Am 18. November 2021 vollendete Klaus Hildebrand das 80. Lebensjahr. In seiner Generation ist er der führende deutsche Historiker der internationalen Beziehungen und der deutschen Außenpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts.
In Bielefeld geboren, studierte er seit 1961 an der Universität Marburg Geschichte, Politische Wissenschaft und Germanistik. Zu seinen prägenden akademischen Lehrern gehörte Andreas Hillgruber, mit dem ihn später eine enge Zusammenarbeit verband. Seit 1965 Wissenschaftlicher Assistent bei Manfred Schlenke in Mannheim, wurde Klaus Hildebrand 1967 mit seiner 1969 veröffentlichten, umfangreichen Dissertation zu einem bis dahin wissenschaftlich nicht untersuchten Thema promoviert: „Vom Reich zum Weltreich. Hitler, NSDAP und koloniale Frage 1919–1945“.
Schon 1972 wurde der damals erst 31-Jährige – heute etwa das durchschnittliche Promotionsalter! – nach mehrjährigen Archivstudien, unter anderem im Public Record Office in London, mit einem Thema zur britischen Außenpolitik im 19. Jahrhundert in Mannheim habilitiert. Diese grundlegenden Qualifikationen als Forscher eröffneten ihm rasch eine glänzende wissenschaftliche Karriere.
Der ersten Professur an der Universität Bielefeld 1974 folgte noch im gleichen Jahr die Berufung zum Ordinarius an der Universität Frankfurt am Main. Weitere ehrenvolle Rufe zeugen von seinem schnell wachsenden, hohen wissenschaftlichen Ansehen: 1977 wechselte er nach Münster, 1982 nach Bonn, wo er nach seiner schweren Erkrankung 2008 bis zur Emeritierung 2010 blieb. Zwischenzeitliche Rufe an die amerikanische Elite-Universität Harvard sowie die Universität München lehnte Klaus Hildebrand ab.
Schwerpunkte des wissenschaftlichen Œuvres von Klaus Hildebrand sind der Nationalsozialismus, das europäische Staatensystem im 19. und 20. Jahrhundert sowie die deutsche Außenpolitik von Bismarck bis zur Bundesrepublik. Hinzu kommen epochenspezifische Schwerpunkte in der britischen Geschichte sowie thematisch übergreifende Darstellungen zu einzelnen Perioden der deutschen Geschichte. Neben quellengesättigten Grundlagenwerken veröffentlichte Klaus Hildebrand prägnante problemorientierte Überblicke und Beiträge zu methodischen Fragen. Seine Schriften zeichnen sich durch klare Konzeption und gepflegten Stil aus.
In den methodischen Debatten wurde er gemeinsam mit Andreas Hillgruber zum Verfechter zwar nicht eines historiographischen „Primats der Außenpolitik“, jedoch einer reflektierten modernen Politikgeschichte gegen die hegemonial auftretende, dogmatisierte Sozialgeschichtsschreibung der „Bielefelder Schule“. Anders, als in dieser Kontroverse oft behauptet, bezieht Hildebrand innenpolitische Bedingungszusammenhänge der Außenpolitik und andere historische Faktoren durchaus mit ein.
Gegen modische Mehrheitsmeinungen
In dem seit den ausgehenden 1960er- und 1970er-Jahren heftig geführten Streit über die Frage, wie polyzentrisch und improvisiert die nationalsozialistische Diktatur gewesen sei und welche Rolle der Diktator Adolf Hitler („schwacher Diktator“?) für die Herrschaftsstruktur gespielt habe, vertrat er mit Karl Dietrich Bracher und anderen Zeithistorikern zwar eine Gegenposition zu den damals aufkommenden historiographischen Tendenzen, doch in reflektierter, undogmatischer Form. Heute gehören diese Debatten der Vergangenheit an, und die multikausalen Interpretationen, zu denen Hildebrand beigetragen hatte, dominieren.
