Die Sorge vor einem Atomkrieg rückte mit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 und den Atomdrohungen gegen den Westen schlagartig ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Wladimir Putin wusste mit der deutschen Atomangst zu spielen. Als Grundgefühl dominieren in Deutschland bekanntlich die moralische Ablehnung von Atomwaffen und ein Unwillen, sich realistisch mit Nuklearfragen zu beschäftigen. Öffentlich diskutiert wurden in den letzten Jahren allenfalls die Forderungen nach einem Abzug amerikanischer Atomwaffen von deutschem Boden beziehungsweise die Kosten für den Ersatz der veralteten Tornado-Kampfjets zur Fortführung der nuklearen Teilhabe. Dabei geben nukleare Risiken und Rüstungsdynamiken schon lange Anlass zur Sorge – und zwar unabhängig vom Krieg in der Ukraine. Erstens lässt sich das Ziel, die Verbreitung von Atomwaffen zu unterbinden, immer schwerer umsetzen, während eine Ächtung von Nuklearwaffen oder deren vollständige Abrüstung entfernte Träume bleiben. Zweitens führen die aktuellen weltpolitischen Spannungen dazu, dass wieder nuklear aufgerüstet wird und es derzeit kaum Chancen für Rüstungskontrolle gibt. Drittens werden Atomwaffen zunehmend als politische Hebel zur Durchsetzung eigener Interessen verstanden.
Während in den 1940er- und 1950er-Jahren Nuklearwaffen im Grunde nicht anders betrachtet wurden als konventionelle Waffen, setzte sich in den 1960er-Jahren durch, dass sie wegen ihrer Vernichtungskraft und unter den Bedingungen der gesicherten Zweitschlags- und Vernichtungsfähigkeit zwischen den USA und der Sowjetunion als Instrumente der Abschreckung verstanden werden mussten. Nach der Kubakrise 1962 verstärkten Washington und Moskau ihr diplomatisches Konfliktmanagement, um das „Gleichgewicht des Schreckens“ zu stabilisieren. Von entscheidender Bedeutung waren die Verhandlungen und Verträge zur Rüstungskontrolle (zum Beispiel Strategic Arms Limitation Talks/Treaty [SALT] I und II; Anti-Ballistic Missile Treaty, ABM-Vertrag). Zugleich sollte der Atomwaffensperrvertrag (Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons, NPT) von 1968 die Weiterverbreitung von Atomwaffen unterbinden. Neben den USA, der Sowjetunion, Frankreich, Großbritannien und der Volksrepublik China, den fünf im Atomwaffensperrvertrag als Nuklearwaffenstaaten anerkannten Nationen, überschritten im 20. Jahrhundert nur Israel, Indien und Pakistan als Nichtmitglieder die atomare Schwelle.
Nach dem Ende der Blockkonfrontation schwand die Angst vor Atomwaffen aus dem öffentlichen Bewusstsein. Dabei barg der Zerfall der Sowjetunion Proliferationsrisiken, die die USA und Russland gemeinsam bearbeiteten. Die im Budapester Memorandum von 1994 vereinbarte Rückführung sowjetischer Atombestände aus der Ukraine, aus Belarus und Kasachstan im Gegenzug für die Garantie ihrer Souveränität und territorialen Integrität durch Russland, das Vereinigte Königreich und die USA war ein großer Erfolg der Nichtverbreitung. Die USA und Russland schlossen in den 1990er- und 2000er-Jahren zudem Vereinbarungen zur Reduzierung ihrer Atomarsenale (Strategic Arms Reduction Treaty [START] I und II; Strategic Offensive Reductions Treaty [SORT]; New START). Doch bald zeigten sich drei Merkmale einer gefährlichen neuen nuklearen Ära.
Krise der Nichtverbreitung
Erstens: Die Weiterverbreitung von Atomwaffen lässt sich immer schwerer verhindern. Der Atomwaffensperrvertrag war zunächst so erfolgreich, weil mehrere Faktoren zusammentrafen. Unter den Bedingungen der Blockkonfrontation übten die USA und die Sowjetunion Druck auf Dritte aus, Atomwaffen abzuschwören. Zudem erforderte ein militärisches Atomprogramm Expertise und Ressourcen, über die nur wenige Staaten verfügten. Daneben bot das Versprechen, im Gegenzug für den Verzicht auf Nuklearwaffen Unterstützung bei der zivilen Nutzung der Kernkraft zu erhalten, einen attraktiven Deal. Heute ist die Ausgangslage völlig anders. Staaten besitzen gestiegene Handlungsspielräume, Nuklearwissen und -technik sind leichter zugänglich, es existieren Proliferationsnetzwerke, Güter mit Mehrfachverwendung führen zu Kontroll- und Verifikationsproblemen, und die Übergänge zwischen ziviler und militärischer Forschung sind fließend.
