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Neue Forschungen zur Geschichte der Ersten Republik 1918 bis 1933/38

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Lothar Höbelt: Die Erste Republik Österreich (1918–1938). Das Provisorium, Böhlau Verlag, Wien 2018, 456 Seiten, 38,00 Euro.

Stefan Karner (Hrsg.): Die umkämpfte Republik. Österreich von 1918–1938, StudienVerlag, Innsbruck 2017, 384 Seiten, 34,90 Euro.

Anton Pelinka: Die gescheiterte Republik. Kultur und Politik in Österreich 1918– 1938, Böhlau Verlag, Wien 2017, 319 Seiten, 29,00 Euro.

Alfred Pfoser / Andreas Weigl: Die erste Stunde Null. Gründungsjahre der österreichischen Republik 1918–1922, Residenz Verlag, Salzburg 2017, 360 Seiten, 28,00 Euro.

Walter Rauscher: Die verzweifelte Republik. Österreich 1918–1922, Kremayr & Scheriau, Wien 2017, 224 Seiten, 22,00 Euro.

 

Vor 100 Jahren wurde durch die Ratifizierung des Friedensvertrages von Saint-Germain die erste Demokratie auf österreichischem Boden gegründet. Welche Entwicklung nahm die sogenannte Erste Republik ab 1918, bis sie 1933 vom austrofaschistischen Ständestaat und nach dem „Anschluss“ im März 1938 vom nationalsozialistischen Deutschland zu Grabe getragen wurde? Woran scheiterte die Erste Republik, und war ihr Niedergang unausweichlich?

Die Republik startete im November 1918 mit der Hypothek eines verlorenen Krieges. Die Gründungsphase war gekennzeichnet von Versorgungsengpässen, Streiks und Unsicherheiten. Dennoch hatten die Kommunisten kaum Zulauf, und die Sozialdemokraten wollten keine Revolution. Der Machttransfer vom Kaiserreich zur Republik, geleitet durch die 1911 gewählten Abgeordneten der Nationalversammlung, aus deren Mitgliedern eine provisorische Regierung nach Proporz gebildet wurde, ging im Gegensatz zu anderen Verliererstaaten des Ersten Weltkriegs ohne bürgerkriegsähnliche Zustände über die Bühne. Es herrschte pragmatischer Realismus und Kompromissfähigkeit, etwa in Bezug auf die neue Verfassung und die obersten Organe, wie Anton Pelinka immer wieder betont, auch wenn die neue Republik von keiner Seite wirklich geliebt wurde.

Ebenso blieb zu Beginn unklar, welche Form und welche Gebiete der neue Staat erhalten sollte. Als die zentrifugalen Tendenzen der nicht-deutschen Nationalitäten immer deutlicher wurden, suchte man in Wien den „Anschluss“ an den deutschen Nationalstaat. Walter Rauscher und Anton Pelinka legen überzeugend dar, dass dieser Gedanke keineswegs auf das Großdeutsche Lager beschränkt blieb. Die Sozialdemokraten waren dafür, da sie Deutschland nach der Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann als Hort des republikanisch-freiheitlichen Fortschritts sahen. Nur die Christlichsozialen waren skeptisch. Sie fürchteten, der in ihren Augen gefährlichen Trias – Preußen, Protestantismus, Sozialdemokratie – Tür und Tor zu öffnen.

 

Hoffnungen zunichtegemacht

Der Anschlusswunsch wurde bei der Ausrufung der Republik „Deutsch-Österreich“ – so wurde das verbliebene Staatsgebiet in Anlehnung an die  deutschsprachigen Gebiete Österreichs zunächst genannt – durch die provisorische Nationalversammlung am 12. November 1918 fest verankert. Der neue Staat beheimatete nur circa sechs Millionen der ehemals 55 Millionen Staatsbürger des untergegangenen Habsburgerreichs, die zudem keineswegs durch einen patriotischen Geist vereint waren. Manche Bundesländer verfolgten eine anti-zentralistische Agenda, wie Lothar Höbelt detailliert ausführt. Umstrittene Grenzgebiete in Kärnten, der Steiermark und „Deutschböhmen“ wurden durch Selbst- und Heimatschutzverbände gegen die neuen Nachbarn verteidigt. Zeitgleich grassierte die kriegsbedingte Inflation weiter. Die Industrie war von ihren vormaligen Absatzmärkten abgeschnitten, und die „Provinz“ musste die hungernde Hauptstadt ernähren, was Stadt-Land-Animositäten befeuerte (Rauscher, S. 87). „Deutsch-Österreich“ blieb auf Kohlelieferungen aus den Nachbarstaaten angewiesen, die diese als Druckmittel in den Verhandlungen um Gebietsansprüche einsetzten. Der Anschlussgedanke muss daher auch als Mittel gegen den zunehmenden Partikularismus, außenpolitische Drohkulisse und Überwindung des Traumas der Niederlage gesehen werden.