Der Vorzug von Hildebrands historiographischer Position, die er mit Verve auch gegen modische Mehrheitsmeinungen vertrat, besteht unter anderem darin, dass ihre Begründung nicht allein argumentativ, sondern außerdem in seinen großen Werken nachvollziehbar ist. Nach seiner Dissertation veröffentlichte er in rascher Folge kleinere Schriften zur Historiographie über Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg und damit partiell zur Ursachenforschung über den Ersten Weltkrieg, zum „Deutschen Reich und zur Sowjetunion im internationalen System zwischen 1918 und 1932“ sowie schließlich die knappe, aber gehaltvolle Darstellung Deutsche Außenpolitik 1933–1945. Kalkül oder Dogma?, deren Bedeutung schon daran ersichtlich wird, dass sie bis 1990 in aktualisierter Form fünf Auflagen erlebte. Später führte Hildebrand in seinem großen Essay Integration und Souveränität. Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 1982 (erschienen 1991) diese Thematik zeitlich fort.
Sein erfolgreichstes Werk ist vermutlich das zuerst 1979 veröffentlichte Studienbuch Das Dritte Reich, das bis 2009 in siebter, überarbeiteter Auflage sowie in fünf Übersetzungen erschien. Es handelt sich meines Erachtens um die beste kürzere Darstellung des NS-Regimes: Das Werk schildert prägnant Grundzüge und Ereignisse, es analysiert mit souveräner Meisterschaft die entscheidenden Probleme, Interpretationen und methodischen Zugänge zur Erforschung des NS-Regimes. Hildebrand referiert fair auch die interpretatorischen Gegenpositionen zu seiner eigenen und berücksichtigt alle zentralen Sektoren der NS-Diktatur, keineswegs nur die Außenpolitik. Mit diesem breit rezipierten Buch festigte sich der internationale Ruf Klaus Hildebrands, zumal 1989 in London sein Werk German Foreign Policy from Bismarck to Adenauer. The limits of statecraft folgte. Daneben veröffentlichte Hildebrand in diesen Jahren zahlreiche kleinere Schriften sowie noch das bedeutende Studienbuch Deutsche Außenpolitik 1871–1918 (zweite Auflage 1994).
Große Darstellungskunst
Drei weitere große Monographien sind hervorzuheben – seine quellen- und forschungsgesättigten Hauptwerke: 1984 veröffentlichte Klaus Hildebrand in der repräsentativen Reihe „Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ den Band Von Erhard zur Großen Koalition 1963 bis 1969 – eine wahre Pionierleistung, die erste geschichtswissenschaftliche Darstellung dieses Zeitraums, die auf umfassender Auswertung bis dahin unerschlossener Quellen beruhte. Sie behandelt feinsinnig alle zentralen Themen der Zeit, von Politik und Gesellschaft über Wirtschaft und Kultur bis zum Mentalitätswandel. In der 1997 veröffentlichten, frühere Arbeiten wieder aufnehmenden Monographie No Intervention. Die Pax Britannica und Preußen 1865/66–1869/70 analysiert Hildebrand die die europäische Geschichte maßgeblich beeinflussende Bismarck’sche Reichsgründung aus britischer Sicht. Doch geht er weit darüber hinaus und erhellt subtil „British Interests“ und die fundamentalen Prinzipien der englischen Außen- und Weltpolitik im 19. Jahrhundert.
Bereits vorher veröffentlichte er das ihm selbst vermutlich wichtigste Buch, ein Meisterwerk der Beherrschung großer Quellenmassen und umfangreicher Forschungsliteratur. Hildebrand analysiert sowohl Kontinuitäten als auch Diskontinuitäten dieser höchst unterschiedlichen historischen Epochen im jeweiligen europäischen (gegebenenfalls auch atlantischen) Kontext. Das Buch ist vorbildhaft für eine abgewogene, alle Aspekte berücksichtigende Interpretation und zeugt von großer Darstellungskunst. Dieses Monumentalwerk Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler von 1.050 Seiten setzt Maßstäbe und ist die bis heute gültige Behandlung dieses Schlüsselthemas der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.