Das Nichtverbreitungsregime geriet deshalb in eine tiefe Krise. So schürte das NPT-Mitglied Nordkorea mit einem Atomprogramm Zweifel an seiner Vertragstreue. Seit den 1990er-Jahren wurde mit Verhandlungen versucht, das Land zum Einlenken zu bewegen. Doch 2003 erklärte Pjöngjang seinen Vertragsausstieg, 2006 folgte ein erster Atomwaffentest. Auch das NPT-Mitglied Iran unterhält ein Atomprogramm, das 2002 öffentlich bekannt wurde und nach weithin geteilter Auffassung militärischen Zielen dient. Es folgten jahrelange Verhandlungen und Sanktionen. Mittlerweile gilt der Nukleardeal von 2015 als gescheitert, und Teheran ist näher am Bau einer Atomwaffe als je zuvor. Auch der russische Überfall auf die Ukraine sendet (insbesondere wegen des Budapester Memorandums von 1994) ein verheerendes Signal: Staaten ohne Nuklearwaffen sind verwundbar. Angesichts wachsender geopolitischer Spannungen erscheinen Atomwaffen ohnehin wieder als ultimative Abschreckungs- und Überlebensgarantien.
Gerade weil der Zugang zu Wissen, Technik und nuklearem Material schwer zu kontrollieren ist, was auch die Angst vor Nuklearterrorismus schürte, formulierte US-Präsident Barack Obama 2009 die Vision einer atomwaffenfreien Welt. Er plädierte jedoch nicht für eine bedingungslose und sofortige Aufgabe des eigenen Arsenals, sondern setzte die vollständige und nachprüfbare nukleare Abrüstung weltweit voraus. Dieses Ziel liegt in weiter Ferne. Darüber konnte auch die Verabschiedung des Atomwaffenverbotsvertrags (Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons, TPNW) 2017 nicht hinwegtäuschen, der Atomwaffen ächtet, jedoch keine Verifikation ermöglicht. Insofern unterzeichneten ihn nur Staaten, die weder Atomwaffen noch nukleare Schutzgarantien besitzen. Eine nukleare Abrüstung ist derzeit nicht in Sicht.
Nukleare Aufrüstung und Erosion der Rüstungskontrolle
Zweitens: Machtverschiebungen und wachsende Spannungen bedingen eine nukleare Aufrüstung, während Rüstungskontrollvereinbarungen erodieren oder gänzlich fehlen. Anfang 2023 erhob das Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) einen Bestand von 12.512 nuklearen Sprengköpfen, die sich im Besitz von neun Staaten befinden und von denen 9.576 als potenziell einsatzbereit gelten. Davon werden wiederum 3.844 einsatzbereit vorgehalten. Knapp neunzig Prozent sind im Besitz von Russland (5.889) und den Vereinigten Staaten (5.244). Dahinter folgen die Volksrepublik China (410), Frankreich (290), das Vereinigte Königreich (225), Pakistan (170), Indien (164), Israel (90) und Nordkorea (30). Der Spitzenwert an nuklearen Sprengköpfen lag 1986 bei gut 70.000, womit der heutige Gesamtbestand weniger als zwanzig Prozent davon ausmacht. Die Gesamtzahl sank bis zuletzt sogar, weil Russland und die USA Altbestände ausmusterten.1
Dennoch ist von einer nuklearen Aufrüstung zu sprechen. Zum einen modernisieren die Atomwaffenstaaten ihre Arsenale, zum anderen vergrößern manche ihre Bestände. China ist diesbezüglich Spitzenreiter. 2008 wurde das chinesische Arsenal auf 200 Nuklearsprengköpfe geschätzt, Anfang 2023 waren es 410, im Oktober sprach das US-Verteidigungsministerium bereits von 500 und prognostizierte einen Aufwuchs auf mindestens 1.000 Atomsprengköpfe bis 2030.2
Hinzu kommen intensive Rüstungsanstrengungen zum Ausbau land-, see- und luftgestützter Trägersysteme. China stellt auch hier alle in den Schatten. Satellitenbilder zeigten 2021 den Bau von 300 neuen Silos für Interkontinentalraketen – bis zu diesem Zeitpunkt besaß das Land zwanzig.3 Ein weiterer Aspekt ist, dass die politische und militärische Bedeutung von Atomwaffen steigt. Russland will Atomwaffen offiziell nur einsetzen, wenn das staatliche Überleben auf dem Spiel steht, allerdings dienen taktische Nuklearwaffen auch dazu, konventionelle Schwäche auszugleichen. Nordkoreas Nukleardoktrin sieht seit 2022 den präventiven Ersteinsatz von Atomwaffen vor. Chinas massive nukleare Aufrüstung eröffnet Offensivoptionen und unterstreicht, welchen Stellenwert Peking Atomwaffen beimisst. Die USA reagierten ihrerseits mit neuen Rüstungsinitiativen.
