Pierre Rosanvallon: Die Gegen-Demokratie. Politik im Zeitalter des Misstrauens, Hamburger Edition, Hamburg 2017, 317 Seiten, 35,00 Euro.
Allenthalben herrscht Misstrauen gegenüber der parlamentarischen repräsentativen Demokratie. Bürger haben das Vertrauen in ihre staatlichen Institutionen und deren Führungseliten verloren, üben Wahlenthaltung, wenden sich anscheinend von der Politik ab. Auguren beschwören den „Niedergang des Politischen“, konstatieren wachsenden Verlust der Kultur demokratischer Mentalität und suchen Erklärungen in Strukturfehlern des parlamentarischen Regierungssystems.
Gesellschaftliche Bedürfnisse stehen in Kontrast zu dem Stabilitätsversprechen, das ihnen Politiker in repräsentativen Demokratien geben. Stattdessen verfolgen Teile der politischen und gesellschaftlichen Elite Partikular- und Individualinteressen, gepaart mit Korruption und Rechtsverstößen, die Misstrauensvorbehalte gegenüber Machthabern verstärken. Vor dem Hintergrund dieser Befindlichkeitsanalyse fragt Pierre Rosanvallon, Ordinarius für Neuere und Neueste politische Geschichte am Collège de France, nach den wirklichen Gründen. Seine Antwort: Ausschlaggebend ist die sich wandelnde Verfasstheit westlicher Demokratien.
Schwindendes Vertrauen
Zunächst wendet sich der Autor gegen den „Mythos vom passiven Bürger“. Willensbekundungen kämen zwar in Wahlen, doch ebenso in Streiks, Demonstrationen, Unterschriftenaktionen oder in Internetforen zum Ausdruck. Daher müsse man zwischen „Mitwirkungsdemokratie“ und „Interventionsdemokratie“ unterscheiden. Nicht die Passivität des Citoyens sei das Problem moderner Demokratien, sondern sein mangelndes Verständnis nationaler und globaler Wirkungsmechanismen und Gemeinsamkeiten, das Zivilgesellschaft und politische Institutionen auseinanderdriften lasse. Theoretisch fundiert untersucht er, wie Vertrauensverlust und Misstrauen bei den Bürgern in Enttäuschung umschlagen und eine Transformation der Demokratie auslösen. Das Ergebnis ist eine „Gegen-Demokratie“, die drei Entwicklungen umfasst.
Erstens entstehen verstärkt Überwachungstendenzen seitens der Bürger, um die von ihnen gewählten Repräsentanten zu zwingen, ihren Aufgaben nachzukommen. Wenn die Wähler den Eindruck haben, dass ihre Interessen nicht mehr vertreten werden, so führte dies schon zu Zeiten der Französischen Revolution zur repräsentativen Entropie, nämlich zu einem Informationsverlust im Verhältnis zwischen Wählern und Gewählten, verbunden mit mehr Überwachung, Denunziation und Benotungen durch den Wähler. Daraus, so folgert Rosanvallon, entstehe eine Oppositionshaltung, eine „Gegenpolitik“.
Politik aber bedarf einer gewissen Kohärenz und steht im Spannungsverhältnis zur Skepsis, die ein Wesenselement der repräsentativen Demokratie darstellt. Denn jedes Mandat des Wählers ist ein Vertrauensvorschuss auf künftiges Handeln, das an die Erwartungshaltung zur Einlösung gebunden ist. Geschieht dies ungenügend oder gar nicht, wachsen Misstrauen und Widerstand. Funktioniert die institutionelle Opposition nur unzureichend, übernimmt die Gesellschaft die Überwachung der Macht. Historisch betrachtet, handelt es sich um altbekannte Phänomene. Sobald staatliches Handeln in eine Schieflage gerät, steigt die öffentliche Wachsamkeit, und neue Formen sozialer Aufmerksamkeit bahnen sich den Weg. Dem wirken Einfachheit, Klarheit und Transparenz entgegen, die im Zeitalter medialer Omnipräsenz Kardinaltugenden sind.
