbalen Spaltpilz des politischen Deutschland wurde. Tabuisierungsstrategien obsiegten ein über das andere Mal über unbefangene, nüchterne und offene Debatten. Die Beispiele sind vermehrbar, auch um die in vielfacher Weise fragwürdigen Begriffe „Obergrenze“ hier und „Willkommenskultur“ dort. Mit einer Kultur unvoreingenommener und offener Debatten, die einer Demokratie und einer „offenen Gesellschaft“ angemessen wären, tut sich Deutschland enorm schwer.

 

Örtliches behördliches Fehlverhalten, kein allgemeines Staatsversagen

Für jede Demokratie ist Meinungsbildung ein sehr anspruchsvoller, voraussetzungsreicher und regelgeleiteter, dauerhafter und für die Stabilität eines demokratischen Gemeinwesens entscheidender Prozess. Zur Meinungsbildung gehört Streit, auch heftiger, emotionaler Streit – der politische Aschermittwoch lässt grüßen. Schon der griechischen Demokratie galt Eris, die Streitgöttin, als Schutzpatronin der Agora. Aber es geht immer um den von gegenseitigem Respekt und von Verständigungsbereitschaft getragenen Streit. Der deutsche Föderalismus hat es in diesem Geist geschafft, zwischen bajuwarischer Deftigkeit und der kühlen Klarheit des Nordens eine stabile Republik zu zimmern. Zur Meinungsbildung gehört zweitens Zeit. Nicht die Emotion des Augenblicks, sondern gründliche Information und ebenso gründliche Prüfung der eigenen Meinung am Einspruch Andersdenkender führen zu vertretbaren Positionen auf dem Markt der Meinungen. Eine auf den Prozess verantwortlicher Meinungs- und Urteilsbildung gerichtete Reduzierung der wachsenden Komplexität politischer Sachverhalte durch Medien ist eine dritte unerlässliche, freilich nicht immer eingelöste Voraussetzung.

An diesem Maßstab gemessen, steht der öffentliche Diskurs in Deutschland tatsächlich in der Gefahr des Entgleisens. Das zeigt das Beispiel Köln in besonderer Weise. Wir erleben unter wortreichen Kommentierungen, dass die Dinge Zeit brauchen: Was genau ist passiert? Wer sind die Urheber, was sind die Ursachen? Warum konnte es nicht verhindert werden? Welche Lehren sind zu ziehen, wie kann künftig Prävention verbessert werden? All diese Fragen sind lückenlos und unmissverständlich zu beantworten, und die Mitwirkung der Polizei in diesem Klärungsprozess ist lobenswert.

Was hingegen schädlich ist, ist das rasche Aufeinander-losgehen wohlfeiler „Ismen“ und das jeder Sachaufklärung vorgängige Zuschustern von Verantwortung und Schuld zum Zweck der Anheizung politischer Suppenküchen. Bei den Vorkommnissen in Köln handelt es sich um Verbrechen, die in dieser Form in Deutschland neu sind, aus denen zu lernen ist. Es ist aber bei allen nicht zu leugnenden Fehlern örtlicher Behörden kein Anzeichen von Staatsversagen, sondern vielmehr eine Herausforderung an den Staat, die Vorkommnisse zu untersuchen, nach bestem Wissen und Gewissen Konsequenzen zu ziehen und dabei aus Fehlern zu lernen. Dem Staat den Kredit zu geben, diesen Prozess abzuwarten, ist auch eine Anforderung an eine demokratische Gesellschaft. Die öffentliche Sicherheit in Deutschland ist nicht in Gefahr; und wer aufgrund der Silvesterereignisse den Kölner Hauptbahnhof aus Angst meidet oder zu meiden rät, muss sich fragen lassen, woher er oder sie die Tollkühnheit nimmt, sich den Gefahren des Straßenverkehrs auszusetzen. Hysterie hilft niemandem, am wenigsten den Polizistinnen und Polizisten, die es zu stärken gilt.

 

Nicht leichtfertig über Grenzen reden!

Das zweite Beispiel ist Europa: Wer konnte ernstlich erwarten, dass ein Europa ohne Grenzen, das wir geschäftsbedingt brauchen und urlaubsbedingt genießen, von heute auf morgen stressfrei zu bewerkstelligen ist? Und wer konnte und kann ernstlich erwarten, dass ein funktionierendes Sicherungssystem der Außengrenzen Europas, das den Anforderungen einer neuen Völkerwanderungszeit genügt, von jetzt auf gleich errichtet werden kann? Und wer kann vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte der letzten Jahrhunderte ernstlich erwarten, dass eine aus 28 Staaten bestehende Europäische Union aufs Kommando genügend Einvernehmen und Solidarität aufbringt, um die Konflikte ihrer südlichen Peripherie zu befrieden und Fluchtursachen im Keim zu ersticken? In allen diesen Fragen haben die letzten Jahrzehnte – und Monate – wenn auch wenige, aber doch Fortschritte erbracht – natürlich auch neue Probleme geschaffen. Aber ist es klug, alle Pflänzchen, die mit der Abschaffung der Binnengrenzen in den Boden kamen und ja durchaus bereits Früchte tragen, in akuter, aber doch behebbarer Kurzatmigkeit mit der Forderung nach Wiedereinführung der Binnengrenzen zu zertrampeln, statt die Energien mit langem Atem in die europäische Baustelle zu lenken, die ohne diese Energien zur teuersten Bauruine der Geschichte zu werden droht?

Gedeihen kann langatmiges Vermeiden des Aufschaukelns nur in einem gemäßigten Klima. Weder die Hitze der Hysterie noch kalte Angst sind ihm förderlich. Demokratie und Liberalität brauchen Nüchternheit, Sicherheit und Verlässlichkeit. Der Politik, den Kommentatoren, auch den Predigern der politischen Korrektheit sei in Erinnerung gerufen, was Martin Luther einst den Fürsten ins Stammbuch schrieb: „Jede Gewalt“ – und hier, aber auch nur hier sei das falsche Selbstverständnis der Medien als „vierte Gewalt“ einmal gestattet – könne und solle nur da handeln, „wo sie sehen, erkennen, richten, urteilen, wandeln und ändern kann“. Dazu helfe Gott! Und dazu helfen wir Bürger, indem wir zwar von den Ereignissen zu Beginn des Jahres erschreckt sind, aber uns davon auch nicht hochschaukeln lassen.

 

Klaus Dicke, geboren 1953 in Koblenz-Rübenach, Professor für Politikwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; derzeit Fellow am Max-Weber-Kolleg Erfurt.

comment-portlet