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Zur Entmythologisierung eines Begriffs

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Der Begriff „Osteuropa“ suggeriert eine klare geografische Unterteilung Europas, doch ist er vor allem eines: ein politisches Konstrukt. Der Begriff ist trotz oder wegen seiner vielen Facetten wirkmächtig; seine Bedeutung changiert je nach Standort und Kontext. Jede Verwendung des Begriffs zieht Grenzen – geografisch, aber vor allem auf der politischen und mentalen Landkarte. Die geografischen und mentalen Grenzen sind hierbei selten deckungsgleich.

Die ursprünglich dominante Vorstellung von einem in einen entwickelten „Süden“ und einen barbarischen „Norden“ geteilten Europa ist zunehmend von der einer West-Ost-Achse abgelöst worden, die insbesondere im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Kreisen von Geografen, Philosophen und Historikern geprägt wurde.1 Westeuropa – beziehungsweise der Westen allgemein – hat sich insgesamt wesentlich mehr mit der Zuschreibung, Definition und Bedeutung von Osteuropa auseinandergesetzt als umgekehrt. Der Diskurs ist somit selbstreferenziell und beruht auf einem aktiven Othering:2 Die Grundannahme ist die Existenz eines kulturellen und politischen Gegensatzes zwischen Ost und West.

Der Begriff „Osteuropa“ impliziert bis heute Distanz, so etwa im Sinne von „anders“, „neu“, „unbekannt“, „komplex“, „im Wandel“, „schwer verständlich“, und im Vergleich zum Rest Europas erscheint dieser Teil Europas – nicht immer faktenbasiert – als „korrupter“, „populistischer“, „konfliktreicher“ und so weiter. Der Begriff des „Global East“3 als Pendant zum „Global South“ hat sich bisher nicht durchgesetzt, nicht zuletzt, weil sich in ihm keine politische Mobilisierung kristallisiert hat. Ein Begriff wie „Global East“ stellt zwar Verflechtungen und imperiale Abhängigkeiten in den Vordergrund, beinhaltet jedoch letztendlich auch wieder Grenzziehungen, die Gefahr laufen, die Region als essentialistisch „anders“ zu definieren.

 

Dichotomie des Kalten Krieges

Andere Teilbezeichnungen Europas sind weniger politisch aufgeladen: „Westeuropa“ ist ein sehr dehnbarer und (vermeintlich) harmloser Begriff. Wer zu Westeuropa gezählt wird, meint, sich im Zentrum des europäischen Machtgefüges zu befinden. Länder im östlichen Europa – eine bewusst vorsichtigere Bezeichnung mit Betonung auf der geografischen Verortung – haben zu verschiedenen Zeitpunkten bestimmte Städte zum „Zentrum Europas“ deklariert, darunter Belarus, Litauen, Polen, die Slowakei, Tschechien, die Ukraine und Ungarn.

Hinter der Unterscheidung Ost- und Westeuropa steht auf höherer Abstraktionsebene die Dichotomie des Kalten Krieges: „Osten“ versus „Westen“. Es waren globale Denkmuster ideologischer Systeme, die miteinander rangen, in Europa aufeinanderprallten und dort bis 1989 physisch und für die ganze Welt sichtbar verankert blieben. Als diese Klammer mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 und dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 wegfiel, verschwand die West-Ost-Grenze zwar aus dem globalen, nicht aber aus dem innerdeutschen und europäischen Kontext. Scheinbar plötzlich war der Osten Europas da, forderte einen gleichberechtigten Status und strebte in die Europäische Union. Dennoch wirkte die physische Teilung Europas in politischen Strukturen sowie in Erinnerungen und Identitäten nach. Das Bild von Osteuropa als undifferenziertem „Block“ hat sich auf der mentalen Landkarte Europas erhalten. Dieses Blockdenken versperrt den Blick und lässt die Region weiterhin als unangemessen diffus und zugleich fremd erscheinen. Entweder verschwindet die historisch bedingte Vielfalt der Region hinter dem Begriff, oder diese Diversität wird als fundamentaler Unterschied und Kern von Krisen und Kriegen überbetont.