Die Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung im Februar 1919 endeten in einem knappen Sieg der Sozialdemokraten vor den Christlichsozialen und Deutschnationalen – die drei großen politischen Lager der Monarchie blieben also auch fortan tonangebend. Die große Koalition aus Sozialdemokraten und Christlichsozialen wurde fortgesetzt, doch viele Hoffnungen wurden im Sommer 1919 durch die Friedensbedingungen zunichtegemacht: Ein Drittel des Staatsgebiets musste abgetreten werden, Artikel 88 verbot den „Anschluss“, und selbst der Name wurde mit „Republik Österreich“ fremdbestimmt und mit der Ratifizierung des Vertrages von Saint-Germain am 21. Oktober 1919 übernommen. Der Friedensschluss wurde, nicht in finanzieller, sondern eher in politischer und symbolischer Hinsicht, ähnlich dem Versailler Vertrag zu einer Belastung für die Republik, die in den Folgejahren durch wirtschaftlich schwieriges Fahrwasser steuerte.

Im Oktober 1922 gab es – gegen eine erneute Zusicherung, in den nächsten zwanzig Jahren keinen „Anschluss“ zu vollziehen – einen dringend benötigten Kredit des Völkerbundes in Genf, und die danach einsetzenden Wirtschaftsreformen verbesserten die ökonomische Lage. Zeitgleich bröckelte ab 1922 die „pragmatische Vernunft“ (Pelinka) der Gründungsphase. Bei der Nationalratswahl im Oktober 1920 wurden die Christlichsozialen stärkste Partei, und es entwickelte sich ein wirtschaftsliberaler Bürgerblock – eine Sammelbewegung kleinerer Parteien –, der fortan den Christlichsozialen als Mehrheitsbeschaffer diente. Ab Mai 1922 regierte nur noch dieses Bündnis, während die Sozialdemokraten in die Opposition gingen und nie wieder in die Regierung wechselten. Zudem betrieben diese zunehmend eine Politik der Obstruktion des Nationalrats, also bewusste Verfahrensverzögerungen. In der Hauptstadt Wien blieben die Sozialdemokraten ab 1922 kontinuierlich an der Macht. In den Ländern regierten die Christlichsozialen mit dem Bürgerblock, aber die Sozialdemokraten wurden durch ein informelles Proporzsystem eingebunden. Ein durchaus „kollegiales Klima“ (Höbelt, S. 73) in den Landesregierungen spricht daher gegen eine unausweichliche Radikalisierung.

 

Gesellschaftliche Lagermentalität

Die Mitte der 1920er-Jahre blieb geprägt von der Umsetzung des wirtschaftlichen Sanierungsplans; gleichzeitig manifestierte sich aber die gesellschaftliche Fragmentierung. Die Bruchlinien blieben, wie in der Monarchie, Religion, Klasse und Nation (Pelinka, S. 77 f.). Hinzu kam eine Militarisierung der Innenpolitik: Anfangs gab es viele Selbst- und Grenzschutzeinheiten, aus denen oft die späteren Heimwehrverbände hervorgingen. Die De-facto-Privatarmee der Sozialdemokratie, der Republikanische Schutzbund, war eher Speerspitze der Partei denn der neuen Demokratie und teilweise mehr als doppelt so groß wie das reguläre Heer. Diese Militarisierung bildete ein latentes Gewaltpotenzial, das – gepaart mit starkem Lagerdenken – eine gefährliche Situation schuf.

Doch trotz des Aufstiegs der Heimwehren, die Unterstützung aus dem faschistischen Italien erhielten, trotz der Querelen innerhalb der Regierungskoalition und trotz der Obstruktionspolitik der Sozialdemokraten rutschte die Republik nicht unausweichlich in Chaos und Anarchie ab. Der politische Arm der Heimwehren, der sogenannte Heimatblock, wurde zwar nach den Nationalratswahlen im November 1930 in die Regierung aufgenommen, blieb aber mit seinen acht Mandaten recht unbedeutend. Die Sozialdemokraten wurden zur stärksten Fraktion, und die österreichische Schwesterpartei der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) errang nur drei Prozent der Stimmen. Zeitgleich hatten die Nationalsozialisten in Deutschland einen Anstieg auf achtzehn Prozent erreicht.

 

„Selbstausschaltung des Parlaments“

Die politische Lage verfinsterte sich, als die Weltwirtschaftskrise auch über Österreich hereinbrach, obschon sie nicht als alleiniger Totengräber der Republik gesehen werden darf. Ein Streit über Budgetkürzungen beschleunigte den Zerfall des Bürgerblocks, also des traditionellen Mehrheitsbeschaffers der Christlichsozialen, die ab 1932 eine Minderheitsregierung anführten und sich mit einem massiven Zuwachs der NSDAP bei den Landtagswahlen konfrontiert sahen. In dieser krisenhaften Phase wurde Engelbert Dollfuß im Mai 1932 zum Bundeskanzler ernannt.

Ursprünglich als Übergangslösung angesehen, war er keineswegs der starke Mann der Heimwehren und legte sich auch außenpolitisch nicht sofort auf den faschistischen Block Italiens und Ungarns fest, nicht zuletzt, da er noch die westliche Zustimmung für eine neue Völkerbundanleihe benötigte.