Zweitens kommen verschärfte Sanktions- und Präventionsmechanismen zur Anwendung. Je mehr der Bürger den Mandatsträgern misstraut, desto größer ist seine Bereitschaft, deren Entscheidungen mittels Verhinderungsrechten in Form von Veto- und Blockademaßnahmen und medienwirksamen Protesten zu konterkarieren. Spannungen infolge nicht eingelöster Versprechen und nicht mehrheitsfähiger Beschlüsse erzeugen Gegenwehr und produzieren eine negative Demokratie. Mängel aufzudecken und zu skandalisieren, ist die moderne Variante der Denunziation. Es geht darum, die Reputation des Politikers, das höchste Gütesiegel in der Meinungsdemokratie, zu beschädigen und sein Vertrauensverhältnis zum Wähler zu beeinträchtigen. Parteien wirken hier bedingt disziplinarisch und ausgleichend, solange es ihnen gelingt, das Verhalten ihrer Repräsentanten zu korrigieren. Tatsächlich aber wird die gesellschaftlich definierte Norm zur Richtschnur des Handelns und Manifestation des Volkswillens.
Gegenspieler der Demokratie
Zunehmend wird staatliches Agieren und Verwalten an Qualitäts- und Effizienzstandards gemessen, die durch den Rückgriff auf Fachinformationen, die die neuen Kommunikationstechnologien bereitstellen, eine vermehrte Kontrolle und erhöhte Wachsamkeit der Bürger ermöglichen und somit neuen sozialen Aktivismus hervorrufen. Das Internet hat nicht zu mehr basisdemokratischen Elementen im Kontext der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie geführt. Es hat aber die Überwachungs- und Aufsichtsfunktionen gestärkt. Alles und jedes unterliegt gesellschaftlicher Observanz und Bewertung, schafft neue Indizes, nach denen sich die Politik zu richten hat. Vermeintlich oder wirklich unabhängige Einrichtungen, selbsternannte und nicht demokratisch legitimierte Akteure nehmen sich dieser Aufgabe an und werden zum Bestandteil der „Gegen-Demokratie“, zum Gegenspieler konstitutiver staatlicher Demokratie.
Eigentlich ist dieser Dualismus demokratieimmanent. Repräsentative Wahlfunktionen und Kontrollaufgaben gehören zusammen. Doch ist der Versuch, sanktionsfähige Kontrollbefugnisse parlamentarisch-institutionell stärker zu verankern, nur begrenzt durchgesetzt worden. Weithin wird die bedingte Wirksamkeit parlamentarischer Untersuchungsausschüsse beklagt. Ebenso vermögen erprobte Instrumente wie die Abwahl oder die Abberufung von Repräsentanten und das imperative Mandat kaum, die Distanz zu verringern. Historische Beispiele belegen dies.
Die repräsentative Demokratie wird mittlerweile von verschiedensten, nicht legitimierten Instanzen kontrolliert und herausgefordert, die keinen sozial produzierten, von dem Willen einer Mehrheit getragenen Konsens aufweisen. Dazu gehören vornehmlich Journalisten. Sie konkurrieren mit den gewählten Repräsentanten, formulieren Erwartungshaltungen der Gesellschaft und klagen an, ohne dazu eine repräsentative Legitimität zu besitzen. Als Grundlage dienen ihnen die Pressefreiheit, der Verweis auf ihre Unabhängigkeit und der Anspruch, dem Empfinden eines Teils der Gesellschaft Nachdruck zu verleihen. Außerdem existieren Moralinstanzen wie religiöse Institutionen oder karitative Einrichtungen, die auf der Basis universell anerkannter Werte operieren. Sie alle kreieren neben der repräsentativen Demokratie neue Arten von Legitimität, die sich in Konkurrenz und Konflikt befinden, weil auch sie einen Teil der Souveränität des Volkes verkörpern. Diese „negative Politisierung“ zeigt sich auch in der Nichtbeteiligung an Wahlen.