Der tschechische Dissident Milan Kundera reklamierte 1984 in seinem berühmten Essay „The Tragedy of Central Europe“ in The New York Review of Books4 für „Central Europe“ einen angestammten Platz. Ins Deutsche übersetzt sich das im Englischen relativ unverfängliche, wenngleich ebenfalls nicht genau demarkierte „Central Europe“ nur annähernd als „Mitteleuropa“ – ein Begriff, der im deutschen Sprachgebrauch durch die Nutzung im Nationalsozialismus ebenfalls kein neutraler ist. Kunderas politischer Text war eine Kampfansage wider das Vergessen Westeuropas oder des Westens insgesamt. Er warf Westeuropa vor, die eigenen Werte vergessen oder verraten sowie die Bedeutung von „Central Europe“ für den Erhalt einer gemeinsamen kulturellen und politischen Identität verkannt zu haben. „Central Europe“ erscheint hier als das „wahre“ Europa – eine ebenfalls problematische These. Kundera grenzt „Central Europe“ insbesondere von den imperialen Ambitionen der Sowjetunion und Russlands ab. Dadurch gewinnt der Text im heutigen Kontext von Russlands Krieg gegen die Ukraine erneut an Bedeutung, auch wenn Kundera selbst den Essay später als Text eines bestimmten historischen Moments bezeichnete.

 

Implizite Hierarchien und Arroganz

Nach 1989 ging es den Ländern in Kunderas Fokus schnell darum, über den Beitritt zur Europäischen Union und zur NATO ein vollwertiger und abgesicherter Teil Europas zu werden. Als einen regionalen Block verstanden sich selbst die Visegrád- oder die baltischen Staaten nicht. Die Unterschiede in ihren Entwicklungspfaden nach 1989 sind in anderen Teilen Europas zu wenig gesehen und verstanden worden. Auch nach dem Beitritt zur Europäischen Union hielt sich in ihren Institutionen, in der offiziellen Rhetorik und im persönlichen Umgang, eine Unterscheidung zwischen „alten“ und „neuen“ Mitgliedstaaten. Derartige Bezeichnungen spiegeln sowohl historisch gewachsene Hierarchien als auch neu gezogene Trennlinien. Fakt ist, dass sich die Mitgliedstaaten aus dem östlichen Europa lange Zeit nicht wie gleichberechtigte Mitglieder fühlten. Erst Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, vor allem seit Beginn der vollumfänglichen Invasion im Februar 2022, der die Europäische Union und die NATO zu einer neuen Art der politischen und militärischen Einigkeit zwingt, hat diesen Ländern und ihrem historisch geprägten Verständnis von Sicherheit ein neues politisches Gewicht verschafft – beziehungsweise sie haben es eingefordert. Diese Entwicklung könnte die Machtverhältnisse innerhalb der Europäischen Union zugunsten dieser Region verschieben. Wie nachhaltig diese Veränderung sein wird, ist eine offene Frage.

Auf Arbeitsebene der Europäischen Union und der einschlägige Referaten in den jeweiligen nationalen Ministerien hatte sich der Begriff „Osteuropa“ nach 2004 vor allem auf die Länder der Östlichen Partnerschaft bezogen und institutionalisierte somit eine funktionale Unterscheidung zwischen Mitgliedstaaten und Nicht-Mitgliedstaaten. Russlands Invasion beschleunigt nun die Integration der Ukraine und der Republik Moldau (und eventuell Georgiens) in die Europäische Union. Mit einer konkreten Beitrittsperspektive und dem Kandidatenstatus ist der Bezugspunkt für diese Länder „Europa“ im Sinne der Mitgliedschaft in der Europäischen Union und kein vage definiertes Osteuropa. Russlands Angriffskrieg hat in der ukrainischen Politik und Gesellschaft darüber hinaus das Selbstverständnis verankert, in diesem Krieg buchstäblich Europa als Ganzes und nicht nur einen Teil davon zu verteidigen. Dieses Verständnis reicht über die Ukraine hinaus, wenngleich es nicht in allen Teilen Europas gleichermaßen präsent ist.

Die Ukraine erscheint trotz Kandidatenstatus und erwarteten Starts der Beitrittsverhandlungen im politischen und öffentlichen Diskurs in der Europäischen Union dennoch weit entfernt von ihrer Vollmitgliedschaft. Diese Einschätzung hat nicht nur mit Fakten, sondern auch mit Wahrnehmungen zu tun, wie sich zum Beispiel an der Korruptionsthematik festmachen lässt. Das Ausmaß an Korruption wird oftmals auf der Grundlage von Expertenbefragungen bewertet, und diese Einschätzungen sind stark von den ihnen vorausgegangenen geprägt und bilden somit nur bedingt aktuelle Entwicklungen und Veränderungen ab. Generell ist die Ukraine in ihrem Stadium der Korruptionsbekämpfung mit Bulgarien, Rumänien und Kroatien zu vergleichen – nicht nur in Bezug auf den Beginn der Beitrittsverhandlungen dieser Länder zur Europäischen Union –, die öffentliche Wahrnehmung ist jedoch eine andere.