Berater und Herausgeber
Bedenkt man das qualitativ so hochstehende und quantitativ so umfangreiche Gesamtwerk von Klaus Hildebrand, dann überrascht es, wie viele andere Aufgaben der passionierte Universitätslehrer mit zahlreichen exzellenten Doktoranden zusätzlich wahrgenommen hat: als Berater von Politik und Fernsehproduktionen, als öffentlich präsenter Vortragender und zeitgeschichtlicher Experte, als Mitglied zahlreicher Kommissionen und als Herausgeber bedeutender Editionen und Sammelwerke.
In zahlreichen Gremien und Projekten, in denen wir beide gemeinsam tätig waren, habe ich nicht allein seine überragende Fachkenntnis und Sorgfalt, sondern auch seine ausgeprägte Fähigkeit zur sachbezogenen, kollegialen Zusammenarbeit besonders schätzen gelernt, beispielsweise in den Beiräten des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin, der Deutschen Historischen Institute in Paris und London, dem Stiftungsrat Deutscher Historischer Institute im Ausland, in der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien – als deren zeitweiliger Präsident er sich große Verdienste beim Übergang in die Zuständigkeit des Deutschen Bundestages erwarb –, in der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften – in der er Abteilungsleiter war –, im Gründungsdirektorium des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn (außer uns beiden Lothar Gall und Ulrich Löber) sowie in der Deutsch-Russischen Historikerkommission und schließlich in der von Lothar Gall geleiteten Herausgeberschaft der Enzyklopädie deutscher Geschichte.
Außerdem wirkte Klaus Hildebrand als Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Deutschen Historischen Instituts in Washington, als Mitherausgeber der Historischen Zeitschrift und als Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Darüber hinaus gehörte er lange Jahre – von 1988 bis 2013 – dem Wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift Die Politische Meinung an.
Ebenso erfreulich und fruchtbar war die Zusammenarbeit mit Klaus Hildebrand im Herausgebergremium der im Auftrag des Auswärtigen Amtes erarbeiteten vielbändigen Edition des Instituts für Zeitgeschichte Akten der Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland. Die Edition verdankt Klaus Hildebrands stupendem Wissen und seiner akribischen Vorbereitung viel. Das Gleiche gilt für die von uns beiden gemeinsam herausgegebene vierbändige Edition Die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich 1949 bis 1963. Dokumente (erschienen 1997 bis 1999).
Diese enge Kooperation in so vielen unterschiedlichen Zusammenhängen war stets leistungsorientiert, aber entspannt. Klaus Hildebrand stellte sich, nachdem wir uns 1982 kennengelernt hatten, als absolut zuverlässiger und fairer Partner heraus, kommunikativ aufgeschlossen, humorvoll im Umgang. Mit seiner Frau neigte der auch literarisch gebildete Gelehrte – jeder Zoll ein Herr – zu gepflegter Geselligkeit und liebte anregende Gespräche; in Erinnerung bleibt auch ihre großzügige Gastfreundschaft. Die zahllosen Begegnungen mit ihm empfinde ich als bereichernd, seine jahrzehntelange Freundschaft bedeutet mir viel.
An seinem 80. Geburtstag kann Klaus Hildebrand, der schon 1987 mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse ausgezeichnet wurde, auf ein Œuvre von hohem Rang und eine große Zahl wissenschaftsorganisatorischer und wissenschaftspolitischer Leistungen zurückblicken. Umso tragischer ist es, dass seine schwere Erkrankung ihn so plötzlich daran hinderte, weiter zu wirken und ein schon begonnenes großes Werk über das europäische Staatensystem seit dem Wiener Kongress fortzuführen.
Horst Möller, geboren 1943 in Breslau, 1992 bis 2011 Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin, 1996 bis 2011 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.