Auf dem Weg zur Beschuldigungsdemokratie
Die Wahrnehmung des Rechts auf Verhinderung, auf Widerstand, auf Gegenwehr, auf Opposition nimmt gesellschaftlich zu, je weniger es den staatlich-konstitutionellen Instanzen gelingt, widerstrebende Meinungen im politischen Willensbildungsprozess aufzufangen. Üblicherweise erfüllen in westlichen Demokratien die Parteien diese Funktion. Ihren Vertrauensverlust erklärt Rosanvallon damit, dass sie zunehmend disparate und komplexe gesellschaftliche Interessen und Forderungen bündeln und konsensfähig artikulieren müssen, was ihnen nur teilweise gelingt. Methoden negativer Politik erstarken auch deshalb, weil sie dem Bürger erfolgreicher zu sein scheinen. Denn die Absicht, eine Regierungsmaßnahme zu vereiteln, wird leichter erreicht, als positives Regierungshandeln in Gestalt eines Gesetzes zu beeinflussen, das erst nach vielfältigen Kompromissen in Kraft gesetzt werden kann. In beiden Fällen ist eine zunehmende „Verrechtlichung des Politischen“ die Folge.
Drittens verlangt das Volk zunehmend nach Richtern. Vorgänge werden immer häufiger an Gerichte übergeben, um sie überprüfen und darüber entscheiden zu lassen. Je größer das Misstrauen, desto stärker die Forderung nach präziser Einhaltung der Rechenschaftspflicht und desto geringer die Tendenz aufseiten der Regierenden, im Vorhinein gesellschaftlichen Erwartungshaltungen zu entsprechen. Das hat die Konsequenz: In Demokratien finden weniger Auseinandersetzungen um Sachfragen, dafür aber mehr Schuldzuweisungen statt. Die repräsentative Konkurrenzdemokratie, deren markantes Merkmal der Streit zwischen Parteien um Ideen und Programme, also Inhalte, ist, mutiert allmählich zu einer „Beschuldigungsdemokratie“. Intransparente Entscheidungsprozesse tragen dazu genauso bei wie einzelne gesellschaftliche Gruppen, die sich insgeheim unrechtmäßig Vorteile verschaffen, wie auch der Verlust traditioneller Werte in der postindustriellen, global-digitalen Gesellschaft. Der Bürger ist auf der Suche nach Haftung und wendet sich, enttäuscht von der Politik, die er legitimiert hat, an die Rechtsprechung, die den politischen Disput beenden, Normsetzung betreiben oder Sanktionen für politische Fehlentwicklungen verhängen soll.
Einfallstor für Populisten
Somit schwanken die Wähler zwischen Trotzreaktionen in Form verstärkten Bürgerengagements und Ohnmachtsgefühlen ob ihrer beschränkten Kontroll- und Einflussmöglichkeiten. Letzteres öffnet in der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie den Populisten Tür und Tor. Sie gaukeln einen einheitlichen Volkswillen vor und bringen Volk und Elite gegeneinander auf. Dieses Vorgehen hat historische Vorbilder für totalitäre Entwicklungen, ist jedoch ebenso ein aktuelles Indiz für die Krise der repräsentativen Demokratie. Populisten bedienen sich der Mittel der „Gegen-Demokratie“, indem sie mehr Kontrolle und Wachsamkeit versprechen, negative Demokratie schüren und „Politik als Urteil“ anmahnen, um alles Fremde mithilfe der Justiz zu verfolgen, zu bestrafen und zu stigmatisieren. So gesehen, ist Populismus die Speerspitze der Anti-Politik.
Rosanvallon beschreibt die heutige Demokratie als Mischsystem aus repräsentativer Demokratie und zu konsolidierender „Gegen-Demokratie“, weil ihre Schattenseite, nämlich in letzter Konsequenz „das Unpolitische“ zu fördern, nur pluralistisch auf allen staatlichen und gesellschaftlichen Ebenen überwunden werden könne. Dazu bedürfe es größerer zivilgesellschaftlicher Anstrengungen, sich in politische Belange einzumischen und Demokratie mitzugestalten. Zumal die Bürger die Institutionen repräsentativer Demokratie noch stark in nationalstaatlichen Denkkategorien bewerten würden, während die Realität längst transnationale Räume geschaffen habe und dort Regierungsmacht weitläufig verstreut sei. Hier liegt eine empirische Demokratieuntersuchung vor, die ohne Zweifel das Prädikat „lesenswert“ verdient.
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Hanns Jürgen Küsters, geboren 1952 in Krefeld, seit 2009 Leiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste / Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung, Dr. rer. pol., apl. Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.