Die internationale Rüstungskontrolle ist dagegen in einem beklagenswerten Zustand. 2019 scheiterte der Intermediate Range Nuclear Forces Treaty (INF-Vertrag), 2020/21 stiegen die USA und Russland aus dem Open Skies-Vertrag aus. Das New START-Abkommen von 2009, das letzte russisch-amerikanische Abkommen zur Reduzierung strategischer Arsenale, läuft Anfang 2026 aus. Der Krieg in der Ukraine verringerte zwar die Bereitschaft zur Transparenz, doch die Krise der Rüstungskontrolle hat andere Ursachen: Russland hat sich als unzuverlässiger Vertragspartner erwiesen, China sieht sich in einer Aufholjagd zu den USA, die wiederum bilaterale Formate mit Russland angesichts der chinesischen Aufrüstung nicht als zielführend erachten. Der INF-Vertrag, der 1987 landgestützte nuklearfähige Mittelstreckensysteme mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern verboten hatte, veranschaulicht die Dynamik: Russland entwickelte vertragsbrüchig einen solchen Marschflugkörper. Die USA kündigten nach sechsjährigem Ringen 2019 den INF-Vertrag. Sie fordern ohnehin eine Multilateralisierung der Rüstungskontrolle, weil China unbeschränkt aufrüstet. Realistisch ist deren Umsetzung im Moment nicht.
Drittens: Nukleare Erpressung droht salonfähig zu werden. Atomwaffen galten seit den 1960er-Jahren als Defensivwaffen, die der Abschreckung existenzieller Bedrohungen und damit ihrem Nichteinsatz dienen. Die Forschung diskutierte sogar die Entwicklung eines „nuklearen Tabus“, also einer besonderen Zurückhaltung im Umgang mit Atomwaffen. In der Realität ist insbesondere bei Russland das Gegenteil zu beobachten: Nukleardrohungen sind zu einem Mittel der politischen Interessendurchsetzung mutiert.
Moskau nutzte sein nukleares Potenzial bereits lange vor dem Überfall auf die Ukraine 2022 als Faustpfand, um sich als Großmacht seiner selbst zu vergewissern und seinen Mangel an Gestaltungskraft auszugleichen. Im März 2015 drohte der russische Botschafter in Dänemark, dänische Schiffe mit Atomwaffen ins Visier zu nehmen, sollte sich das Land am Raketenabwehrprogramm der NATO beteiligen. Seinen Krieg gegen die Ukraine flankierte Moskau von Beginn an mit Atomdrohungen, um den Westen von einer Intervention abzuschrecken, die Unterstützung für die Ukraine zu reduzieren, das westliche Bündnis zu spalten und Kyiv einzuschüchtern. Eine solche Bagatellisierung nuklearer Drohungen, wie sie sonst nur Nordkorea betreibt, trägt dazu bei, Atomwaffen zu normalisieren.
Nukleare Interessen und Optionen Deutschlands
Steht angesichts der skizzierten Entwicklungen eine neue Welle nuklearer Aufrüstung bevor? Sie hat längst begonnen. Deutschland muss sich realistisch mit der Frage auseinandersetzen, wie seine nuklearen Interessen und Optionen aussehen. Es ist klar, dass Deutschland und Europa die Renaissance der Nuklearwaffen nicht verhindern können. Ebenso schmerzhaft dürfte das Eingeständnis sein, dass es für Rüstungskontrolle, die hierzulande als das zentrale Element der Friedenssicherung gilt, derzeit kaum eine Geschäftsgrundlage gibt.
Statt den nuklearen Herausforderungen mit Floskeln zu begegnen, sind Antworten auf schwierige Fragen notwendig: Was wäre, wenn sich die Nuklearisierung des Iran abzeichnet und andere Staaten diese gewaltsam zu verhindern suchen? Was wäre, wenn die amerikanische nukleare Sicherheitsgarantie für Europa brüchig würde? Wie lässt sich Russlands nuklearer Erpressung entgegenwirken? Wer die „Zeitenwende“ ernst nimmt, muss sich mit diesen Fragen befassen.
Gerlinde Groitl, habilitierte Politikwissenschaftlerin, Akademische Oberrätin und Professorin für Internationale Politik und transatlantische Beziehungen, Universität Regensburg.
1 Hans M. Kristensen / Matt Korda: „Chapter 7: World Nuclear Forces“, in: SIPRI Yearbook 2023: Armaments, Disarmament and International Security, Stockholm 2023, S. 247–336, bes. S. 247–248.
2 US Department of Defense: Military and Security Developments Involving the People’s Republic of China 2023. Annual Report to Congress, S. VIII, https://media.defense.gov/2023/Oct/19/2003323409/-1/-1/1/2023-MILITARY-AND-SECURITY-DEVELOPMENTS-INVOLVING-THE-PEOPLES-REPUBLIC-OF-CHINA.PDF [letzter Zugriff: 18.11.2023].
3 Jonas Schneider / Oliver Thränert: „Chinas nukleare Aufrüstung betrifft auch Europa“, SWP-Aktuell 2022/A20, 09.03.2022, www.swp-berlin.org/publikation/chinas-nukleare-aufruestung-betrifft-auch-europa [letzter Zugriff: 18.11.2023].