 

Perspektivwechsel auf Osteuropa

Osteuropa ist mit dem Bild des „Unfertigen“ verbunden. Die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Transformationen seit 1989 setzen sich fort, aber die pauschale Annahme der essenziellen Unterschiede zwischen „Ost“ und „West“ lässt sich nicht aufrechterhalten. Die Vergleichbarkeit fehlerhafter Demokratien sollte die Annahme der Verschiedenheit ersetzen. Adjektive wie „post-sowjetisch“, „post-kommunistisch“, „post-sozialistisch“ oder Adjektive, die die Demokratien Osteuropas qualifizieren, betonen die auf historischen Hinterlassenschaften beruhenden Unterschiede. Dabei bleiben historische Gemeinsamkeiten und vergleichbare heutige Herausforderungen fehlerhafter und anfälliger Demokratien zu sehr im Hintergrund.

Osteuropa ist auch bei „uns“, das heißt in ganz Europa (und global) – so zum Beispiel durch Arbeits- oder Bildungsmigration oder durch Flucht. Millionen von Ukrainerinnen (viele mit ihren Kindern) haben seit Februar 2022 in anderen Ländern Europas Schutz gesucht. Die alltäglichen Begegnungen, die sich hieraus vielerorts ergeben, zum Beispiel in Deutschland und Polen, haben zur Folge, dass ein für viele Europäerinnen und Europäer blinder Fleck auf der Landkarte angereichert wird mit Alltagsbegegnungen und direkten Informationen über den Krieg, das Land, seine Geschichte und Kultur. Diese direktere Verbindung macht sowohl Gemeinsamkeiten als auch die politischen Herausforderungen, die mit dem Krieg einhergehen, greifbar. Eine der Konsequenzen des Krieges muss ein Perspektivwechsel in Bezug auf Osteuropa sein: Es wird deutlich, wie Russlands Imperialismus auf andere Teile Europas reflektiert und verinnerlicht wurde, wie notwendig und verspätet die Anerkennung der Vielfalt Osteuropas, seiner Akteure und politischen Ausrichtung ist.5 Geografisch, historisch und kulturell bleibt Russland in einer akteursfokussierten Definition Teil von Osteuropa, aber das heutige autoritäre System in Russland distanziert sich im eigenen Selbstverständnis klar von Europa und bemüht den Diskurs der Zivilisationen, die hier unversöhnlich aufeinanderstoßen, als Teil der eigenen Legitimationsstrategie.

Russlands Krieg gegen die Ukraine stellt eine Zäsur dar. Europa wird auf unabsehbare Zeit mit dem größten Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg assoziiert werden. Das Europabild wird von außen und innen zugleich revidiert. Es wird nicht gelingen, den Begriff „Osteuropa“ aus dem deutschen Sprachgebrauch zu verdrängen. Also bleibt nur eine Alternative für den Umgang mit dem überladenen Begriff: seine bewusste Dekonstruktion, die hinterfragt, welche Akteure (un)sichtbar sind beziehungsweise werden, wenn der Begriff bemüht wird, wer ihn verwendet und welche Ansprüche in ihm angelegt beziehungsweise durch ihn wahrgenommen werden. Dies sind notwendige Schritte auf dem Weg zur Entmythologisierung des Begriffs „Osteuropa“.
 

Gwendolyn Sasse, geboren 1972 in Glinde, Wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien sowie Einstein-Professorin für Vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung, Humboldt-Universität zu Berlin.

 

 

1 Für eine Diskussion der Vorstellungen europäischer Geografen und anderer Intellektueller Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts siehe Frithjof Benjamin Schenk: „Eastern Europe“, in: Diana Mishkova / Balázs Trenscényi (Hrsg.): European Regions and Boundaries. A Conceptual History, Berghahn Books, Oxford / New York 2017, S. 188–209.

2 Der Begriff „Othering“ (Englisch „other“ = „andersartig“ – Andersmachung) beschreibt die Distanzierung und Differenzierung zu anderen Gruppen, um seine eigene „Normalität“ zu bestätigen. Das Konzept des „Othering“ entstammt dem Kontext der postkolonialen Theorie.

3 Martin Müller: „In Search of the Global East: Thinking between North and South“, in: Geopolitics, 25. Jg., Nr. 3/2020, S. 734–755.

4 Milan Kundera: „The Tragedy of Central Europe“, in: The New York Review of Books, 31. Jg., Nr. 7, 26.04.1984 (aus dem Französischen von Edmund White).

5 Siehe auch Gwendolyn Sasse: Der Krieg gegen die Ukraine, C.H. Beck, München 2022, S. 105–119.

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