Es ist für mich einer der einprägsamsten Momente in einem gewiss von vielen Eindrücken geprägten Jahr 2016: Wir stehen Mitte November auf dem bereits tief verschneiten jüdischen Friedhof im westukrainischen Sdolbuniw. Zalman Shneyerson, der Rabbiner der Region Riwne, spricht bedächtig eines der traditionellen jüdischen Gebete. Die Gruppe der Anwesenden rückt nah zusammen und gedenkt derer, deren Grabsteine teils verwittert sind, aber auch ihrer Nachkommen, die aufgrund der schrecklichen historischen Ereignisse die Grabstätten nicht mehr pflegen konnten. Oft sind die hebräischen Schriftzeichen kaum mehr erkennbar – sie sind verblasst, wie lange Zeit auch die Erinnerung an die mannigfaltige jüdische Vergangenheit der Region. Doch damit sei es – Gott sei Dank – nun vorbei, freut sich Shneyerson und wertet die gerade abgeschlossenen Restaurierungsarbeiten auf dem Friedhof als ein Zeichen dafür. Erst vor einigen Jahren war er aus Israel in die Region Riwne gekommen, weil es dort keinen Rabbiner mehr für die Gemeinden gegeben hatte.
Unser Besuch auf dem jüdischen Friedhof in der Westukraine war keine Routine, sondern markierte eine wichtige Etappe eines einzigartigen Projekts jenseits des Stiftungsalltags. In Kooperation mit der European Jewish Cemeteries Initiative (ESJF), der Initiative für jüdische Friedhöfe, hat die Konrad-Adenauer-Stiftung in den Jahren 2015/16 zur Restaurierung zahlreicher jüdischer Friedhöfe in Osteuropa beigetragen. Ein Schwerpunkt der Arbeit lag in der Ukraine, wo Juden vor dem Zweiten Weltkrieg in vielen Städten die Mehrheit der Bevölkerung stellten und 1,5 Millionen Juden in den Jahren 1941/42 dem nationalsozialistischen Vernichtungswillen zum Opfer fielen. Über siebzig Jahre später waren viele dieser Friedhöfe noch immer völlig verwahrlost. Die Idee zur Restaurierung hatte eine Gruppe um den ehemaligen israelischen Außen- und Justizminister Jossi Beilin. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble fand das Projekt derart überzeugend, dass er während der Pilotphase eine Million Euro aus dem Bundeshaushalt zusagte und das Auswärtige Amt mit der Projektverwaltung beauftragte. Dessen Suche nach möglichen Kooperationspartnern führte schließlich zur Konrad-Adenauer-Stiftung – langjährige Partner wie das American Jewish Committee hatten uns empfohlen.
In der Tat hatte sich die Konrad-Adenauer-Stiftung bisher nie an der baulichen Erhaltung religiöser Gedenkstätten beteiligt. Aus meiner Zeit als Auslandsmitarbeiter der Stiftung in Jerusalem war mir aber in Erinnerung geblieben, wie wichtig und teilweise auch umstritten im Judentum Fragen der richtigen Pflege und Instandhaltung von Friedhöfen sind. Gleichzeitig war uns bewusst, dass die Orientierung an unserem Namensgeber gleichsam Wesenskern der Stiftung ist. Konrad Adenauer steht bekanntlich wie kaum ein anderer für die Aussöhnung Deutschlands mit Israel und für die Wahrnehmung unserer historischen Verantwortung für die millionenfache Judenvernichtung durch die Nationalsozialisten: „Wir mußten das Unrecht, das den Juden angetan worden ist von den Nationalsozialisten, soweit gutmachen, wie das irgend möglich war“, erinnerte er sich später. Es ist dieser Geist Adenauers, in dem wir uns seit Langem für die Intensivierung der deutsch-israelischen Beziehungen und die Zusammenarbeit mit jüdischen Organisationen weltweit einsetzen. Daher war es in diesem außergewöhnlichen Fall für die Stiftung ein besonderes Anliegen, sich zu engagieren und die jüdischen Gemeinden bei der Erhaltung ihrer Friedhöfe zu unterstützen – können wir dadurch doch die historische Erinnerung an das einst weitgehend zerstörte jüdische Leben in der Ukraine wachhalten.
Doch waren die Arbeiten in Borodjanka, Kaniw, Koselez, Ostroh, Ruske und anderen Kommunen nicht immer einfach: Verschiedene rituelle und religiöse Vorschriften machten es notwendig, Rabbiner hinzuzuziehen, um die Festlegung der Friedhofsgrenzen bei der Konstruktion der Mauern zu überwachen. Dabei sind unsere Stiftungskollegen vor Ort natürlich keine Experten für Baufragen. Die Errichtung und Konstruktion der Zäune und Eingangstore übernahm deshalb ein ukrainisches Ingenieurbüro. Außerdem schloss mit jeder Kommune, in der sich die Friedhöfe befinden, ein einheimischer Jurist Verträge für deren Pflege und Instandhaltung ab. Bei den politischen Gesprächen mit den Kommunalverwaltungen waren die Netzwerke der Stiftung vor Ort allerdings wieder stark gefragt. Und unsere Arbeit scheint Früchte zu tragen: Der bisherige Projektpartner ESJF und die Vereinigung der jüdischen Organisationen und Gemeinden der Ukraine führen das Projekt mittlerweile eigenständig weiter.
Auf dem Rückweg nach Kiew machen wir in der Musikschule des Ortes Sdolbuniw halt. Der karge Raum ist bis auf den letzten Platz gefüllt, viele Bewohner des Ortes sind gekommen, Juden und Christen gleichermaßen. Sie alle tragen dicke Winterkleidung, die Raumtemperatur unterscheidet sich kaum von der in der verschneiten Außenwelt. Doch als uns ein Chor älterer Damen voller Inbrunst alte jüdische Volksweisen vorträgt, wird es uns „warm ums Herz“. Nach meiner kurzen Ansprache kommt Ilja Klebaner auf mich zu. Dem älteren Herrn steht das entbehrungsreiche Leben in der Westukraine ins Gesicht geschrieben. Einen jüdischen Gottesdienst könne man hier schon lange nicht mehr feiern, winkt er ab. Mir wird klar, dass es in dem Ort nicht einmal mehr zehn männliche Gläubige gibt, was nach jüdischer Glaubenslehre Voraussetzung zur Abhaltung eines Gottesdienstes ist. „Aber dank der Arbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Restaurierung unseres jüdischen Friedhofes hier haben wir nun wieder einen Ort der Erinnerung an unsere reiche jüdische Kultur“, sagt er zum Abschied.
Gerhard Wahlers, Stellvertretender Generalsekretär und Leiter der Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusammenarbeit, von 1994 bis 1996 Auslandsmitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Israel.