Innenpolitisch wurde 1933 zum Schlüsseljahr, wie alle Autoren hervorheben. Das Abgleiten in die Diktatur geschah nach und nach. Der erste Schritt folgte nach einem Streik der Eisenbahner im März 1933, der zwar von Gewerkschaften aller Lager getragen wurde, jedoch keine Krise nationalen Ausmaßes darstellte. Die Sondersitzung des Parlaments am 4. März 1933 führte zum Rücktritt aller drei Nationalratspräsidenten – ein Fall, den die Geschäftsordnung nicht vorhergesehen hatte, weshalb das Parlament beschlussunfähig auseinanderging. Dollfuß sprach später von der „Selbstausschaltung des Parlaments“ und regierte von nun an unter Berufung auf ein Notstandsgesetz von 1917 am Nationalrat vorbei. Darauf folgte die Gründung der „Vaterländischen Front“ als neue Einheitspartei, die Entmachtung der Judikative sowie das Verbot des Schutzbundes, der Kommunistischen Partei und der NSDAP. Die Sozialdemokratische Partei wurde erst nach dem Bürgerkrieg im Februar 1934 verboten. Der Putschversuch der Nationalsozialisten am 25. Juli scheiterte blutig. Das Bundesheer stellte sich nicht auf die Seite der Putschisten, und der von diesen ermordete Dollfuß wurde durch Kurt Schuschnigg ersetzt, der den Kurs seines Vorgängers weitgehend fortführte. Schuschnigg begrenzte zwar erfolgreich die Macht der Heimwehren und berief viele Technokraten in seine Regierung, geriet aber innen- und wirtschaftspolitisch unter Druck. Zudem konnte er das außenpolitische Kernproblem, das Verhältnis zum Regime Adolf Hitlers, nicht entschärfen. Der „Anschluss“ im März 1938 trug die Erste Republik endgültig zu Grabe.

 

Selbstwahrnehmung als Spielball der Mächte

Musste die Republik zwangsläufig scheitern? Zu Beginn herrschte großer Konsens und der Wille zur pragmatischen Zusammenarbeit. Dies täuschte über die geringe Empathie für die neue Republik hinweg, die deutlicher wurde, als der Anfangskonsens verflog und Politik zunehmend als Nullsummenspiel aufgefasst wurde. Die österreichische Selbstwahrnehmung als Spielball der Mächte sowie der damit verbundene Anschlussgedanke waren zusätzliche Hypotheken. Doch auch in anderen Nachfolgestaaten wurden neue Grenzen, neue politische Systeme und die Rahmenbedingungen der Nachkriegsordnung mit Unbehagen aufgenommen. Österreich war hier kein Sonderfall und blieb länger demokratisch als mancher Nachbarstaat. Auch wenn es wirtschaftlich sicher keine rosigen Zeiten waren, führte die Armut, gerade der ländlichen Bevölkerung und der Mittelschicht, nicht unweigerlich zu einer systemischen Krise oder militanten Radikalisierung. Höbelts umfassende Darstellung der politik- und wirtschaftsgeschichtlichen Aspekte, die einzige der hier besprochenen Studien, die sich auf Primärquellen stützt, verweist immer wieder auf den ergebnisoffenen Prozess und die vielen Grautöne. Pelinka sieht die mangelnde Liebe für die neue Republik als schwerwiegenderes Problem, ebenso die Wahrnehmung der Fremdbestimmung und die hermetische Lagermentalität. Eine Stärke Pelinkas ist der breite Ansatz mit kultur- und sozialhistorischen Aspekten. So zeigt er auf, dass die großen Schriftsteller der Zeit sich wenig für die Republik interessierten: Von Joseph Roth bis Stefan Zweig herrschte weitgehendes Desinteresse.

Die Öffnung der kulturellen Vielfalt hatte auch Schattenseiten, wie der offen zutage tretende Antisemitismus zeigte (Alfred Pfoser / Andreas Weigl, S. 264 ff.), der dennoch in Österreich lange Zeit weniger radikal ausgeprägt war als in vielen Nachbarstaaten (Pelinka, S. 226 ff.). Der Sammelband von Stefan Karner liefert viele gelungene Einblicke in weitere Teilaspekte. Neben der Rolle von Kirchen, Frauen, Parteien, physischer Gewalt, wichtigen Persönlichkeiten und Minderheiten werden auch einzelne Politikfelder unter anderem durch sehr anschauliche Tabellen und Grafiken erläutert. Michael Gehlers fundierte Analyse der österreichischen Außenpolitik von 1918 bis 1938 sticht hier besonders hervor. Wer das Scheitern der Ersten Republik verstehen möchte, der greife zu Lothar Höbelts flüssig geschriebener Gesamtdarstellung. Ein Eintauchen in Einzelaspekte auch durch eine gelungene Bebilderung im Stil eines hochwertigen Museumskatalogs ist mit Stefan Karners exzellentem Sammelband möglich.

 

Bastian Matteo Scianna, geboren 1987 in Worms, Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Militärgeschichte / Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam.

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